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Full text of "Kurze erklaerung des roemerbriefes"

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Karl  Barth 


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KURZE  ERKLÄRUNG 
DES  RÖMERBRIEFES 


Zweite,  unveränderte  Auflage 


CHR.  KAISER  VERLAG  MÜNCHEN 


19  5  9 


© 

1956  Chr.  Kaiser  Verlag  München 

Alle  Rechte,  auch  die  des  auszugsweisen  Nachdruckes,  der  photo¬ 
mechanischen  Wiedergabe  und  der  Übersetzung  Vorbehalten.  Printed 
in  Germany  Umschlag  und  Einband  von  Rudolf  Nieß. 

Satz  und  Druck :  Buchdruckerei  Albert  Sighart,  Fürstenfeldbruck. 


VORWORT 


Diese  „Kurze  Erklärung  des  Römerbriefs“  ist  ein  klei¬ 
nerer  und  jüngerer  (unterdessen  freilich  auch  schon  älter 
gewordener)  Bruder  des  „Römerbriefs“  von  1918  und 
1921.  Sie  ist  entstanden  als  Manuskript  zu  einer  im 
Winter  1940/41  in  Basel  gehaltenen  Volkshochschul- Vor¬ 
lesung.  Man  wird  ihr  die  eigentümliche  Spannung,  in  der 
auch  wir  hier  in  jenen  Jahren  gelebt  haben,  kaum  an¬ 
merken.  Das  in  seiner  Art  immerhin  Einmalige  mag  er¬ 
wähnt  sein,  daß  ich  einige  dieser  Vorlesungen  (ich  meine, 
es  waren  die  über  Röm.  8)  in  der  etwas  verwitterten  Uni¬ 
form  eines  Mannes  vom  „Bewaffneten  Hilfsdienst“  ge¬ 
halten  habe.  Im  übrigen  war  ich,  wie  einst  1933  in  Bonn, 
ziemlich  entschlossen,  nun  erst  recht  bei  der  Stange  zu 
bleiben:  „als  wäre  nichts  geschehen“.  Das  Manuskript 
existierte  seither  in  verschiedenen  Vervielfältigungen.  Dem 
Ansinnen,  es  in  Druck  zu  geben,  habe  ich  bis  jetzt  wider¬ 
standen,  bis  der  Ruf  danach  so  dringlich  an  mich  kam, 
daß  ich  meine  Bedenken  zurückstellte.  Hier  ist  also  das 
Gewünschte. 

Es  ist  wirklich  eine  kurze  Erklärung  des  Römerbriefs. 
Die  Notwendigkeit  von  Ergänzungen  aus  anderen  Kom¬ 
mentaren  wird  sich  dem  Leser  an  vielen  Stellen  aufdrän¬ 
gen.  Wer  Ausführlicheres  zum  Römerbrief  von  mir  lesen 
möchte,  wird  entweder  nach  wie  vor  zu  jenem  älteren 
Buch  oder  aber  zu  meinen  späteren  Schriften,  besonders 
zur  „Kirchlichen  Dogmatik“  greifen  müssen.  Es  ist  ja 
selbstverständlich,  daß  dieser  Text  auch  sonst  in  mir 
weiter  gearbeitet  hat.  Man  findet  in  den  Fußnoten  wenig¬ 
stens  bei  einigen  größeren  Abschnitten  Verweise  auf  meine 
anderweitig  fortgesetzten  Versuche,  ihm  besser  gerecht  zu 
werden,  wobei  man  Manches  von  dem  hier  Vorgebrachten 
auch  schon  wieder  überholt  sehen  wird.  Am  Römerbrief 


lernt  man  eben  nicht  aus.  In  diesem  Sinn  „wartet“  er  noch 
immer  (wie  ich  es  in  der  Vorrede  von  1918  etwas  hoch¬ 
gemut  ausgedrückt  hatte)  —  bestimmt  auch  auf  mich! 

Uber  das  Verhältnis  dieses  Buches  zu  dem  bzw.  zu  den 
beiden  älteren  wäre  in  sprachlicher,  methodischer  und 
sachlicher  Hinsicht  Vieles  zu  sagen.  Daß  es  sich  hier  nicht 
etwa  um  einen  Auszug  aus  der  Darstellung  von  damals 
handelt,  sieht  man  auf  den  ersten  Blick.  Ich  nehme  an, 
daß  ich  von  diesem  und  jenem  Rezensenten  Einiges  dazu 
zu  hören  bekommen  werde.  Die  Anmerkungen,  die  ich 
selbst  dazu  machen  könnte,  sollen  ihnen  und  den  anderen 
Lesern  erspart  sein.  Meine  Absicht  war  beide  Male  — 
und  soll  es,  wenn  ich  je  wieder  etwas  zum  Römerbrief 
sagen  sollte,  auch  in  Zukunft  bleiben:  den  Paulus  selbst 
zur  Sprache  zu  bringen.  Um  den  vorbehaltenden  Zusatz: 
„So  wie  ich  ihn  verstehe“,  kommt  kein  Ausleger  hinweg 
und  so  auch  ich  nicht.  Meine  Hoffnung  war  und  ist:  daß 
Paulus  stark  genug  ist,  sich  auch  durch  das  Medium  immer 
noch  und  immer  wieder  unzureichender  Auslegungen  hin¬ 
durch  Gehör  zu  verschaffen. 

Noch  bleibt  hier  anzumerken,  daß  ich  die  des  Griechi¬ 
schen  nicht  kundigen  Hörer  jener  Vorlesung  damals  auf¬ 
forderte,  meinen  Ausführungen  an  Hand  einer  modernen 
Übersetzung  (Weizsäcker,  Schiatter,  Züricher  Bibel,  Menge) 
zu  folgen.  Mir  fehlt  leider  die  Zeit,  den  Lesern  dieses 
Buches  den  Text,  so  wie  ich  ihn  heute  in  seinem  Zusam¬ 
menhang  ins  Deutsche  übertragen  würde,  in  einer  zugleich 
treuen  und  lesbaren  Gestalt  vorzulegen.  So  muß  ich  auch 
sie  bitten,  bei  der  Lektüre  eine  jener  anderen  Übersetzun¬ 
gen  —  allenfalls  auch  meine  eigenen  von  1918  und  1921, 
die  ich  hier  nicht  reproduzieren  wollte  —  neben  sich  zu 
legen. 


Basel,  im  Februar  1956 


INHALT 


Einführung  und  Übersicht . 

9 

1,1—17 

Das  apostolische  Amt  und  das  Evangelium 

16 

1,18—3,  20 

Das  Evangelium  als  Gottes  Verurteilung  des 
Menschen . 

27 

3,  21—4,  25 

Das  Evangelium  als  göttliche  Gerechtsprcchung 
der  Glaubenden  . 

49 

5, 1—21 

Das  Evangelium  als  Versöhnung  des  Menschen 
mit  Gott . 

65 

6, 1—23 

Das  Evangelium  als  des  Menschen  Heiligung  . 

77 

7, 1—25 

Das  Evangelium  als  des  Menschen  Befreiung  . 

89 

8, 1—39 

Das  Evangelium  als  die  Aufrichtung  des  Ge¬ 
setzes  Gottes . 

107 

9,1—11,36 

Das  Evangelium  unter  den  Juden  .... 

134 

12,1—15,  13 

Das  Evangelium  unter  den  Christen  . 

180 

15, 14—16,  27 

Der  Apostel  und  die  Gemeinde  .... 

213 

Einführung  und  Übersicht 


Der  Römerbrief  ist  tatsächlich  ein  Brief,  genauer  gesagt 
ein  Sendschreiben  an  die  christliche  Gemeinde  in  Rom,  in 
griechischer  Spradie  verfaßt  von  dem  uns  aus  der 
Apostelgeschichte  und  aus  einer  Reihe  anderer  solcher 
Sendschreiben  bekannten  Apostel  Paulus.  Es  bestehen 
Gründe,  anzunehmen,  daß  er  ihn  im  Jahre  58  n.  Chr. 
in  Korinth  geschrieben  oder  vielmehr  (Kap.  16,  22)  einem 
gewissen  Tertius  diktiert  hat  und  daß  er  von  dort  durch 
die  in  Kap.  16, 1  erwähnte  Gemeindeschwester  Phöbe  nach 
Rom  gebracht  worden  ist.  Er  stammt  also  aus  einer  spä¬ 
teren  Zeit  als  die  beiden  Thessalonicherbriefe,  als  der  Ga¬ 
laterbrief  und  als  die  beiden  Korintherbriefe,  denen  er  im 
Neuen  Testament  vorangestellt  ist,  ist  dagegen  älter  als 
alle  übrigen  im  Neuen  Testament  unter  dem  Namen  des 
Paulus  enthaltenen  Schriften. 

Wir  wissen  nicht,  von  wem,  wann  und  unter  welchen 
Umständen  die  christliche  Gemeinde  in  Rom  gegründet  wor¬ 
den  ist.  Nach  Kap.  1,  6  ist  anzunehmen,  daß  sie  in  ihrer 
Mehrzahl  aus  ehemaligen  Heiden  bestand,  von  denen  übri¬ 
gens  nach  der  Grußliste  im  16.  Kapitel  nicht  wenige  ur¬ 
sprünglich  im  Osten  des  römischen  Reiches  zu  Hause  wa¬ 
ren.  Aus  dem  ganzen  Inhalt  des  Briefes  ergibt  sich,  daß 
das  Alte  Testament  (ein  Neues  gab  es  ja  noch  nicht!)  in 
dieser  Gemeinde  fleißig  gelesen  wurde  und  daß  dessen 
rechte  Auslegung  für  sie  ein  ernstes  Problem  bildete.  Das 
kann  mit  Fragen  Zusammenhängen,  die  ihr  durch  die  Exi¬ 
stenz  der  jüdischen  Synagoge  in  Rom  nahegelegt  waren, 
vielleicht  auch  mit  solchen  Fragen,  die  damals  überall,  wo 
es  christliche  Gemeinden  gab,  durch  eine  gewisse  Richtung 


9 


unter  den  ehemals  jüdischen  Christen  aufgeworfen  waren. 
Wenn  der  Apostel  in  Kap.  1,  8  von  den  römischen  Christen 
sagt,  daß  ihr  Glaube  in  der  ganzen  Welt  eine  bekannte 
Sache  sei,  und  wenn  er  in  Vers  lOf.  so  eindringlich  sagt, 
wie  gern  er  sie  längst  besucht  hätte,  so  ist  das  ein  Hinweis 
auf  die  Wichtigkeit,  die  dieser  Gemeinde  einfach  darin  zu¬ 
kam,  weil  sie  in  der  Reichs-  und  Welthauptstadt  ihren  Ort 
und  damit  bereits  etwas  von  jener  Schlüsselstellung  hatte, 
die  die  Kirche  von  Rom  in  den  folgenden  Jahrhunderten 
gewonnen  und  bis  heute  behalten  hat.  Wenn  Petrus,  wie 
die  katholische  Tradition,  unterstützt  auch  von  einigen 
protestantischen  Forschern,  behauptet,  später  in  Rom  ge¬ 
wesen  ist  und  dort  hingerichtet  wurde,  so  haben  wir  es  in 
unserem  Paulusbrief  jedenfalls  mit  einem  noch  älteren 
Dokument  der  Geschichte  der  dortigen  Kirche  zu  tun.  Es 
mag  aber  auch  das  notiert  sein,  daß  Paulus  in  seinen  spä¬ 
teren  Briefen,  die  von  Rom  selber  aus  geschrieben  sind  (z.  B. 
im  Philipperbrief),  mindestens  sehr  zurückhaltend  über  sei¬ 
ne  dortige  christliche  Umgebung  geschrieben  hat  und  daß 
von  der  Anwesenheit  des  Petrus  in  Rom  auch  da  noch 
keine  Spur  wahrzunehmen  ist.  Eine  ziemlich  scharfe,  aber 
nicht  näher  erklärte  Warnung  vor  Verführern,  die  das 
innere  Leben  der  römischen  Gemeinde  bedrohten,  findet 
sich  übrigens  schon  am  Ende  unseres  Briefes  (Kap.  16, 
17—20). 

Wozu  hat  Paulus  diesen  Brief  geschrieben?  Wir  erfah¬ 
ren  aus  Kap.  15,  25  f.,  daß  er  sich  auf  der  Reise  von  Maze¬ 
donien  und  Griechenland  nach  Jerusalem  befindet,  um  die 
im  2.  Korintherbrief  ausführlich  besprochene  Kollekte  zur 
Unterstützung  der  dortigen  Urgemeinde  abzuliefern.  Indem 
er  seine  Aufgabe  im  Osten  des  Reiches  für  getan  hält 
(Kap.  15,  19.  23),  will  er  nachher  über  Rom  nach  Spanien 
reisen,  um  dort  sein  Missionswerk  fortzusetzen.  Paulus 
war  dem  Ruf  nach  ein  wohlbekannter  Mann  in  der  ganzen 
damaligen  Christenheit,  aber,  wie  er  selbst  (2.  Kor.  6,  8) 


10 


einmal  geschrieben  hat:  „unter  Ehre  und  Schande,  durch 
gute  Gerüchte  und  böse  Gerüchte<c.  Er  hatte  viele  Gegner, 
nicht  nur  unter  Juden  und  Heiden,  sondern  auch  in  der 
christlichen  Gemeinde  selber.  Er  war  mit  dem,  was  er  sagte, 
und  wohl  besonders  auch  in  der  Art,  wie  er  es  sagte,  bzw. 
schrieb  oder  diktierte,  nicht  nur  nicht  leicht  zu  haben, 
sondern  für  manche  gute  und  weniger  gute  Christen  ein 
richtiger  Anstoß.  Und  er  hat  auch  zweifellos  mit  vollem 
Bewußtsein  überall  da  selbst  angegriffen,  wo  er  es  —  und 
das  war  nicht  selten  —  für  nötig  hielt.  Um  was  und  wie  er 
sich  wehren  mußte,  sehen  wir  z.  B.  gewaltig  im  Galater¬ 
brief.  Und  wie  man  umgekehrt  ihn  kritisierte,  wenn  es  ganz 
freundlich  geschah,  kann  man  in  2.  Petr.  3,  15  f.  vielleicht 
etwas  lächelnd,  nachlesen.  Indem  nun  dieser  viel  bestrittene 
und  streitende  Mann  nach  Rom  zu  reisen  beabsichtigte, 
hielt  er  es  für  nötig  und  richtig,  sich  den  dortigen  Christen 
bekannt  zu  machen.  Sie  sollen  durch  ihn  selbst  erfahren 
—  nicht,  wer  und  wie  er  persönlich  ist,  wohl  aber,  was 
sein  Amt  und  seine  Botschaft  ist.  Sie  sollen  ihn  kennen 
lernen  in  seiner  Darstellung  des  Evangeliums  in  der  be¬ 
stimmten  Zuspitzung  auf  die  sie  selbst  —  und  nicht  nur 
sie  —  damals  offenbar  bewegende  Frage  der  rechten  Aus¬ 
legung  des  Alten  Testamentes.  Es  war  das  große  Thema 
auch  seines  eigenen  Lebens:  des  Lebens  des  Mannes,  der 
jüdischer  Schriftgelehrter  gewesen  und  christlicher  Missio¬ 
nar  geworden  war  —  das  Thema,  um  das  auch  die  Kämpfe 
kreisten,  die  er  in  der  Kirche  erregte  und  zu  bestehen 
hatte  —  insofern  zweifellos  gerade  das  redite  Thema,  um 
sich  selbst,  und  nun  doch  nicht  sich  selbst,  sondern  seine 
Sache  solchen  bekannt  zu  machen,  die  ihn  bis  dahin  nur 
von  weitem  und  auf  Grund  der  über  ihn  umlaufenden 
Berichte  und  Gerüchte  kannten.  Seine  Erwartung  beim 
Schreiben  dieses  Briefes  ist  offenbar  die,  daß  eine  ausführ¬ 
liche  Äußerung  zu  diesem  Thema  seine  beste  Einführung 
bei  der  römischen  Gemeinde  sein  werde:  die  Einführung, 


11 


die  er  zur  Verwirklichung  seiner  weiteren  Absichten  im 
Westen  des  Reiches  nötig  hatte.  Wir  wissen  nicht,  inwiefern 
seine  Erwartung  in  Erfüllung  gegangen  ist.  Paulus  ist  ja 
dann  ganz  anders  als  vorgesehen  nach  Rom  gekommen, 
nämlich  als  Gefangener.  Aber  jene  Absicht  war  der  Anlaß 
des  Römerbriefes. 

Und  damit  ist  nun  auch  schon  das  Entscheidende  gesagt 
über  seinen  Inhalt.  Man  hat  ihn  oft  mit  einem  Katechis¬ 
mus  oder  gar  mit  einer  Dogmatik  verglichen,  und  er  ist 
denn  auch  tatsächlich  von  dem  ersten  Dogmatiker  der 
evangelischen  Kirche,  Ph.  Melanchthon,  als  Leitfaden  für 
ein  solches  Werk  benützt  worden.  Das  Richtige  an  diesem 
Eindruck  besteht  darin,  daß  der  Römerbrief  tatsächlich 
mehr  als  alle  anderen  Schriften  des  Neuen  Testamentes 
Lehre  enthält,  zusammenhängende  Darstellung  des  christ¬ 
lichen  Glaubens  entwickelt.  Man  muß  aber  beachten,  daß  er 
von  einem  Katechismus  oder  von  einer  Dogmatik  dadurch 
unterschieden  ist,  daß  er  jenes  (wenn  auch  —  besonders  am 
Ende  des  Briefes  —  nicht  absolut  festgehaltene,  aber  im 
Ganzen  doch  sehr  bestimmt  hervortretende)  besondere  Ziel 
hat,  das  Luther  in  seiner  Vorrede  zu  diesem  Brief  mit 
großer  Treffsicherheit  so  angegeben  hat:  „Darum  es  auch 
scheinet,  als  habe  S.  Paulus  in  dieser  Epistel  wollen  einmal 
in  der  Kürze  verfassen  die  ganze  christliche  und  evangeli¬ 
sche  Lehre  und  einen  Eingang  bereiten  in  das  ganze  Alte 
Testament.  Denn  ohne  Zweifel,  wer  diese  Epistel  wohl  im 
Herzen  hat,  der  hat  des  Alten  Testamentes  Licht  und  Kraft 
bei  sich;  darum  lasse  sie  ein  jeglicher  Christ  ihm  gemein 
und  stetig  in  Übung  sein.“  Dieses  Ziel  bringt  es  nun  aber 
mit  sich,  daß  die  Entfaltung  der  christlichen  Lehre,  zu  der 
es  in  unserem  Brief  allerdings  kommt,  jene  äußere  Voll¬ 
ständigkeit  doch  nicht  hat,  die  einem  Katechismus  oder 
einer  Dogmatik  eigentümlich  sein  müßten.  Aber  wie  dem 
auch  sei,  der  Inhalt  des  Römerbriefes  ist,  in  kürzesten 
Zügen  Umrissen,  der  folgende:  Paulus  erklärt  sich  in  der 


12 


Einleitung  Kap.  1,  1 — 17  über  sein  Amt  und  über  das  von 
ihm  verkündigte  Evangelium  als  solches:  Es  handelt  sich 
im  Evangelium,  das  schon  im  Alten  Testament  verkündigt 
ist  und  das  darum  (Kap.  1,16)  zunächst  die  Juden  angeht, 
um  den  als  Nachkommen  Davids  geborenen,  von  den  Toten 
auferstandenen  Gottessohn  Jesus  Christus.  Dieser  selbst 
hat  ihn,  den  Paulus,  als  seinen  Boten  an  alle  Heidenvölker 
ausgesendet.  So  kommt  es  dazu,  daß  auch  die  ehemaligen 
Heiden  in  Rom  im  Bereich  seines  Auftrags  sind.  Die  Ein¬ 
leitung  endigt  mit  der  Feststellung,  daß  im  Evangelium 
die  Eröffnung  des  göttlichen  Gerichtsurteils  über  die  ganze 
Welt  stattfindet,  daß  aber  eben  in  dem  Glauben,  der  dieses 
Gerichtsurteil  annimmt  und  es  sich  gefallen  läßt,  auch 
jedes  Menschen  Errettung  und  Leben  besteht.  Kap.  1,  18 
bis  3,  20  bilden  einen  weiteren  deutlichen  Zusammenhang. 
Immer  in  Erinnerung  an  das,  was  schon  das  Alte  Testament 
bezeugt  hat,  wird  aufgewiesen,  daß  im  Evangelium,  in  der 
Botschaft  von  Jesus  Christus  also,  tatsächlich  ein  göttliches 
Gerichtsurteil,  und  zwar  ein  negatives  Gerichtsurteil  über 
alle  Menschen:  eine  Verurteilung  der  Heiden  und  Juden 
in  gleicher  Weise,  ausgesprochen  ist.  Aber  dieser  Aspekt 
verändert  sidi  nun  laut  dessen,  was  in  dem  darauffolgen¬ 
den  großen  Hauptteil  des  Briefes  in  Kap.  3,  21 — 8,  39 
ausgeführt  wird,  wenn  wir  —  wieder  unter  Anleitung 
des  Alten  Testamentes  —  beachten,  daß  eben  das  Gerichts¬ 
urteil  Gottes,  durch  das  alle  verdammt  sind,  weil  es  in 
Jesus  Christus  gesprochen,  weil  es  in  seinem  Tode  voll¬ 
zogen  ist,  alle  diejenigen  frei  spricht,  allen  denjenigen  recht 
gibt,  die  an  ihn  glauben,  so  daß  das  Evangelium  als  Er¬ 
öffnung  dieses  Gerichtsurteils,  wenn  es  im  Glauben  ge¬ 
hört  und  aufgenommen  wird,  tatsächlich  Evangelium,  nicht 
schlimme,  sondern  gute  Botschaft  ist:  die  Botschaft  von 
der  Versöhnung  zwischen  Gott  und  Mensch  und  von  einem 
neuen  Leben  des  Menschen  in  der  Gerechtigkeit,  in  der 
Freiheit,  unter  der  Herrschaft  des  Geistes.  Was  dieses  Evan- 


13 


gelium  da  bedeutet,  wo  es  zuerst  hätte  Glauben  finden 
müssen  und  wo  es  nun  gerade  keinen  Glauben  gefunden 
hat,  unter  den  Juden  der  Synagoge  nämlich,  die  sein  ent¬ 
scheidendes  Zeugnis,  eben  das  Alte  Testament,  in  Händen 
haben  und  doch  offenbar  bis  jetzt  nicht  vernommen  haben, 
das  wird  dann  in  Kap.  9 — 11  entwickelt.  Und  dem  entspricht 
endlich  Kap.  12,  1 — 15,  13  in  Form  einer  Reihe  von  an¬ 
deutenden  Mahnungen  der  Hinweis  darauf,  was  das  Evan¬ 
gelium  da  praktisch  zu  bedeuten  hat,  wo  es  Glauben  ge¬ 
funden  hat,  in  der  Kirche  Jesu  Christi  also,  als  die  ja  auch 
die  Gemeinde  von  Rom  anzusprechen  ist.  Der  Schluß  des 
Ganzen  (Kap.  15,  14 — 16,  27)  bringt  die  erwähnten  persön¬ 
lichen  Mitteilungen,  eine  Reihe  von  Grüßen  an  einzelne 
Personen  und  von  solchen,  Kap.  16,  17 — 18,  jene  etwas 
unvermittelt  auftauchende  Warnung  vor  Verführern  und 
Kap.  16,  25 — 27  einen  feierlichen  Lobpreis  des  Gottes,  der 
sich  im  Evangelium  offenbart  hat.  —  Das  sind  die  großen 
Linien  des  Römerbriefes,  die  wir  in  diesen  Vorlesungen 
etwas  genauer  auszuziehen  die  Aufgabe  haben. 

Um  der  Vollständigkeit  willen  noch  folgende  Anmerkung: 
Daß  der  Apostel  Paulus  tatsächlich  der  Verfasser  des  Rö¬ 
merbriefes  ist,  daß  wir  es  also  nicht  etwa  mit  einer  jener 
Unterschiebungen  zu  tun  haben,  die  in  jenen  Jahrhunder¬ 
ten  in  allen  Ehren  literarischer  Brauch  waren,  das  ist  im 
Ernst  nur  von  einigen  wenigen  Forschern  des  19.  Jahr¬ 
hunderts  bezweifelt  worden  und  kann  auch  nicht  gut  be¬ 
zweifelt  werden,  wenn  man  nicht  gleich  alle  Paulusbriefe 
als  solche  in  das  2.  Jahrhundert  gehörige  Nachbildungen 
ansehen  will.  Das  geht  aber  schon  darum  nicht  an,  weil  die 
geistige  Welt  dieser  späteren  Zeit  nach  dem,  was  wir  von 
ihr  wissen,  notorisch  eine  ganz  andere  gewesen  ist,  als  die, 
die  in  den  Paulusbriefen  und  so  auch  im  Römberbrief 
sichtbar  wird.  Ein  gewisser  Zweifel  besteht  hinsichtlich  des 
Schlusses  des  Briefes  von  Kap.  15,  1  ab,  sofern  es  wahr¬ 
scheinlich  ist,  daß  es  um  das  Jahr  200  lateinische  Über- 


14 


Setzungen  des  Briefes  gegeben  haben  muß,  die  mit  Kap.  14, 
23  aufhörten,  in  denen  dieser  Schluß  also  gefehlt  hat. 
Auch  der  berühmte  Irrlehrer  Marcion,  der  freilich  mit 
dem  Text  des  Neuen  Testamentes  auch  sonst  mehr  als 
frei  umgegangen  ist,  behauptete,  den  Brief  nur  in  dieser 
verkürzten  Form  zu  kennen.  Man  sieht  aber  ohne  weiteres, 
daß  die  Behandlung  des  Themas  von  Kapitel  14  in  Kapi¬ 
tel  1 5  ihre  unmittelbare  Fortsetzung  hat  und  wird  darum  der 
hier  allerdings  bestehenden  Frage  kein  entscheidendes  Ge¬ 
wicht  beimessen  können.  Dagegen  bestehen  ernsthafte  Grün¬ 
de  zu  der  Annahme,  daß  jener  Lobpreis  Gottes  in  Kap.  16, 
25 — 27  nicht  zum  ursprünglichen  Bestand  des  Briefes  gehört 
haben,  sondern  ihm  später  hinzugefügt  worden  sein  könnte. 
Eine  andere  Frage  ist  die,  ob  nicht  speziell  das  16.  Kapitel 
unseres  Briefes  mit  seinen  vielen  Grüßen  an  die  Paulus 
persönlich  bekannten  Leute  sich  besser  erklären  läßt,  wenn 
man  annimmt,  daß  es  zwar  von  Paulus  stammt,  aber  ur¬ 
sprünglich  einen  Teil  eines  von  ihm  an  die  Gemeinde  von 
Ephesus  gerichteten  Briefes  gebildet  hat.  Die  Gründe  für 
und  gegen  diese  Hypothese  halten  sich  ungefähr  die  Waage. 
Es  ist  und  bleibt  durchaus  möglich,  daß  auch  dieses  Kapitel 
zum  ursprünglichen  Bestand  des  Römerbriefs  gehört  hat. 
Wir  befinden  uns  in  guter  Gesellschaft,  wenn  wir  auch 
diese  Frage  zwar  hören  aber  offen  lassen  und  wenn  wir 
uns  nun  an  den  Text  halten,  wie  er  uns  durch  die  weit 
überwiegenden  Stimmen  der  Überlieferung  tatsächlich  ge¬ 
boten  und  wie  er  in  der  christlichen  Kirche  tatsächlich  im¬ 
mer  gelesen  worden  ist. 


15 


1,  1—17 


Das  apostolische  Amt  und  das  Evangelium 


Die  Einleitung  zum  Ganzen,  die  wir  in  diesen  Versen 
vor  uns  haben,  gliedert  sich  deutlich:  Vers  1 — 7  der  Gruß 
des  Apostels  an  seine  römischen  Leser,  Vers  8 — 15  die 
Erklärung  über  seinen  Wunsch,  bald  selber  nach  Rom  zu 
kommen,  Vers  1 6 — 1 8  die  programmatische  Bestimmung  des 
Evangeliums  als  die  Eröffnung  des  göttlichen  Gerichtsur¬ 
teils,  das  dem,  der  es  im  Glauben  annimmt,  zum  Heil  und 
zum  Leben  wird. 

Die  Verse  1 — 7  enthalten  den  Gruß  des  Verfassers  in 
der  damals  üblichen  Form:  Er  nennt  sich  selber,  er  nennt 
seine  Adressaten,  er  wünscht  ihnen  in  direkter  Anrede  das 
Beste,  was  er  ihnen  wünschen  kann.  Aber  in  dieser  üblichen 
Form  hat  Paulus  bereits  sehr  gehaltvoll  von  der  ihn  be¬ 
wegenden  Sache  geredet.  Die  Sache  ist  eine  Person  (v.  1): 
nicht  die  seinige,  auch  nicht  etwa  die  des  einzelnen  Lesers 
oder  Hörers  des  Briefes,  sondern  über  seiner  Person  und 
den  in  der  römischen  Gemeinde  vereinigten  Personen  die 
Person  Jesu  Christi.  Sein  Knecht,  wörtlich:  sein  Sklave,  ist 
Paulus,  d.  h.  ihm  gehört  er  und  nur  als  der  ihm  Gehörige 
und  nicht  in  eigener  Person  und  auf  Grund  eigenen  Rech¬ 
tes  will  er  reden.  Er  wurde  der  diesem  Herrn  Gehörige, 
indem  er  von  ihm  berufen,  aus  seiner  bisherigen  Umge¬ 
bung,  aber  auch  aus  seinem  bisherigen  eigenen  inneren 
und  äußeren  Lebensstand  herausgerufen  und  insofern  aus¬ 
gesondert  wurde,  um  Apostel  zu  sein.  Er  empfing  von  die¬ 
sem  Herrn  die  Gnade  des  Apostelamtes  (v.  5),  d.h.  des 
Amtes  eines  von  ihm  bevollmächtigten  Gesandten,  das  Amt, 


16 


dessen  Auftrag  die  Verkündigung  des  Evangeliums,  der 
guten  Botschaft,  ist.  So  ist  Paulus  von  allem  in  der  Welt 
getrennt,  ganz  an  das  Evangelium  gebunden,  für  das  Evan¬ 
gelium  ausgesondert  und  das  durch  Jesus  Christus,  durch 
denselben,  von  dem  er  in  Vers  3  f.  sofort  sagen  wird,  daß  er 
auch  der  Inhalt  des  Evangeliums  selber  ist.  Ihm  liegt  aber 
zunächst  an  der  Feststellung  (v.  2),  daß  diese  gute  Bot¬ 
schaft  identisch  ist  mit  dem,  was  schon  durch  die  Propheten 
in  den  heiligen  Schriften  (gemeint  ist:  Israels,  also  des 
Alten  Testamentes)  ausgesprochen  ist.  Sie  haben  es  zuvor 
ausgesprochen.  Sie  haben  es  angezeigt,  bevor  es  da  war, 
um  nun  durch  den  Mund  des  Apostels  seinen  Lauf  durch 
die  ganze  Welt  zu  nehmen.  Als  seine  mit  ihm  genau  über¬ 
einstimmenden  Voranzeigen  sind  also  diese  heiligen  Schrif¬ 
ten  zu  lesen.  Das  Evangelium  hat  aber  (v.  3 — 4)  einen 
einzigen  Inhalt  —  alles  scheinbar  andere  ist  nur  immer 
wieder  dieser  eine  Einhalt:  der  Sohn  Gottes,  der  nach  dem 
Fleische,  d.  h.  als  Mensch  aus  dem  Geschlechte  Davids 
stammt,  der  dem  David  verheißene  Sohn  und  Thronerbe 
ist.  Nach  dem  Heiligen  Geist  durch  seine  Auferstehung 
von  den  Toten  aber,  d.  h.  durch  seine  Kraft  als  Sohn  Gottes 
ist  er  als  solcher  eingesetzt,  d.  h.  erwiesen,  offenbart,  wört¬ 
lich:  von  anderen  Menschen  abgegrenzt  und  unterschieden. 
Dieser,  Jesus  Christus,  ist  der  Herr  des  Paulus.  Und  eben 
von  ihm  hat  Paulus  (v.  5)  die  Gnade  seines  Auftrags 
empfangen,  der  dahin  lautet,  alle  Heidenvölker  zum  Ge¬ 
horsam  gegen  den  König  Israels  zu  rufen,  weil  dieser  als 
solcher  der  Sohn  Gottes  ist,  der  über  allen  Menschen  ist  — 
zu  dem  Gehorsam,  der  im  Glauben  besteht:  damit  durch 
ihren  Gehorsam  sein  Name  (der  Name  Jesus  Christus  als 
der  Name  des  Gottessohnes  und  Davidssohnes)  die  Ehre 
bekomme,  die  ihm  gebührt.  Zu  diesen  Heidenvölkern  ge¬ 
hören  ursprünglich  —  es  sind  aber,  wie  Paulus  selbst  „be¬ 
rufen  in  Jesu  Christi“,  an  ihrem  Ort  ebenfalls  Heraus¬ 
gerufene  (v.  6)  —  auch  seine  Leser:  „alle,  die  Geliebten 


17 


Gottes,  die  Berufenen,  die  Heiligen  in  Rom“  (v.  7).  Jede 
dieser  Bezeichnungen  meint  genau  so  wie  das,  was  Pau¬ 
lus  von  sich  selbst  gesagt  hatte,  nicht  irgend  eine  religiös 
moralische  Qualität  der  so  Bezeichneten,  sondern  das  Werk 
Jesu  Christi,  das  für  sie  und  an  ihnen  geschehen  ist:  durch 
ihn  sind  sie  Geliebte  Gottes,  durch  ihn  berufen,  durch  ihn 
heilig,  genau  so  in  dem  Sinne,  wie  Paulus  durch  ihn 
Apostel  ist.  So  ist  Jesus  Christus,  seine  Person,  wirklich 
die  Einheit,  in  der  der  Apostel  und  die  Gemeinde  zum  vorn¬ 
herein  und  ohne  sich  von  Angesicht  zu  kennen,  schlechter¬ 
dings  beeinander  sind.  In  dieser  Einheit  grüßt  der  Apostel 
die  Gemeinde  mit  dem  Segenswunsch.  Wo  Griechen  und 
Römer  jener  Zeit  „Freude“  und  „Wohlergehen“  wünschten, 
da  wünscht  der  Apostel  „Gnade“  und  „Friede“.  Die  Worte 
werden  uns  noch  mehr  begegnen,  wir  begnügen  uns  hier 
mit  der  Feststellung,  daß  sie  gewissermaßen  von  oben  und 
von  unten  das  bezeichnen,  was  die  Kirche  zur  Kirche,  die 
Christen  zu  Christen  macht:  die  göttliche  Zuwendung  zum 
Menschen,  die  Ordnung  des  Menschenlebens  auf  Grund 
dieser  Zuwendung.  In  Jesus  Christus  ist  beides  Ereignis, 
aber  auch  immer  neu  zu  erwarten  und  also  zu  erbitten 
von  dem,  aus  dem  beides  quillt:  von  Gott,  unserem  Vater, 
den  wir  durch  unseren  Herrn  Jesus  Christus  als  solchen 
erkennen  —  von  unserem  Herrn  Jesus  Christus,  der  als 
solcher  der  Weg  zu  Gott,  unserem  Vater,  ist.  Je  weniger 
man  die  beiden  Glieder  dieser  Formel  trennt,  je  deutlicher 
man  sieht,  daß  eines  nur  durch  das  andere  zu  erklären  ist, 
um  so  besser  versteht  man  sie. 

In  Vers  8 — 15  erläutert  Paulus  seinen  Wunsch,  mit  der 
römischen  Christengemeinde  auch  persönlich  zusammen¬ 
zutreffen.  Er  beginnt  (v.  8)  wie  in  den  meisten  seiner  Briefe 
damit,  daß  er  Gott  dankt  für  die  Existenz  der  Gemeinde. 
Es  gibt  vielleicht  keinen  stärkeren  Ausdruck  für  die  Eigen¬ 
art  des  apostolischen  Amtes  im  Unterschied  zu  dem  Amt 
der  Priester  und  Propheten  im  Alten  Testament  als  dieses 


18 


Danken  als  das  erste  Wort,  das  dem  Apostel  seinen  Ge¬ 
meinden  gegenüber  regelmäßig  auf  die  Lippen  kommt.  In¬ 
dem  er  sich  durch  und  in  Jesus  Christus  an  Gott  wendet, 
darf  und  muß  er  schon  in  der  Existenz  einer  Christen¬ 
gemeinde  als  solcher  ein  Wunder  der  Güte  Gottes  preisen. 
Denn  der  Glaube  der  römischen  Christen,  den  er  hier  im 
besonderen  nennt,  und  von  dem  er  sagt,  daß  er  in  der 
ganzen  Welt  bekannt  sei,  ist  sicher  nicht  etwa  ihr  ernster, 
ihr  tiefer,  ihr  lebendiger  Glaube,  sondern  schlicht  ihr  Glaube 
als  solcher:  die  Tatsache,  daß  Jesus  Christus  auch  in  Rom 
—  und  das  ist  für  die  ganze  Welt  bedeutsam  —  seine  Be¬ 
rufenen,  seine  Heiligen  hat.  Indem  Paulus  sich,  in  diesem 
Sinn  an  sie  denkend,  an  Gott  wendet,  ist  es  selbstverständ¬ 
lich  und  kann  er  (v.  9)  Gott  dafür  zum  Zeugen  anrufen, 
daß  er  für  sie  betet,  daß  sie  ihm  also  in  diesem  strengsten 
Sinn  des  Wortes  am  Herzen  liegen.  Und  eben  diese  seine 
Fürbitte  wird  dann  (v.  10)  wieder  selbstverständlich  zu 
der  Bitte,  es  möchte  nach  Gottes  Willen  möglich  werden, 
daß  er  selbst  einmal  zu  ihnen  komme.  Er  möchte  sie 
(v.  11)  sehen:  dazu  nämlich,  um  sie  durch  Weiter¬ 
reichung  der  ihm  selbst  verliehenen  Geistesgabe  zu  be¬ 
stärken.  Die  Geistesgabe,  von  der  die  Rede  ist,  ist  schlicht 
das  ihm  nach  Vers  5  zur  Verkündigung  aufgetragene 
Evangelium.  Andere  haben  andere  Gaben.  Paulus  hat  in 
1.  Kor.  12  von  der  Verschiedenheit  der  Gaben  des  Geistes 
geredet  und  wird  auch  in  unserem  Brief  in  Kap.  12,  6  f . 
darauf  zu  reden  kommen.  Diese  Gabe,  die  Verkündigung 
des  Evangeliums,  ist  die  ihm  verliehene  Gabe  des  Apostel¬ 
amtes.  Er  hat  sie  in  allen  seinen  Briefen,  er  hat  ihre  Bedeu¬ 
tung  nicht  nur  für  die  Begründung  der  Kirche  (also  für  die 
Mission  im  engeren  Sinn  des  Wortes),  sondern  audi  für 
deren  Stärkung  und  also  für  ihren  Aufbau  und  ihre  Er¬ 
haltung  geltend  gemacht.  Aber  das  apostolische  Amt  macht 
seinen  Träger  nicht  selbstgenügsam  und  darum  fügt  Pau¬ 
lus  in  der  Fortsetzung  (v.  11 — 12)  hinzu:  sie  zu  bestärken 


19 


ist  für  ihn  gleichbedeutend  damit,  daß  er  mit  ihnen  ge¬ 
tröstet  und  ermahnt  zu  werden  hofft  durch  den  gegen¬ 
seitigen  Austausch  zwischen  ihnen  und  seinem  Glauben. 
Es  ist  ihm  ernst  damit,  daß  Jesus  Christus  zwischen  ihm 
und  der  übrigen  Kirche  steht,  daß  er  selbst,  Paulus,  also 
nicht  monarchisch  über  der  Kirche,  sondern  selbst  in  der 
Kirche  lebt,  ebenso  empfangend  wie  gebend.  So  betet  er 
wohl  auch  für  sich  selber,  indem  er  für  die  römische  Ge¬ 
meinde  und  wenn  er  darum  betet,  daß  er  sie  persönlich 
sehen  möchte.  Der  Ausführung  seines  Wunsches  standen 
bis  jetzt  (v.  13)  Hindernisse  entgegen:  Paulus  meint  nach 
Vers  10  und  nach  seinem  sonstigen  Verständnis  solcher 
Situationen  bestimmt,  daß  es  nicht  der  Wille  Gottes  war, 
wenn  er  bis  jetzt  nicht  ausgeführt  werden  konnte.  Sie 
sollen  aber  wissen,  daß  der  Wunsch  und  die  Absicht  von 
seiner  Seite  immer  wieder  da  waren  —  der  dritte  Grund, 
den  er  dazu  hat,  wird  jetzt  sichtbar  —  auch  unter  ihnen, 
auch  in  Rom  wie  unter  den  anderen  Heidenvölkern  „einige 
Frucht  zu  haben“,  einiges  zu  ernten,  d.  h.  auch  dort  per¬ 
sönlich  als  Missionar  das  Evangelium  zu  verkündigen 
und  einige  dafür  zu  gewinnen,  einige  zu  jenem  Gehorsam 
des  Glaubens  (v.  5)  zu  führen.  Wenn  Paulus  von  den 
Heidenvölkern  und  ihrer  Gewinnung  für  das  Evangelium 
redet,  so  meint  er,  wie  es  hier  deutlich  wird,  immer  und 
ganz  grundsätzlich:  Einige  aus  diesen  Völkern.  In  diesen 
Einigen  sind  die  ganzen  Völker  Gegenstand  seines  Auf¬ 
trags,  Hörer  seiner  Botschaft.  Der  paulinische  Missions¬ 
gedanke  hat  mit  großen  oder  kleinen  Zahlen  nichts  zu 
tun:  es  geht  darum,  den  Funken  überall  auszustreuen 
und  in  ihm  jedesmal  den  zukünftigen  Brand  des  Ganzen. 
Man  kann  schließlich  Vers  14—15  als  die  Angabe  eines 
vierten  Grundes  für  seinen  Wunsch,  nach  Rom  zu  kom¬ 
men,  verstehen.  Paulus  erklärt  nämlich  diesen  (in  v.  15 
noch  einmal  ausdrücklich  ausgesprochen)  Wunsdi  mit 
seiner  besonderen  Berufung  zum  Weltapostolat,  zur  Ver- 


20 


kündigung  des  Evangeliums  unter  Hellenen  und  Barba¬ 
ren,  Gebildeten  und  Ungebildeten.  Hellenen  hießen  ur¬ 
sprünglich  die  Griechen,  Barbaren  im  Mund  der  Griechen 
alle  übrigen  Völker.  In  der  Zeit  unseres  Briefes  hatten 
die  Begriffe  sich  gewandelt:  hellenisch  war  der  Inbegriff 
der  Kultur,  barbarisch  der  Inbegriff  ihres  Gegenteils  ge¬ 
worden.  In  ihrer  Zusammenstellung  im  Munde  eines  Chri¬ 
sten  und  ehemaligen  Juden  bezeichneten  die  beiden  Be¬ 
griffe  die  nicht-jüdische,  also  die  heidnische  Welt  als  Ganzes 
und  in  ihrer  Differenzierung.  Als  dieser  Welt  Apostel  ist 
Paulus  mit  dem  Evangelium  beauftragt,  im  Unterschied 
zu  den  Aposteln,  die  nach  wie  vor  in  Jerusalem,  unter 
den  Juden  dasselbe  Amt  vertraten.  Weil  das  sein  Amt  ist, 
darum  (vierter  Grund)  wünscht  Paulus  auch  nach  Rom 
zu  kommen:  nach  Rom  als  dem  Zentrum  eben  dieser  hel¬ 
lenisch-barbarischen,  aus  höchster  Bildung  und  gröbster 
Unbildung  sich  zusammensetzenden  Heidenwelt.  Man  wird 
aber,  auf  diese  ganze  Erklärung  in  Vers  8 — 15  zurück¬ 
blickend,  gut  tun,  sich  zu  erinnern,  daß  dieser  Wunsch 
dort  seinen  eigentlichen  Nerv,  seine  entscheidende  Kraft 
hat,  wo  Paulus  sich  mit  den  römischen  Christen  wie  mit 
den  Christen  aller  anderen  Gemeinden  jetzt  schon  —  aller 
räumlichen  Trennung  und  persönlichen  Unbekanntschaft 
zum  Trotz  —  beieinander  sieht:  in  der  Einheit  Jesu  Christi, 
der  zugleich  sein,  des  Apostels,  und  ihr,  der  Gemeinde, 
Herr  ist. 

Die  letzten  Sätze  der  Einleitung  (v.  16 — 17)  bringen  die 
Erklärung  darüber,  was  Paulus  versteht  unter  dem  Evan¬ 
gelium,  von  dem  er  in  Vers  15  noch  einmal  gesagt  hatte, 
daß  er  willens  sei,  es  auch  in  Rom  zu  verkündigen.  Es  be¬ 
ginnt  in  diesen  Versen  bereits  die  Darstellung  der  Sache, 
um  derentwillen  der  Brief  geschrieben  wurde.  Aber  der 
Übergang  vom  Vorangehenden  her  vollzieht  sich  fast  un¬ 
merklich. 


21 


Was  Paulus  in  Vers  16  zuerst  sagt:  daß  er  sich  des 
Evangeliums  nicht  schäme ,  bezieht  sich  sicher  noch  darauf, 
daß  er  vorher  davon  geredet,  wie  er  schon  lange  gerne 
nach  Rom  gekommen  wäre  und  nun  doch  bisher  nicht 
kommen  konnte.  Niemand  soll  denken,  daß  er  etwa  deshalb 
nicht  kommen  konnte,  bzw.  wollte,  weil  er  die  Probe 
scheute,  die  gerade  Rom  als  der  eindrucksvolle  Mittel¬ 
punkt  der  heidnischen  Welt  für  seine  Verkündigung  be¬ 
deuten  mußte.  Er  fürchtet  nicht,  daß  das  Evangelium  der 
in  der  Weltstadt  massierten  Kultur  und  Unkultur  etwa 
nicht  gewachsen  sein,  daß  es  an  den  dort  herrschenden 
Mächten  des  Geistes  und  des  Ungeistes,  der  Humanität  und 
der  Banalität  zuschanden  werden  und  damit  auch  ihn 
blamieren  könnte.  Aber  das  Vertrauen  auf  seine  eigene 
Geistesmacht,  Beredsamkeit,  Menschenkenntnis  oder  der¬ 
gleichen  ist  nicht  der  Grund  dieser  seiner  „Unverschämt¬ 
heit“.  Er  ist  darum  „unverschämt“,  er  fürchtet  das  ganze 
Rom  darum  nicht,  weil  —  und  nun  kommt  er  zu  der 
Sache,  bei  der  er  bis  Kap.  15,  13  in  großer  Strenge  bleiben 
wird  —  das  Evangelium  selbst  Kraft ,  und  zwar  Kraft 
Gottes  und  also  schlechterdings  überlegene  Kraft  ist.  Man 
bemerke,  daß  er  nicht  von  seiner  Überzeugung  oder  Er¬ 
fahrung  von  dieser  Kraft  redet.  Man  bemerke  ferner,  daß 
er  nicht  sagt,  das  Evangelium  habe  solche  Kraft  (als  ob  es 
sie  allenfalls  auch  nicht  haben  könnte).  Er  zeigt  vielmehr 
—  wir  müssen  uns  daran  gewöhnen,  daß  ein  Apostel  so 
redet  —  an,  daß  das  Evangelium  solche  Kraft  ist.  Der  Satz 
bedeutet:  es  ist  die  Allmacht  Gottes.  Also  keine  Macht 
neben  anderen  Mächten,  keine  Macht,  die  mit  anderen  auch 
nur  zu  vergleichen  wäre,  keine  Macht  mit  der  eine  andere 
konkurrieren  könnte,  sondern  die  Macht,  die  über  allen 
anderen  Mächten  ist,  die  ihrer  aller  Grenze  ist,  von  der 
sie  alle  regiert  werden.  Das  ist  das  Evangelium.  Wie  sollte 
es  da  in  dem  großen  und  nun  doch  recht  kleinen  Rom  zu 
Schanden  werden?  Wie  sollte  da  sein  Bote  verschämt  sein 


22 


können?  Wir  hörten  schon  in  Vers  4:  der  Inhalt  des  Evan¬ 
geliums  ist  die  Person  Jesus  Christus.  Der  alte  Abschreiber, 
der  hier  diesen  Namen  ausdrücklich  hinzufügte,  hat  dar¬ 
um  sachlich  nichts  verändert.  Selbstverständlich  hat  Paulus 
an  diesen  Inhalt  und  also  an  diese  Person  des  Evangeliums 
gedacht,  wenn  er  es  die  Allmacht  Gottes  genannt  hat.  Wo 
Jesus  Christus  der  Inhalt  ist,  da  nimmt  jede  Form  seine 
Art  an.  Die  Art  Jesu  Christi  ist  aber  die  Allmacht  Gottes. 
So  kommt  das  Evangelium  dazu,  die  Allmacht  Gottes  zu 
sein.  Aber  was  ist  die  Allmacht  Gottes?  Paulus  hatte  ein 
sehr  bestimmtes  Verständnis  von  dieser  Sache:  Das  ist  die 
Allmacht  Gottes  und  also  die  letztlich  alleinige  Macht  in 
der  Welt,  die  wirksam  ist  „zur  Errettung  für  jeden  Glau¬ 
benden,  für  den  Juden  zuerst  und  auch  für  den  Griechen“. 
Man  betrachtet  diese  Worte  am  besten  ohne  Auflösung 
ihres  Zusammenhangs.  Paulus  weiß  von  einem  Werk,  das 
in  Gang  gekommen  ist  und  nun  unaufhaltsam  in  Gang 
bleiben  wird.  Dieses  Werk  besteht  in  einer  Errettung .  In 
jedem  Glaubenden  kommt  dieses  Werk  zu  seinem  Ziel  da¬ 
mit,  daß  er  durch  dieses  Werk  gerettet  wird.  Und  es  läuft 
der  Weg  dieses  Werkes  zuerst  zu  den  Juden  und  dann 
von  da  aus  zu  den  Griechen ,  d.  h.  zu  den  damals  durch 
die  griechische  Sprache  und  Art  beherrschten  heidnischen 
Völkern  in  der  Umgebung  des  Mittelmeeres,  um  im  Glau¬ 
ben  der  Juden  zuerst,  dann  im  Glauben  der  Griechen  damit 
zu  seinem  Ziel  zu  kommen,  daß  sie  gerettet  werden.  Also: 
die  Allmacht  Gottes  ist  diejenige  Macht,  die  in  diesem  Werk 
wirksam  ist.  Und  umgekehrt:  was  in  diesem  Werk  wirk¬ 
sam  ist,  das  ist  die  Allmacht  Gottes  im  strengsten  Sinn 
des  Begriffs.  Vieles,  was  noch  kommt,  wird  verständlicher, 
wenn  man  bedenkt,  daß  diese  Gleichung  zum  ABC  des 
Paulus  gehört.  Er  wird  nachher  in  keinem  Satz  so  reden, 
als  ob  es  an  dieser  Gleichung  etwas  zu  rütteln  gäbe.  Wir 
nehmen  also  zunächst  zur  Kenntnis:  das  Evangelium  ist 
dieses  allmächtige  Rettungswerk. 


23 


Und  nun  erfahren  wir  in  Vers  17  in  kürzester  Form,  was 
Paulus  vor  Augen  hat,  wenn  er  das  Evangelium  als  die¬ 
ses  Rettungswerk  bezeichnet.  Im  Evangelium  findet  eine 
Offenbarung  statt.  Das  bedeutet  schlicht:  die  Aufdeckung, 
die  Enthüllung  einer  Sache,  die  sonst  verborgen  ist  und 
verborgen  bleiben  muß.  Paulus  redet  hier  wie  nachher  in 
Vers  18  in  der  Gegenwartsform.  Man  kann  auf  die  Offen¬ 
barung  im  Evangelium  nicht  zurückblicken  wie  auf  andere 
historische  Ereignisse.  Sie  hört  nicht  auf,  im  Evangelium 
zu  geschehen.  Man  kann  das  Evangelium  nicht  hören,  ohne 
sein  Zeitgenosse,  ohne  selber  Zeuge  seines  Geschehens  zu 
werden.  Es  ist  aber  die  im  Evangelium  sich  ereignende 
Offenbarung  die  Offenbarung  der  Gerechtigkeit  Gottes ,  d.  h. 
der  rechtlichen,  der  richterlichen  Entscheidung  Gottes.  Was 
sonst  verborgen  ist  und  bleibt,  im  Evangelium  aber  sicht¬ 
bar  wird,  das  ist  der  „Richterstuhl“  (2.  Kor.  5, 10),  welchen 
der  Mann  einnimmt,  den  Gott  nach  Übersehen  der  Zeiten 
der  Unwissenheit  bestimmt  hat,  den  ganzen  Erdkreis,  die 
Lebendigen  und  die  Toten  zu  richten  in  Gerechtigkeit  (Act. 
10,  42;  17,  30  f.).  Dieser  Mann,  Jesus  Christus,  ist  ja  der 
Inhalt  des  Evangeliums.  Er  wird  in  ihm  offenbar  und  in 
ihm  Gottes  Richterspruch.  Zu  seinem  Zeitgenossen,  zum 
Zeugen  seiner  Offenbarung,  wird  der  Hörer  des  Evange¬ 
liums.  Und  eben  er  als  Verkünder  des  Richterspruches  Got¬ 
tes  ist  auch  der  Vollbringer  jenes  allmächtigen  Rettungs¬ 
werkes.  Das  ist  die  zweite  erstaunliche  Gleichung  in  die¬ 
sen  programmatischen  Versen:  Gottes  Richterspruch  ist 
Gottes  Rettungswerk.  Der  Richter  ist  der  Retter.  Auf  den 
Mann,  durdi  den  Gott  sein  Urteil  offenbart,  blickt  Paulus 
und  an  das  durch  ihn  ausgesprochene  Urteil  hält  er  sich, 
indem  er  im  Evangelium  die  Gotteskraft  zur  Errettung 
erkennt.  Die  hinzugefügten  Worte  „ aus  Glauben  zum  Glau - 
ben“  sind  nicht  ganz  leicht  zu  verstehen.  Die  naheliegend¬ 
ste  Deutung  dürfte  die  sein,  daß  wir  es  in  ihnen  mit  einem 
im  Deutschen  freilich  nicht  wiederzugebenden  Wortspiel  zu 


24 


tun  haben.  Das  griechische  Wort  für  „Glaube“  (pistis)  be¬ 
deutet  ebenso  Treue  wie  Vertrauen.  In  der  Stelle  in  Kap. 
3,  3  wird  es  tatsächlich  zur  Bezeichnung  der  Treue  Gottes 
verwendet  und  man  muß  damit  rechnen,  daß  es  auch  an 
anderen  Stellen  nicht  vom  Glauben  des  Menschen,  son¬ 
dern  von  der  Treue  Gottes  reden  könnte.  Wenn  dies  auch 
hier  anzunehmen  wäre,  wäre  alles  klar:  der  durch  Jesus 
Christus  verkündigte  Richterspruch  stammt  aus  der  Treue, 
er  ist  das  Wort  der  Treue  Gottes  und  zielt  auf  das  Ver¬ 
trauen,  auf  den  Glauben  der  jüdischen  und  griechischen 
Menschen,  die  ihn  zu  hören  bekommen.  Von  diesem  Grund 
und  von  diesem  Ziel  seiner  Offenbarung  her  gesehen  ist 
dieser  Richterspruch  das,  als  was  Paulus  ihn  beschreibt: 
Gottes  allmächtiges  Rettungswerk.  „Der  aus  Glauben  Ge¬ 
rechte“,  von  dem  das  abschließende  Zitat  aus  Hab.  2,  4  sagt, 
daß  er  leben  werde,  ist  der  Jude  oder  Grieche,  der  das 
Evangelium  so  gehört  hat,  daß  der  darin  ausgesprochene 
Richterspruch  Gottes  und  also  Gottes  allmächtiges  Rettungs¬ 
werk  bei  ihm  zu  seinem  Ziel  gekommen  ist  —  der  Jude 
oder  Grieche,  der  damit  glaubt,  daß  er  es  annimmt  und 
bekennt,  der  zu  sein,  als  der  er  durch  das  göttliche  Urteil 
bezeichnet  und  angesprochen  wird.  Wer  das  tut,  wer  sich 
der  Rechtsentscheidung  Gottes  mit  Herz  und  Mund  unter¬ 
wirft,  der  glaubt,  der  steht  mit  diesem  seinem  Glauben  vor 
Gott  da  als  einer,  der  ihm  recht  ist  und  eben  der  wird 
leben,  d.  h.  eben  der  wird  der  Errettung  und  durch  seine 
Errettung  des  Lebens  teilhaftig,  das  ihm  durch  die  Rechts¬ 
entscheidung  Gottes  zugesprochen  ist.  Es  soll  aber  doch 
nicht  unerwähnt  bleiben,  daß  es  eine  griechische  Über¬ 
setzung  jenes  Habakukwortes  gegeben  hat,  die  vielleicht 
auch  dem  Paulus  nicht  unbekannt  war,  laut  derer  es  hei¬ 
ßen  würde:  „Der  Gerechte  wird  aus  meiner  (Gottes)  Treue 
leben“.  Und  es  ist  auch  das  nicht  ausgeschlossen,  daß  Pau¬ 
lus  bei  dem  Mann,  von  dem  das  gesagt  wird,  ursprünglich 
und  zuerst  nicht  an  den  Hörer  und  Empfänger  des  Evan- 


25 


geliums,  sondern  an  seinen  Inhalt,  d.  h.  an  den  Mann 
Jesus  Christus  gedacht  hat:  an  den  durch  den  treuen  Gott 
eingesetzten  gerechten  Richter,  dessen  Leben,  d.  h.  dessen 
Auferstehung  von  den  Toten  (v.  4)  die  schon  im  Alten 
Testament  geweissagte  Offenbarung  ist,  die  Paulus  nun 
auslegen  will.  Ohne  Jesus  Christus  als  Hintergrund  kann 
man  das,  was  hier  und  in  allem  Folgenden  vordergründ¬ 
lich  vom  glaubenden  Menschen  gesagt  wird,  auf  alle  Fälle 
nicht  verstehen.  Seine  Gerechtigkeit  ist  wie  die  des  treuen 
Gottes  so  auch  die  des  auf  ihn  vertrauenden  Menschen. 
Und  sein  aus  dem  Tode  errettetes  Leben  ist  das  Leben,  das 
diesem  durch  ihn  gerechten  Menschen  zugesagt  ist.  —  Die 
Verkündigung  dieser  Gerechtigkeit  und  dieses  Lebens,  die 
Verkündigung  des  Glaubens,  die  den  Menschen  dieser  Ge¬ 
rechtigkeit  und  dieses  Lebens  teilhaftig  macht,  ist  das  apo¬ 
stolische  Amt,  in  das  Paulus  eingesetzt  ist  und  in  dessen 
Verwaltung  er  im  Römerbrief  das  Wort  ergriffen  hat. 


26 


1,18  —  3,20 


Das  Evangelium  als  Gottes  Verurteilung 
des  Menschen 


Meint  Paulus  eine  zweite  oder  erste  Offenbarung  neben 
und  außer  der,  von  der  in  Vers  17  die  Rede  war,  wenn 
nun  auf  einmal  eine  Offenbarung  des  Zornes  Gottes 
vom  Himmel  her  über  alle  Gottlosigkeit  (Ehrfurchtslosig- 
keit)  undUngerechtigkeit  (Unbotmäßigkeit)  der  Menschen, 
nämlich  der  Heiden  (v.  18 — 32)  und  der  Juden  (Kap.  2, 1 
bis  3,  20)  zur  Sprache  kommt?  Stellt  er  sein  Amt  als  Ver¬ 
künder  des  Evangeliums  zurück,  um  zunächst  in  einem  ganz 
anderen  Amt,  nämlich  in  dem  eines  frommen  Auslegers  der 
menschlichen  Situation  als  solcher,  eines  christlichen  Reli- 
gions-  und  Geschichtsphilosophen  zu  reden?  Man  hat  das, 
was  nun  folgt,  oft  so  verstanden,  als  ob  dem  so  wäre.  Die 
ganze  doch  sehr  lange  Stelle  in  Kap.  1,  18 — 3,  20  würde 
dann  bedeuten,  daß  Paulus  —  wie  schlechte  Prediger  es 
allerdings  zu  tun  pflegen  —  zunächst  weit  und  breit  von 
etwas  ganz  anderem  als  von  seinem  Text,  d.  h.  von  der 
vorher  klar  und  deutlich  angegebenen  Sache  reden  würde. 
Will  man  ihm  das  Zutrauen?  Irgend  eine  äußere  Anzeige 
dafür,  daß  wir  es  mit  einem  solchen  Frontwechsel  gleich 
zu  Beginn  des  Ganzen  zu  tun  hätten,  liegt  tatsächlich  nicht 
vor.  Man  kann  aber  jedenfalls  das  in  Kap.  2,  1  f.  über  die 
Juden  Gesagte  unmöglich  verstehen,  wenn  man  nicht  sieht, 
daß  hier  nicht  von  einer  allgemein-menschlichen  Warte, 
sondern  vom  Evangelium  her  geredet,  daß  hier  das  im 
Evangelium  den  Juden  verkündigte  Urteil  ausgesprochen 
wird,  daß  also  Paulus  hier  ganz  eindeutig  in  seinem  Amt 


27 


als  Apostel  redet.  Ist  dem  aber  so,  mit  welchem  Recht  soll 
dann  angenommen  werden,  daß  er  es  im  1.  Kapitel,  wo 
von  den  Heiden  die  Rede  ist,  anders  halte?  Auf  welche 
andere  „Offenbarung  Gottes  vom  Himmel  her“  konnte  er 
sich  denn  auch  berufen,  wenn  er  im  Folgenden  das  ent¬ 
wickeln  will,  was  gegen  Schluß  dieses  Abschnittes  und  zu 
Beginn  des  Folgenden  zusammengefaßt  wird  in  den  Wor¬ 
ten:  „Wir  haben  Juden  und  Griechen  als  schuldig  erwie¬ 
sen,  daß  sie  alle  unter  der  Herrschaft  der  Sünde  seien“ 
(Kap.  3,  9)  „. . .  damit  jeder  Mund  verschlossen  und  alle 
Welt  vor  Gott  strafwürdig  sei“  (Kap.  3, 19).  „Es  ist  hier  kein 
Unterschied;  alle  haben  gesündigt  und  ermangeln  der  Ehre 
vor  Gott“  (Kap.  3,  23).  Sollte  das  „vom  Himmel  her“  auf 
einen  anderen  Ursprung  dieser  Offenbarung  hinweisen? 
Aber  was  für  ein  Ursprung  käme  da  in  Betracht,  da  wir  ja 
hörten,  daß  eben  das  Evangelium  die  Allmacht  Gottes  und 
also  doch  wohl  der  Inbegriff  aller  Himmelshöhe  ist?  Und 
was  Paulus  angibt  als  Inhalt  dieser  Offenbarung,  das  hat 
doch  noch  nie  jemand  gesagt  und  hat  auch  noch  nie  je¬ 
mand  sagen  oder  auch  nur  nachsagen  können  als  eben  in 
Auslegung  der  Offenbarung,  von  der  Paulus  vorher  ge¬ 
redet:  in  Auslegung  des  durch  den  Mann  Jesus  Christus 
gesprochenen  göttlichen  Gerichtsurteils.  Nur  der  Glaube 
an  das  Evangelium  wird  jene  Sätze,  wird  diese  ganze 
Rede  vom  Zorne  Gottes  annehmen,  wird  ihr  nicht  wider¬ 
sprechen.  Das  bedeutet  aber:  wir  befinden  uns  schon  in 
diesem  Abschnitt  nicht  in  einer  Art  Vorhalle,  sondern  tat¬ 
sächlich  bereits  mitten  in  der  Sache.  Diese  Sache,  das  Ge¬ 
richtsurteil  des  treuen  Gottes  über  die  ganze  Welt,  dessen 
Offenbarung  Jesus  Christus  heißt,  hat  eben  auch  diese 
Seite,  diese  Schattenseite.  Sie  ist  auch  die  Offenbarung  des 
Zornes  Gottes.  Und  wenn  es  vielleicht  unseren  pädagogi¬ 
schen  Begriffen  nicht  entspricht,  so  ist  es  für  die  apostoli¬ 
sche  Pädagogik  um  so  bedeutungsvoller,  wenn  Paulus,  be¬ 
vor  er  auf  die  Lichtseite  der  einen  Offenbarung  zu  spre- 


28 


chcn  kommt,  dieses  Schwerere  vorwegnimmt,  den  ganzen 
Trost  des  Evangeliums  (denn  er  ist  auch  hier  zur  Stelle) 
zunächst  nicht  als  solchen  kenntlich  macht,  sondern  ver¬ 
birgt  in  dem  Zeugnis  von  Gottes  Verurteilung  des  Men¬ 
schen. 

Das  merkwürdige  „Denn“,  mit  dem  Vers  18  anfängt, 
wird  verständlich,  wenn  man  beachtet,  daß  es  in  einer  Reihe 
steht  mit  den  zwei  anderen  „Denn“  in  Vers  16  und  17: 
„Denn  es  ist  Gottes  Kraft“,  „Denn  die  Gerechtigkeit  Got¬ 
tes  wird  in  ihm  offenbar“.  Damit  wurde  dort  der  Satz:  „Ich 
schäme  mich  des  Evangeliums  nicht“  begründet.  Auch  das 
„Denn“  in  Vers  18  ist  begründet:  Ich  schäme  mich  des 
Evangeliums  den  Mächten  der  Weltstadt  Rom  gegenüber 
darum  nicht,  weil  das  Evangelium  als  das  allmächtige  Ret¬ 
tungswerk  Gottes  jedenfalls  auch  Gottes  Verurteilung  des 
Menschen  ausspricht,  weil  es  ganz  klar  ist,  daß  nicht  ich 
mich  des  Evangeliums,  sondern  die  in  Rom  massierte  Hei¬ 
denwelt  angesichts  des  Evangeliums  sich  ihrer  selbst  zu 
schämen  hat.  So  ist  Paulus  gewissermaßen  von  selbst,  noch 
im  Zuge  seiner  Einleitung,  zuerst  gerade  auf  diese  Sache 
zu  reden  gekommen.  Wenn  Gott  und  der  Mensch  —  auch 
der  Mensch  der  Weltstadt  Rom  —  sich  begegnen,  wie  es  in 
der  Verkündigung  und  im  Hören  des  Evangeliums  der 
Fall  ist,  dann  kann  es  nicht  anders  sein,  als  daß  der  Wider¬ 
spruch  zwischen  beiden  sichtbar  wird:  der  Widerspruch 
Gottes  gegen  den  Widerspruch,  den  der  Mensch  ihm  seiner¬ 
seits  entgegensetzt.  Die  Haltung  des  Menschen  Gott  gegen¬ 
über  wird  dann  sichtbar  als  Ehrfurchtslosigkcit  —  das  ist 
das  Wesen  der  Gottlosigkeit  und  als  Unbotmäßigkeit,  als 
Aufruhr  —  das  ist  das  Wesen  aller  menschlichen  Unge¬ 
rechtigkeit.  Es  gibt  dann  Feuer:  das  Feuer,  von  dem  das 
Unmögliche,  was  da  auf  seiten  des  Menschen  passiert,  ver¬ 
zehrt  wird.  Dieses  Feuer  ist  der  Zorn  Gottes.  Man  ver¬ 
stehe  den  Zorn  Gottes  nicht  als  etwas,  was  der  Liebe  Got¬ 
tes  fremd  und  entgegengesetzt  wäre.  Man  verstehe  aber 


29 


die  Liebe  Gottes  als  diese  brennende  und  verzehrende 
Liebe.  Die  Offenbarung  des  Zornes  Gottes,  des  über  den 
Menschen  um  seiner  Sünde  willen  beschlossenen  Todes¬ 
urteils  Gottes  ist  der  Akt,  in  welchem  Gott  (Kap.  8,  32) 
seines  eigenen  Sohnes  nicht  verschonte,  sondern  hat  ihn  für 
uns  alle  dahingegeben.  Der  Kreuzestod  Jesu  Christi  ist  die 
Offenbarung  des  Zornes  Gottes  vom  Himmel  her.  Von  hier 
aus  denkt  Paulus.  Von  hier  aus  haben  wir  nun  auch  das 
Folgende  zu  verstehen. 

Gestehen  wir  es  gleich  zu:  Wären  uns  die  Verse  19 — 21  *) 
für  sich,  vielleicht  als  Fragment  eines  uns  unbekannten 
Textzusammenhangs  eines  unbekannten  Verfassers  über¬ 
liefert,  so  könnte  man  wohl  auf  die  Vermutung  kommen, 
als  sei  hier  von  der  Existenz  eines  „natürlichen“  d.  h.  einer 
der  Offenbarung  Gottes  in  Jesus  Christus  vorangehenden 
und  ihr  gegenüber  selbständigen  Gotteserkenntnis  der  Hei¬ 
den  die  Rede.  Die  Stelle  ist  immer  wieder  so  gelesen  wor¬ 
den,  als  wenn  sie  ein  solches  Fragment  wäre  und  ist  dann 
tatsächlich  als  Beweis  einer  allgemeinen  Lehre  von  einer 
solchen  natürlichen  Gotteserkenntnis  verstanden  undimmer 
wieder  angeführt  worden.  Man  hat  freilich  auch  unter 
jener  seltsamen  Voraussetzung  zu  viel  aus  ihr  gemacht. 
Daß  die  heidnischen  Religionen  ein  Zeugnis  von  der  dem 
Menschendasein  notwendigen  Gottesbeziehung  seien,  daß 
sie  als  Ergebnis  aus  Gottes  Offenbarung  und  des  Men¬ 
schen  Sünde  zu  verstehen  seien,  steht  z.  B.  nicht  in  diesen 
Versen,  in  denen  die  heidnische  Religion  als  solche  noch 
gar  nicht  erwähnt  wird.  Aber  schon  die  Voraussetzung  ist 
hier  falsch.  Die  Verse  sind  nun  einmal  kein  Fragment,  son¬ 
dern  stehen  als  Worte  des  Apostels  Paulus  in  ihrem  be¬ 
stimmten  Zusammenhang  im  Römerbrief  und  in  den  pau- 
linischen  Schriften  überhaupt.  Angesichts  der  Feststellung, 
auf  die  der  ganze  Absdinitt,  in  dem  sie  stehen,  hinaus- 

*  Vgl.  zu  dieser  Stelle  KD.  I,  2  S.  334  f.  und  II,  1  S.  131  f. 


30 


läuft  und  angesichts  der  damit  übereinstimmenden  Dar¬ 
legungen  des  Paulus  über  die  verborgene,  von  keinem 
Auge  gesehene,  von  keinem  Ohrt  gehörte,  in  keines  Men¬ 
schen  Herz  gekommene  Weisheit  Gottes,  die  der  natür¬ 
liche  Mensch  nicht  annimmt,  die  er  nicht  erkennen  kann, 
die  nur  der  Geist  Gottes,  die  der  Mensch  nur  durch  diesen 
Geist  Gottes  erkennen  kann  (1.  Kor.  2, 6 — 16),  wäre  es  doch 
sehr  merkwürdig,  wenn  Paulus  hier  auf  einmal  die  Hei¬ 
den  im  Vollzug  und  Besitz  wirklicher  Gotteserkenntnis 
sehen  sollte.  Würde  Paulus  mit  einer  solchen  Sache  rech¬ 
nen,  warum  hätte  er  sie  dann  nicht  ganz  anders  fruchtbar 
gemacht?  Warum  redet  er  dann  im  ganzen  übrigen  Römer¬ 
brief  und  in  allen  seinen  sonstigen  Briefen  von  der  Er¬ 
kenntnis  Gottes  so,  als  gäbe  es  in  Wirklichkeit  nur  die  eine, 
nämlich  die,  die  auf  die  Offenbarung  jenes  göttlichen  Rich¬ 
terspruches  und  Rettungswerkes  und  also  auf  die  Offen¬ 
barung  in  Jesus  Christus  gegründet  ist? 

Denkt  man  von  diesem  Zusammenhang  her  über  die 
Stelle  nach,  dann  wird  vor  allem  ersichtlich:  Paulus  redet 
nicht  von  den  Heiden  an  sich  und  im  allgemeinen,  nicht  in 
der  Weise,  wie  es  etwa  ein  Religionshistoriker  oder  Reli¬ 
gionsphilosoph  an  seiner  Stelle  getan  hätte.  So  wird  er  ja 
nachher  auch  von  den  Juden  nicht  reden.  Er  redet  von 
den  Heiden,  die  jetzt,  durch  die  Auferstehung  Jesu  Christi 
und  durch  die  seither  durch  die  ganze  Welt  gehende  Ver¬ 
kündigung  seines  Namens,  ob  sie  es  wissen  oder  nicht,  ob 
es  ihnen  recht  ist  oder  nicht,  mit  dem  Evangelium  kon¬ 
frontiert  sind.  Er  sieht  die  Heiden  wie  die  Juden  —  das 
tut  kein  Religionshistoriker  und  kein  Religionsphilosph  — 
im  Widerschein  jenes  Feuers  des  Zornes  Gottes,  das  das 
Feuer  seiner  Liebe  ist.  Er  redet  von  etwas,  was  den  Heiden 
angeht,  was  ihm  aber  keineswegs  bekannt,  sondern  höchst 
unbekannt  ist,  er  sagt  ihm  über  ihn  selbst  —  und  es 
braucht  schon  einen  Apostel  dazu,  um  ihm  das  zu  sagen 
—  die  größte  Neuigkeit:  dies  nämlich,  daß  Gott  sich  fak- 


31 


tisch  auch  ihm  längst,  ja  immer,  von  der  Erschaffung  der 
Welt  her  bezeugt  und  offenbart  hat.  Die  Welt,  die  ihn 
immer  umgab,  war  immer  Gottes  Werk  und  damit  immer 
Gottes  Selbstzeugnis.  Objektiv  gesprochen  haben  die  Hei¬ 
den  Gott:  sein  unsichtbares  Wesen,  seine  ewige  Kraft  und 
Gottheit  immer  erkennen  können.  Und  wieder  objektiv  ge¬ 
sprochen:  sie  haben  ihn  auch  immer  erkannt.  In  allem, 
was  sie  sonst  erkannten,  war  ja,  objektiv  gesprochen,  im¬ 
mer  Gott  als  der  Schöpfer  aller  Dinge  der  eigentliche  und 
wahre  Gegenstand  ihres  Erkennens.  Genau  in  dem  Sinn, 
wie  es  ja  auch  die  Juden  in  ihrem  Gesetz  objektiv  zweifel¬ 
los  mit  Gottes  Offenbarung  zu  tun  hatten.  Wie  kommt 
Paulus  zu  diesen  Sätzen?  Man  achte  auf  das,  worauf  sie 
hinaus  wollen:  daß  Heiden  und  Juden  unentschuldigt,  in 
vollem  Ernst  haftbar  und  verantwortlich  für  ihren  Wider¬ 
spruch  gegen  Gott  vor  diesem  dastehen  (Kap.  1,  20  und 
Kap.  2,  1),  das  ist  es,  was  im  Lichte  der  Offenbarung 
Gottes  in  Jesus  Christus,  im  Widerschein  jenes  auf  Golga¬ 
tha  entbrannten  Zornesfeuers  sichtbar  ist.  In  dieser  gött¬ 
lichen  Anklage  und  also  in  der  Offenbarung  in  Jesus 
Christus  und  also  im  Evangelium  und  nur  da,  nur  so, 
sieht  Paulus  nun  auch  das  enthalten  und  ausgesprochen: 
wirklich  von  Gott  Verkommend,  also  wirklich  und  ernst¬ 
lich  im  Widerspruch  gegen  Gott  und  also  wirklich  und 
ernstlich  getroffen  von  Gottes  Zorn  sind  Heiden  und  Juden, 
was  sie  sind.  Sie  fehlen  gegen  ihr  eigenes  besseres  Wissen. 
Wie  wäre  das  Evangelium  nach  Vers  16  die  Allmacht 
Gottes,  wenn  die  Heiden  etwa  darauf  sich  zurückziehen 
könnten,  daß  Gott  ihnen  fremd  sei,  daß  sie  sich  in  irgend 
einem  Winkel  der  Welt  befänden,  wo  Gott  nicht  Gott  und 
als  solcher  nicht  offenbar  sei,  wenn  es  so  etwas  gäbe  wie 
ein  in  sich  ruhendes,  gefestigtes,  gesichertes  und  berech¬ 
tigtes  Heidentum,  ein  Heidentum,  dem  gegenüber  Gottes 
Anklage,  Zorn  und  Urteil  im  Unrecht  wäre,  weil  es  sich 
auf  Unkenntnis  des  Gesetzes  berufen  könnte?  Das  eben  ist 


32 


es,  was  das  Heidentum  nicht  kann:  angesichts  des  Kreuzes¬ 
todes  Christi  unmöglich  kann.  Und  das  ist  es,  was  Paulus 
in  Vers  19 — 21  in  seiner  Unmöglichkeit  hingestellt  hat.  Das 
Gesetz  gilt  auch  für  die,  die  es  nicht  kennen,  einfach  dar¬ 
um,  weil  es  objektiv  auch  über  ihnen  steht. 

Daß  Paulus  nicht  daran  denkt,  den  Heiden  so  etwas  wie 
ein  Kompliment  zu  machen  und  in  ihren  Religionen  so 
etwas  wie  einen  Anknüpfungspunkt  aufzusuchen,  von  dem 
aus  es  zu  einem  Brückenbau  zum  Verständnis  des  Evan¬ 
geliums  kommen  könnte,  daß  er  sie  vielmehr  pur  und 
einfach  zum  Glauben  an  Gottes  Richterspruch  aufruft,  das 
zeigt  die  ganze  Fortsetzung  in  dem  an  sie  gerichteten  Teil 
dieses  Abschnitts.  Ihrer  objektiven  Kenntnis  Gottes  zum 
Trotz  haben  sie  ihm  die  Ehre  und  den  Dank,  die  sie  ihm 
schulden,  nicht  erwiesen.  Sie  befinden  sich  in  flagrantem 
Widerspruch  gerade  zu  der  Wahrheit  des  Menschen,  die 
mit  der  Wahrheit  Gottes  in  Jesus  Christus  offenbart  wor¬ 
den  ist.  Sie  halten  diese  Wahrheit  aufrührerisch  darnieder 
(v.  18).  Sie  vertauschen  sie  mit  der  Lüge  (v.  25).  Ihr 
Denken  ist  —  immer  an  dieser  Wahrheit  gemessen  —  im¬ 
mer  in  ihrem  Lichte!  —  ein  leeres  Denken,  ihr  Herz  finster 
(v.  21).  Indem  sie  sich  als  Weise  ausgeben,  machen  und 
halten  sie  sich  selber  zum  Narren  (v.  22).  Wie  und  inwie¬ 
fern  das  alles?  Paulus  antwortet  nicht  etwa  zuerst  mit 
dem  Hinweis  auf  diese  und  jene  heidnischen  Laster  und 
Verirrungen,  sondern  zuerst  mit  dem  Hinweis  gerade  auf 
das  Beste,  was  die  Heiden  haben  oder  zu  haben  meinen: 
nämlich  auf  ihre  Religion,  die  in  einer  einzigen  großen 
Verwechslung  zwischen  dem  Schöpfer  und  seinem  Geschöpf 
besteht  (v.  23).  Wenn  es  von  irgendwoher  keine  Brücke 
zum  Evangelium,  zur  Erkenntnis  des  lebendigen  Gottes 
gibt,  dann  gerade  von  hier  aus!  Menschliche  Religion  als 
solche,  in  ihrem  radikalen  Unterschied  vom  Glauben  an 
Gottes  Offenbarung  entsteht  und  besteht  eben  immer  in 
dieser  Verwechslung:  in  dem  falschen  Selbstvertrauen,  in 


33 


welchem  der  Mensch  von  sich  aus  darüber  verfügen  will, 
wer  und  was  Gott  ist  und  dessen  Werk  nur  jene  Ver¬ 
wechslung  und  also  nur  der  Götzendienst  sein  kann.  Dieses 
falsche  Selbstvertrauen  ist  der  eigentliche  Gegenstand  des 
Zornes  Gottes.  Denn  in  ihm  besteht  eigentlich  der  Wider¬ 
spruch  des  Menschen  gegen  Gott.  Es  ist  es,  das  in  Gottes 
Verurteilung  des  Menschen  gemeint  und  von  ihr  getroffen 
wird.  Entscheidend  und  im  Grunde  sogar  nur  es.  Denn 
alles,  was  Paulus  nun  (v.  24 — 31)  noch  nennt  an  „na¬ 
türlichen“  und  „widernatürlichen“  Sünden,  nennt  er  ja  aus¬ 
drücklich  das  Ergebnis  einer  „Dahingabe“  (v.  24,  26,  28), 
mit  der  Gott  auf  jenen  Grundwiderspruch  des  Menschen, 
auf  dessen  eigentliche,  die  fromme  Sünde,  antwortet.  In¬ 
dem  der  Mensch  die  fromme  Sünde  begeht,  ist  er  —  und 
das  ist  es,  was  den  Heiden  zum  Heiden  macht  —  von 
Gott  sich  selbst  überlassen,  sich  selbst  preisgegeben  und 
daraus  folgt  dann  alles  Weitere  von  selbst:  das  ganze 
Unmoralische,  zu  dessen  Entfaltung  es  nicht  erst  der  Welt¬ 
stadt  bedarf,  das  auch  und  vielleicht  nur  noch  intensiver 
das  Unmoralische  der  Kleinstadt,  des  Dorfes,  der  biederen 
Provinz  ist.  Man  verstehe  die  ganzen  Andeutungen  dieser 
Verse  als  allerdings  furchtbare  Illustration  —  aber  eben 
auch  nur  als  Illustration  —  zu  dem  wesentlichen  Satz:  Die 
Heiden  sind  darin  ehrfurchtslos  und  unbotmäßig  und  dar¬ 
um  unter  dem  Zorne  Gottes,  weil  sie  die  Wahrheit  dar¬ 
niederhalten,  weil  sie  sie  mit  der  Lüge  vertauschen,  weil 
sie  sich  jene  Verwechslung  zwischen  Schöpfer  und  Geschöpf 
erlauben  und  leisten,  weil  sie  —  nicht  in  ihrer  Dummheit, 
sondern  in  ihrer  Klugheit,  nicht  in  ihrer  Schlechtigkeit, 
sondern  gerade  in  und  mit  dem  Besten,  dessen  sie  fähig 
sind,  nicht  in  der  Tiefe,  sondern  auf  der  Höhe  ihrer  Huma¬ 
nität  —  jenen  Griff  nach  der  Krone  Gottes  vollziehen.  Weil 
sie  das  tun,  darum  dann  notwendig  —  auf  Grund  der 
Reaktion  Gottes  selber  notwendig  —  auch  all  das  andere: 
die  Sünde  und  die  Sünden  im  populären  Sinn  des  Be- 


34 


griffes  —  alles  das,  dessen  Nichtswürdigkeit,  ja  Todeswür¬ 
digkeit  sie  selbst  (v.  32)  sehr  wohl  kennen  und  das  sie 
nun  bei  sich  selbst  und  anderen  dennoch  bejahen  und  be¬ 
jahen  müssen,  nachdem  sie  den  Schöpfer  als  solchen  prak¬ 
tisch  verneint  und  gelästert  haben. 

Man  bemerke,  daß  Paulus  die  Worte  „Heiden“  oder 
„Griechen“  oder  „Rom“  gerade  in  diesem  Zusammenhang 
nicht  ausgesprochen  hat.  Daß  er  dahin  geblickt  hat,  ergibt 
sich  aus  der  Fortsetzung,  in  der  er  gegensätzlich  und  dies¬ 
mal  ausdrücklich  von  den  Juden  reden  wird  und  von  wo¬ 
her  er  auf  Kap.  1,  18 — 32  zurückblickt,  so  daß  es  deutlich 
ist:  hier  stehen  ihm  tatsächlich  speziell  die  Heiden  vor 
Augen.  Es  geht  doch  auch  im  Heiden  einfach  um  den 
Menschen  als  solchen.  Ist  er  mit  dem  Evangelium  konfron¬ 
tiert,  dann  ist  zunächst  dies  von  ihm  zu  sagen,  was  hier 
von  ihm  gesagt  wird:  man  versteht  von  da  aus  noch  ein¬ 
mal,  daß  Paulus  sich  des  Evangeliums  wirklich  nicht  gut 
sdiämen  konnte. 

Man  kann  den  Gehalt  alles  dessen,  was  nun  in  Kap.  2, 
1 — 3,  20  folgt,  zusammenfassen  in  den  Satz:  Die  im  Evan¬ 
gelium  verkündigte  Verurteilung  des  Menschen  erstreckt 
sich  wirklich  auf  alle  Menschen.  Gottes  Zorn,  wie  er  gerade 
in  der  Offenbarung  seiner  Liebe  entbrannt  ist,  auf  sich 
selbst  zu  beziehen,  hat  jeder  Mensch  allen  Anlaß.  Man 
beachte,  wie  in  Kap.  3,  9  und  Kap.  3,  19  das  Ergebnis 
der  ganzen  Überlegung  von  Paulus  selbst  zusammengefaßt 
wird. 

Wir  hören  in  Kap.  2,  1  von  einem  Menschen  (dem  Ver¬ 
treter  einer  ganzen  Gruppe  von  Menschen  offenbar),  der 
hier  sich  selbst  als  Ausnahme  geltend  machen  möchte.  Ihm 
gilt  die  ganze  Auseinandersetzung,  die  nun  folgt.  Man 
bemerke,  daß  er  erst  in  Vers  17  ausdrücklich  als  Jude  an¬ 
geredet  werden  wird.  Es  ist  dort,  wie  wenn  Paulus  sich 
plötzlidi  erhöbe,  zum  Fenster  ginge,  es  öffnete  und  auf  die 


35 


Gasse  oder  auf  das  Gäßlein  hinaus  redete,  wo  der  Ge¬ 
meinde  Jesu  Christi  gegenüber  immer  noch  die  Synagoge 
wohnt.  Aber  in  der  Sache  ist  es  von  Anfang  an  deutlich, 
daß  eben  der  Jude  gemeint  ist:  der  Beschnittene,  der  Be¬ 
sitzer  und  Leser  der  Bücher  vom  Bunde  Gottes  mit  Abra¬ 
ham,  Mose  und  David,  der  Mann,  der  in  der  Erfüllung 
des  Gesetzes  Gottes  bis  zum  letzten  Buchstaben  seinen 
Lebensinhalt  gesucht  und  gefunden  hat.  Dieser  Mann  hält 
sich  der  in  Kap.  1,  19  f.  erhobenen  Anklage  gegenüber  für 
entschuldigt,  von  dem  dort  beschriebenen  Zorne  Gottes  für 
nicht  betroffen.  Er  betet  ja  keine  Götter  und  Götzen  an 
neben  dem  wahren  Gott,  dem  einen  Schöpfer  des  Himmels 
und  der  Erde.  Ihm  wird  man  ja  auch  all  die  groben 
in  Kap.  1,  24  f.  angedeuteten  Sünden  nicht  so  leicht  nach- 
weisen,  ihn  wird  man  also  nicht  gut  als  einen  von  Gott 
an  seines  Herzens  Gelüste,  an  die  „ehrlosen  Leidenschaf¬ 
ten“  (Kap.  1,  26)  Dahingegebenen  bezeichnen  können.  Er 
steht  dem  Treiben  der  heidnischen  Hauptstadt  und  der 
ganzen  heidnischen  Welt  wahrhaftig  fremd  und  überlegen, 
als  selber  unbeteiligter  kritischer  Zuschauer  gegenüber. 
Ihm  fällt  es  gar  nicht  ein,  im  Kreuze  Christi  sein  eigenes 
Todesurteil  zu  vernehmen,  ganz  im  Gegenteil:  er,  ver¬ 
treten  durch  die  Stimme  seiner  höchsten  religiösen  Auto¬ 
ritäten  und  durch  die  Stimme  des  Volkes  von  Jerusalem, 
hat  ja  diesen  Jesus  ans  Kreuz  gebracht  und  damit  aufs 
neue  bewiesen  und  erklärt,  daß  er  mit  Gotteslästerung 
nichts  gemein  haben  will,  daß  ein  solcher  aus  seiner  Mitte 
ausgeschlossen  ist,  ausgestoßen  sein  soll  zu  den  Heiden,  in 
die  Wüste,  um  daselbst  zu  sterben,  wie  es  einem  solchen 
gehört.  Eben  von  diesem  jüdischen  Menschen  sagt  Paulus 
jetzt,  daß  er  sich  irrt,  daß  gerade  er  unentschuldigt  ist. 
Das  ganze  Problem  der  göttlichen  Verurteilung  des  Men¬ 
schen  durch  das  Evangelium  wird  offenbar  erst  jetzt,  erst 
diesem  jüdischen  Menschen  gegenüber  ganz  ernsthaft.  Was 
sind  schon  die  armen  Heiden  von  Kap.  1,  19  f.  mit  ihrer 


36 


Gottlosigkeit  und  Ungerechtigkeit  neben  der  Gottlosigkeit 
und  Ungerechtigkeit  dieses  Menschen?  Was  ist  schon  der 
fromme  Heide,  der  dort,  gewissermaßen  präludierend,  zu¬ 
nächst  ins  Auge  gefaßt  war,  neben  dem  frommen  Juden: 
dem  Mann  der  reinen,  der  nicht  willkürlichen,  sondern 
an  Gottes  eigenem  Wort  orientierten  Frömmigkeit  und 
Sittlichkeit?  „Daher“  sagt  Paulus  eben  zu  diesem  Mann, 
will  sagen:  eben  in  dem  und  weil  das  in  Kap.  1,  19  f. 
Gesagte  von  den  Heiden  gilt,  eben  von  dem  Ort  her,  von 
dem  her  es  von  jenen  gesagt  ist,  gilt  es  —  nicht  nur  auch 
dir,  sondern  gerade  dir.  Gerade  bei  dir,  gerade  in  deiner 
Mitte,  gerade  in  deinem  Sein  und  Tun  findet  jene  Offen¬ 
barung  des  Zornes  Gottes  über  alle  Gottlosigkeit  und  Un¬ 
gerechtigkeit  der  Menschen  statt.  Gerade  „durch  das  Ge¬ 
setz“,  d.  h.  durch  das,  was  dich  von  der  bösen  Welt  der 
Heiden  in  der  Tat  und  allen  Ernstes  unterscheidet  und 
ihr  gegenüber  auszeichnet,  kommt  es  zur  Erkenntnis,  zur 
objektiven  Darstellung  und  Feststellung  der  Sünde,  die 
der  Gegenstand  des  Zornes  Gottes  ist  —  so  wird  das  letzte 
Wort  unseres  Abschnittes  (Kap.  3,  20)  lauten.  Du  weißt 
nur  nicht,  daß  die  Kritik,  mit  der  du  die  andern  kritisierst, 
mit  der  du  die  ganze  heidnische  Welt  betrachtest  und  ver¬ 
urteilst,  gerade  indem  sie  richtig  ist,  —  du  hast  sie  ja 
aus  dem  Gesetz  —  vor  allen  anderen,  vor  der  ganzen 
Heidenwelt  dich  selber  trifft,  darum,  weil  eben  du  der 
Mann  bist,  der  das,  was  dort  getan  wird,  nicht  nur  auch 
tut,  sondern  zuerst  tut  (v.  1).  Daß  die  Heiden  mit  ihrem 
in  Kap.  1,  19  f.  geschilderten  Sein  und  Tun  unter  dem  Ge¬ 
richt  Gottes  stehen,  das  wissen  wir  und  du  hast  wohl 
recht,  wenn  du  das  auch  siehst  und  sagst  (v.  2).  Es  gibt 
aber  für  dich  viel  Dringlicheres  zu  sehen  und  zu  sagen. 
Das  Gericht  Gottes  erfolgt  nämlich  „der  Wahrheit  gemäß“. 
Paulus  wird  in  Vers  5  sagen:  es  ist  das  gerechte  Gericht 
Gottes  und  in  Vers  16  ganz  ausdrücklich:  es  erfolgt  „ge¬ 
mäß  meinem  Evangelium  durch  Jesus  Christus“ .  Er  ist 


37 


die  Wahrheit,  er  ist  die  Gerechtigkeit  Gottes.  Das  bedeutet 
nun  aber  nach  Vers  11:  Das  Gericht  Gottes  erfolgt  „ohne 
Ansehen  der  Person“,  womit  wörtlich  gemeint  ist:  so,  daß 
Gott  durch  jede  Maske  hindurch  auf  die  wirklichen  Ge¬ 
sichter  der  Menschen  sieht,  so  also,  daß  zwischen  dem  kri¬ 
tisierenden  Juden  und  den  kritisierten  Heiden  nicht  nur 
kein  Unterschied  besteht,  vielmehr  gerade  der  kritisierende 
Jude  als  der  zuerst  und  eigentlich  von  Gott  Verurteilte 
dasteht,  so  daß  die  Sünde  der  Heiden,  die  Sünden  der 
bösen  Welt  eigentlich  nur  eine  nachfolgende  Illustration 
zu  der  Sünde  des  Juden  sind:  so  gewiß  Gottes  Gesetz,  auf 
das  er  sich  beruft,  tatsächlich  in  seine  Hände  gelegt  ist,  so 
gewiß  seine  Verheißungen  und  Drohungen,  wie  in  Vers  9 
und  10  zweimal  scharf  betont  wird,  zuerst  ihn,  den  Juden 
und  dann  erst,  indirekt,  auch  den  Heiden  angehen.  Indem 
Jesus  Christus  der  Richter  ist,  sind  alle  Menschen  —  aber 
wie  sollte  es  anders  sein:  zuerst  gerade  die  Juden,  unter 
denen  er  aufstand,  nach  ihrem  Verhältnis  zu  dem  Ge¬ 
setz  gefragt,  nach  dem  er  richtet,  dessen  Vollstrecker  er  ist, 
sind  sie  also  nach  ihrem  Verhältnis  zu  ihm  gefragt.  Damit, 
daß  der  Jude  von  dem  in  Kap.  1,  19  f.  geschilderten  Sein 
und  Tun  des  Heiden  den  kritischen  Abstand  nimmt,  der 
da  allerdings  am  Platze  ist,  damit  kann  er  selbst  dem 
Gerichte  Gottes,  das  das  Gericht  Jesu  Christi  ist,  nicht  zu 
entrinnen  meinen:  er,  der  eben  das,  was  jene  tun,  zuerst 
und  eigentlich  tut  (v.  3).  Es  ist  nämlich  —  und  das  ist  es, 
was  er  nicht  übersehen,  nicht  verachten  sollte  —  der 
„Reichtum  der  Güte  und  der  Geduld  und  der  Langmut 
Gottes“,  es  ist  Gottes  Gnade  dem  Menschen  gegenüber, 
die  in  seinem  wahren  und  gerechten  Gericht  durch  Jesus 
Christus  auf  dem  Plane  ist  (v.  4).  Es  handelt  sich  nicht 
um  irgendeine  Verurteilung  des  Menschen,  sondern  um 
seine  Verurteilung  durch  das  Evangelium,  durch  die  gute, 
die  seine  Errettung  verkündigende  und  verbürgende  Bot¬ 
schaft,  daß  er  als  der  alte  gottlose  und  ungerechte  Mensch, 


38 


der  er  ist,  sterben  darf,  ja  in  Jesus  Christus,  in  seinem  Tod 
auf  Golgatha  schon  gestorben  ist,  um  nun,  wieder  in  Jesus 
Christus,  dem  Auferstandenen,  ganz  anders  und  neu  leben 
zu  dürfen.  Es  leitet  und  treibt  diese  Verurteilung  des 
Menschen  zur  Buße,  zur  Umkehr  seines  Denkens  und 
Seins.  So  trifft  sie  ihn,  den  Juden,  zuerst.  So  stellt  sie 
ihn  zuerst  unter  den  Zorn  Gottes.  Eben  an  diesem 
(nicht:  „auf  diesen“!)  wunderbar  heilsamen  Tag  des  Zor¬ 
nes  und  der  Offenbarung  des  gerechten  Gerichts  Got¬ 
tes  weiß  aber  der  Jude  —  und  er  verkennt  und  verachtet 
offenbar  den  gnadenvollen  Sinn  dieses  Tages,  des  Tages 
Jesu  Christi!  —  nichts  Besseres  zu  tun,  als  sich  selbst 
„Zorn  anzuhäufen“  (wörtlich:  Zorn  wie  einen  Schatz  zu 
sammeln)  —  damit  nämlich,  daß  er  sich  begnügt,  immer 
wieder  zu  sehen  und  zu  sagen,  wie  schlimm  es  die  Heiden 
treiben,  wie  ganz  anders  er  selbst  ihnen  gegenüber  dasteht 
(v.  5).  Der  Zorn  Gottes,  Gottes  Urteil  über  den  Menschen, 
daß  er  sterben  muß,  um  zu  leben,  ist  nämlich  nicht  zum 
Anhäufen,  nicht  zu  einer  selbständigen  Betrachtung  da, 
weder  sofern  er  den  Heiden,  noch  sofern  er  den  Juden  an¬ 
geht.  Und  wer  ihn  im  Blick  auf  andere  anhäuft,  der  häuft 
ihn  eben  damit  für  sich  selber  an.  Wer  im  Blick  auf  die 
anderen  beim  Todesurteil  stehen  bleibt,  der  besiegelt  eben 
damit  sein  eigenes.  Gottes  Urteil  müßte  zu  Ende  gehört 
werden,  wie  es  lautet:  daß  wir  sterben  müssen,  um  leben 
zu  dürfen  —  als  Urteil  der  Güte,  Geduld  und  Langmut 
Gottes  über  alle  menschliche  Gottlosigkeit  und  Ungerech¬ 
tigkeit.  Der  Jude  will  es  jedenfalls  im  Blick  auf  die  ande¬ 
ren  nicht  zu  Ende  hören  und  eben  damit  offenbart  er  die 
Verstocktheit  und  Unbußfertigkeit  seines  Herzens  ihm  ge¬ 
genüber  und  bleibt  er  selber  unter  ihm  stehen  als  unter 
seinem  Todesurteil.  Denn  (v.  6)  „Gott  vergilt  einem  Jeg¬ 
lichen  nach  seinen  Werken“.  Vor  dem  Richterstuhl  Jesu 
Christi  empfangen  wir  genau  das,  was  uns  zukommt,  je 
nach  dem  wir  in  unserem  Sein  und  Tun  solche  sind,  die 


39 


sein  Urteil  zu  Ende  oder  eben  nicht  zu  Ende  hören  wol¬ 
len,  um  daraufhin  dann  auch  seinen  Anfang:  daß  wir  als 
Sünder  unter  Gottes  Zorn  stehen  und  sterben  müssen, 
restlos  ernst  zu  nehmen  und  also  eben  auf  jenes  selige 
Ende  hin  ernstlich  Buße  tun.  In  unserer  Entscheidung 
der  offenbaren  Gnade  Gottes  gegenüber  stehen  und  fal¬ 
len  wir  damit,  daß  wir  sie  Gnade,  unverdiente  Wohltat 
Gottes  für  andere  und  für  uns  selbst  sein  oder  eben  nicht 
sein  lassen.  Der  Jude  beweist  mit  seiner  Kritik  der  Heiden, 
daß  er  nicht  Gnade  sein  lassen  will  und  daran  wird  gerade 
er,  er  zuerst,  zu  Schanden  kommen.  Das  ist  seine  Verken¬ 
nung  Gottes,  sein  Ungehorsam,  dem  gegenüber  sich  aller 
Götzendienst  und  alle  Unsittlichkeit  der  frommen  und  un¬ 
frommen  Heiden  wirklich  nur  wie  ein  schwaches  Spiegel¬ 
bild  ausnehmen.  Wie  das  ist,  wenn  Gott  einem  Jeglichen 
vergilt  nach  seinen  Werken,  das  wird  in  Vers  7—10  ent¬ 
faltet  im  Lichte  der  Feststellung  von  Vers  11:  daß  diesem 
Kriterium  Gottes  gegenüber  keine  Maske  —  und  die  ganze 
vermeintliche  Sonderstellung  der  Juden  ist  eine  Maske  — 
tauglich  ist,  daß  Gott  (v.  16)  gerade  bei  seiner  Beurteilung 
der  Werke  des  Menschen  ihre  Herzen  erforscht.  Vers  7 — 10 
variieren  den  einen  Gedanken:  zuerst  der  Jude,  dann 
auch  der  Grieche  ist  dem  Zorne  Gottes,  ist  seinem  Urteil, 
daß  der  Mensch  des  Todes  schuldig  ist  (Kap.  1,  32)  ver¬ 
fallen,  sofern  er  das  böse  Werk  der  Unbußfertigkeit,  sofern 
er  nicht  das  gute  Werk  der  Buße  wählt  und  tut.  Denn 
darum  geht  es  nach  dem  ganzen  Zusammenhang  und 
nach  dem  Wortlaut:  es  würde  sich  darum  handeln,  der 
Wahrheit  gehorsam  zu  werden  statt  der  Ungerechtigkeit 
(v.  8).  Es  würde  sich  also  darum  handeln,  Gottes  Gnade 
in  seinem  Gericht  als  Gnade  anzunehmen  und  eben  dar¬ 
um  auch  sein  Gericht  sich  gefallen  zu  lassen,  darum  Buße 
zu  tun.  Es  würde  sich  handeln  um  die  Beharrlichkeit  in 
diesem  guten  Werk  als  dem  rechten  Weg  zur  Herrlichkeit, 
zur  Ehre,  zur  Unvergänglichkeit  (v.  7).  Es  würde  sich  han- 


40 


dein  um  die  Treue  des  Glaubens,  der  in  Gottes  gerechtem 
Urteil  das  Wort  seiner  Barmherzigkeit  hört  und  annimmt. 
Wer  dieses  Werk  täte,  der  würde  Herrlichkeit,  Ehre  und 
Frieden  tatsächlich  erlangen  (v.  10).  Wer  aber  dieses  Werk 
nicht  tun  will,  wer  jene  Streitlust  (vielleicht:  Lohnarbei 
tergesinnung)  an  den  Tag  legt,  die  die  Haltung  der  Juden 
den  Heiden  gegenüber  kundgibt  und  in  dieser  Streitlust 
die  Unbußfertigkeit,  die  keine  Gnade  begehrt  und  die  sich 
darum  auch  nicht  beugen  mag,  was  kann  der  von  diesem 
Richterstuhl  anderes  erwarten,  als  eben  Zorn  und  Grimm, 
Trübsal  und  Angst  (v.  8 — 9)?  Er  hat  das  alles  schon  ge¬ 
wählt,  er  hat  sich  selbst  schon  gerichtet,  indem  er  in  dieser 
Verfassung  vor  diesen  Richterstuhl  gestellt  ist. 

Warum  hilft  es  dem  Juden  nichts,  sich  darauf  zu  be¬ 
rufen,  daß  er  und  er  allein  doch  das  Gesetz  Gottes  habe, 
kenne  und  halte?  Es  hilft  ihm  nach  Vers  12 — 16  darum 
nichts,  weil  Gott  —  der  Gott,  der  jetzt  in  Jesus  Christus 
sein  Urteil  über  den  Menschen  spricht  —  die  Herzen  er¬ 
forscht.  Daraus  folgt,  daß  die,  die  das  Gesetz  haben,  und 
die,  die  es  nicht  haben,  vor  derselben  Frage  stehen:  Tun 
sie  oder  tun  sie  nicht,  was  gerade  das  Gesetz  fordert?  Tun 
sie  es  nicht,  so  sind  sie  mit  dem  Gesetz  ebenso  verloren 
wie  ohne  das  Gesetz  (v.  12).  Es  geht  im  Gericht  Jesu 
Christi  nicht  darum,  ein  Hörer,  sondern  ein  Täter  des  Ge¬ 
setzes  zu  sein  (v.  13).  Und  es  gibt  (v.  14 — 15)  Täter  des 
Gesetzes,  die  durchaus  nicht  im  Sinn  der  Juden  auch  seine 
Hörer  sind.  Es  gibt  nämlich  Menschen,  denen  sein  Gesetz 
in  wunderbarer  Erfüllung  der  Verheißung  von  Jer.  31,  33 
in  ihr  Inneres  gelegt  und  in  ihre  Herzen  geschrieben,  ja 
denen  er  in  Erfüllung  von  Hesek.  11,  19;  36,  26  ein  neues 
Herz  gegeben  hat,  so  daß  sie  nun  sich  selber  Gesetz  sind 
und  in  ihrer  menschlichen  Natur,  ohne  das  Gesetz  zu  haben, 
tun,  was  das  Gesetz  fordert,  deren  Gewissen  die  Stätte  ist, 
da  die  Verbote  und  Gebote  des  Gesetzes  mit  ihren  Anklagen 
und  Rechtfertigungen  sich  gegenüberstehen  in  Form  ihrer 


41 


eigenen  Gedanken:  obwohl  sie  das  Gesetz  nicht  haben,  ob¬ 
wohl  sie  von  Natur  Heiden  sind.  Paulus  wird  in  Vers  26  f. 
nochmals  auf  diese  merkwürdigen  Täter  des  Gesetzes,  die 
es  doch  so  wie  die  Juden  nicht  gehört  haben,  auf  diese 
Beschnittenen  ohne  Beschneidung  zurückkommen.  Es  war 
schon  im  Blick  auf  diese  andere  Stelle  in  diesem  Kapitel, 
aber  auch  im  Blick  auf  jene  Prophetenworte,  auf  die  hier 
offenbar  Bezug  genommen  ist,  sehr  töricht,  wenn  man  ge¬ 
meint  hat,  daß  Paulus  in  Vers  14 — 15  von  irgendwelchen 
Heiden  geredet  habe,  die  auf  Grund  eines  ihnen  in  die  Her¬ 
zen  geschriebenen  sittlichen  Naturgesetzes  das  Gesetz  fak¬ 
tisch  erfüllten.  Zu  dem,  was  in  Kap.  1, 19 — 32  über  das  Sein 
und  Tun  der  Heiden  gesagt  ist  und  zu  Kap.  3,  9  und  3,  19 
würde  das  offenbar  ebenso  schlecht  passen  wie  die  Deutung 
von  Kap.  1,  19 — 21  auf  eine  den  Heiden  eigene  natürliche 
Gotteserkenntnis.  Die  Heiden,  die  Paulus  in  Vers  1 4 — 15  den 
Juden  gegenüberstellt,  sind  ganz  einfach  die  Yleidencbristen 
(Paulus  hat  sie  z.  B.  in  Kap.  11,  13;  15,  9  ebenfalls  in  die¬ 
ser  verkürzenden  Weise  angeredet),  denen  durch  Gottes 
Wundertat  in  Jesus  Christus  eben  das  widerfahren  ist, 
was  in  jenen  Prophetenworten  dem  Volk  Israel  zugesagt 
war,  denen  Gott  seinen  Heiligen  Geist  und  damit  ein 
neues  Herz  gegeben  hat,  das  Gottes  Willen  erkennt, 
und  zwar  so  erkennt,  daß  sie  ihn  nun  auch  tun  und 
vollstrecken  dürfen,  so  daß  sie  jetzt  —  eine  allerdings  un¬ 
geheuere  Umkehrung  —  den  Israeliten,  sofern  diese  nicht 
denselben  Weg  geführt  wurden,  sofern  sie  noch  da  drüben 
in  der  widerstrebenden  Synagoge  versammelt  sind,  gegen¬ 
überstehen  als  Bestätigung  der  Anklage:  gerade  dort  wird 
Gottes  Gesetz  zwar  gelesen,  aber  nicht  getan,  weil  dort  das 
gute  Werk  der  Buße  nicht  getan,  weil  dort  die  Gnade  nicht 
als  Gnade  gelten  gelassen,  sondern  gelästert  wird. 

Es  hilft  aber,  so  wird  jetzt  in  Vers  17 — 24  weiter  gezeigt, 
dem  Juden  auch  das  nichts,  daß  er  sich  um  das  geschrie¬ 
bene  Gesetz  Gottes,  um  das  Halten  der  10  Gebote  insbe- 


42 


sondere  zweifellos  bemüht,  daß  er  den  „sittlich-ethisch¬ 
moralischen  Standpunkt“  (wie  in  Vers  17 — 20  ausführlich 
beschrieben)  in  Theorie  und  Praxis  zweifellos  einnimmt 
und  als  solchen  eindeutig  sichtbar  macht.  Es  ist  wohl  Iro¬ 
nie  in  diesen  Worten,  aber  doch  nicht  nur  Ironie,  sondern 
ernste  Anerkennung  der  den  Juden  in  der  heidnischen 
Hauptstadt  und  in  der  heidnischen  Welt  überhaupt  tat¬ 
sächlich  gegebenen  Stellung  und  Mission.  Israel  ist  ja  nach 
so  manchem  Wort  des  Alten  Testamentes  das,  als  was  es 
hier  beschrieben  wird:  „ein  Führer  der  Blinden,  ein  Licht 
derer,  die  in  der  Finsternis  sind,  ein  Lehrer  der  Unmündi¬ 
gen“.  Es  hat  in  seinem  Gesetz  tatsächlich  „die  Verkörpe¬ 
rung  (die  Gestalt)  der  Erkenntnis  und  der  Wahrheit“.  Aber 
doch  nur  deren  Gestalt  und  bei  allem  Eifer,  in  dieser  Ge¬ 
stalt  zu  leben,  nicht  die  Erkenntnis  und  die  Wahrheit  sel¬ 
ber.  Denn  die  Erkenntnis  und  die  Wahrheit,  der  Inbegriff 
und  die  Summe  des  Gesetzes  ist  (vgl.  Kap.  10,  4)  Jesus 
Christus.  In  ihrem  Verhältnis  zu  ihm  aber  sind  die  Juden 
nidit  nur  keine  Täter  des  Gesetzes  (v.  12 — 16),  sondern 
seine  Übertreter  (v.  23),  brechen  sie  alle  10  Gebote,  er¬ 
füllen  sie  also  jene  erhabene  Funktion  Israels  in  der  Welt 
gerade  nicht,  machen  sie  Gott  nicht  Ehre,  sondern  bereiten 
sie  ihm  —  und  das  ist  in  Hesek.  36,  20  von  ihnen  ge- 
weissagt  —  Schande  unter  den  Heiden.  Man  muß  die 
Schilderung  in  Vers  21 — 22  wohl  wörtlich,  aber  nicht  etwa 
als  eine  Schilderung  besonderer  Greueltaten  oder  schlech¬ 
ter  Gewohnheiten  verstehen,  die  Paulus  dem  zeitgenössi¬ 
schen  Judentum  vorzuwerfen  hatte.  Diebe,  Ehebrecher, 
Tempelschänder  sind  die  Juden  in  dem,  was  sie  mit  Jesus 
Christus  gemacht  haben  an  dem  Tag  von  Golgatha  und 
nun  trotz  seiner  Auferstehung  immer  noch  mit  ihm  ma¬ 
chen  in  der  Ablehnung  der  frohen  Botschaft  von  der  in 
ihm  erschienenen  Gnade  in  der  Verfolgung  der  diese  Gnade 
preisenden  Gemeinde.  Wer  hat  seinen  Messias  und  mit 
ihm  seinen  Gott  den  Heiden  ausgeliefert?  Und  wer  wieder- 


43 


holt  das  immer  wieder?  Daß  der  Jude  sich  dessen  schuldig 
gemacht  hat  und  noch  macht,  das  raubt  ihm  —  und  ihm, 
wie  gerade  hier  ersichtlich,  zuerst  —  die  Möglichkeit,  vor 
Gott  eine  Ehre  zu  haben,  die  ihn  gegenüber  der  alle  Men¬ 
schen  angehenden  Anklage  entschuldigen  würde. 

Und  nun  hilft  dem  Juden  (v.  25 — 29)  auch  seine  Be¬ 
schneidung  nichts  und  nichts  seine  damit  physisch  bezeich- 
nete  Aussonderung  von  den  Heidenvölkern.  Denn  die  Be¬ 
schneidung  bezieht  sich  auf  das  Gesetz.  Sie  bezeichnet  die 
Aussonderung  zum  Halten  des  Gesetzes.  Wird  das  Gesetz 
aber  nicht  gehalten  —  und  es  wird  von  den  Juden,  wie 
gezeigt,  faktisch  nicht  gehalten,  sondern  gebrochen  —  fällt 
also  jene  Aussonderung  faktisch  dahin,  befinden  sie  — 
und  sie  zuerst  —  sich  dort,  wo  sich  die  Heiden  befinden: 
als  Gottlose  und  Ungerechte  unter  dem  Zorne  Gottes,  dann 
kann  daran  auch  das  Zeichen  der  Beschneidung  nichts 
ändern  (v.  25).  Wieder  sind  dann  die  Juden  faktisch  be¬ 
schämt  durch  die  Existenz  von  Unbeschnittenen,  welche, 
indem  sie  Buße  tun  und  glauben,  die  Forderungen  des 
Gesetzes  halten  und  erfüllen  und  deren  Unbeschnittenheit 
ihnen  daraufhin  als  Beschnittenheit  angerechnet  wird,  wel¬ 
che  also  daraufhin  in  Gottes  Augen  und  damit  in  Wirk¬ 
lichkeit  Israels  und  aller  Verheißung  Israels  teilhaftig  sind 
(v.  26).  Die  Existenz  dieser  von  Natur  Unbeschnittenen  — 
Paulus  redet  wieder  von  den  Heidenchristen  —  wiederholt 
jetzt  das  Urteil  über  die  Beschnittenen,  die  es  offenbar  nur 
äußerlich,  nur  dem  Buchstaben  nach  sind  (v.  27).  Denn 
wer  ist  eigentlich  —  vor  Gott  und  also  in  Wirklichkeit  — 
ein  Jude,  ein  Kind  Abrahams,  ein  Angehöriger  des  Volkes 
des  Mose,  ein  Erbe  der  Verheißungen  Davids?  Nicht  der, 
der  es  nach  Rasse  und  Blut  und  nicht  der,  der  es  auf 
Grund  der  an  seinem  Leibe  vollzogenen  Beschneidung, 
kurz,  nicht  der,  der  es  „offenkundig“  in  den  Augen  und 
in  der  Meinung  der  Menschen  ist  (v.  28),  sondern  der,  der 
es  ist  in  der  Verborgenheit  des  Herzens,  in  die  Gott  sieht 


44 


und  im  Blick  auf  die  Gott  richtet  und  sondert  zwischen 
Reinen  und  Unreinen,  zwischen  denen,  die  die  Seinen  und 
denen,  die  nicht  die  Seinen  sind.  Der  Jude  würde  als 
solcher  zu  loben  sein,  der  in  jener  Verborgenheit  nicht 
menschliches  sondern  göttliches  Urteil  lobenswert  finden 
und  tatsächlich  loben  würde  (v.  29).  Aber  das  würde  ja 
der  Christ  sein  —  gleichviel,  ob  aus  den  Heiden  oder  aus 
den  Juden:  der  Christ,  der  Gottes  Gnade  preist  und  dar¬ 
um  sein  Gericht  annimmt,  darum  vor  der  göttlichen  Ver¬ 
urteilung  nicht  auf  der  Flucht  ist,  darum  sich  ihr  gegen¬ 
über  nicht  zu  retten  sucht,  sondern  sich  ihr  preisgibt,  um 
sich  der  Barmherzigkeit  dessen  zu  rühmen,  der  ihn  zum 
Tode  verurteilt.  Der  Jude,  der  sich  entschuldigen  will, 
weil  er  sich  für  eine  Ausnahme  hält,  tut  das  nicht.  Eben 
darum  fehlt  ihm  jenes  Lob  und  eben  darum  ist  und  bleibt 
gerade  er  gänzlich  unentschuldigt  (v.  1). 

Wir  haben  es  in  der  Fortsetzung  Kap.  3,  1 — 8  mit  einer 
Reihe  von  Bemerkungen  zu  tun,  die  gewissermaßen  Zwi¬ 
schenrufe,  die  sich  hier  einstellen  könnten  und  zur  Zeit 
des  Paulus  wohl  tatsächlich  alle  irgendwie  eingestellt  haben, 
nebst  den  kurzen  Antworten  des  Paulus  zur  Sprache 
kommen,  wobei  es,  bis  Vers  9  der  Faden  wieder  aufge¬ 
nommen  wird,  kaum  möglich  ist,  einen  eigentlichen  Ge¬ 
dankengang  aufzuzeigen. 

Vers  1 — 2:  Hat  denn  das  Judentum  und  die  Beschnei¬ 
dung  gar  keinen  Wert,  keine  reale  und  bleibende  Aus¬ 
zeichnung?  Paulus  antwortet,  daß  dies  das  größte  Mi߬ 
verständnis  wäre.  Die  Juden  sind  und  bleiben  das  Volk, 
dem  die  Worte,  die  Offenbarungen  Gottes,  bis  und  mit  der 
Person  Jesu  Christi  selbst  anvertraut  wurden  und  anver¬ 
traut  bleiben,  bei  dem  also  die  Heiden,  indem  sie  zum 
Glauben  kommen,  immer  nur  gleichsam  zu  Gaste  sein 
können.  Es  bleibt  dabei:  „Das  Heil  kommt  von  den  Judenc< 
(Joh.  4,  22). 


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Vers  3 — 4:  Bedeutet  die  Tatsache,  daß  einige  (es  sind 
sehr  viele!)  der  Juden  jetzt  nicht  glauben,  nicht  eine  Auf¬ 
hebung  der  Treue  Gottes?  Warum  hat  der  treue  Gott 
nicht  einfach  alle  Glieder  seines  Volkes  zu  Getreuen  ge¬ 
macht?  Paulus  antwortet:  Die  Treue  Gottes  kann  nicht 
aufgehoben  werden.  Sie  ist  aber  die  Treue  seiner  Wahr¬ 
heit,  d.  h.  seiner  Offenbarung,  der  gegenüber  jeder  Mensch 
als  solcher  als  ein  Blinder  oder  vielmehr  aktiv:  als  ein 
Lügner  dasteht.  Gott  ist  also  keinem  verpflichtet,  an  kei¬ 
nen  gebunden,  auch  nicht  an  die  Glieder  seines  Volkes. 
Gibt  es  in  diesem  Volk  Widerspruch  gegen  ihn,  Abfall  von 
ihm,  dann  zeigt  sich  darin  nur  um  so  gewaltiger,  daß  es 
seine  Gnade  ist,  wenn  es  auch  Glaubende  gibt,  daß  er  in 
seinem  Richten  gerade  sich  selbst  —  nur  danach  kann  doch 
gefragt  werden!  —  treu  bleibt,  sofern  es  immer  nur  seine 
Barmherzigkeit  sein  wird,  deren  sich  die  durch  ihn  Ge¬ 
rechtfertigten  rühmen  können  (Paulus  wird  auf  diese  zwei 
ersten  Fragen  in  den  Kapiteln  9—11  ausführlich  zurück¬ 
kommen). 

Vers  5 — 6:  Ist  es  aber  so,  wie  Vers  3 — 4  behauptet: 
warum  und  mit  welchem  Recht  zürnt  dann  Gott  über 
die,  die  ihm  den  Gehorsam  des  Glaubens  nicht  leisten? 
Paulus  antwortet:  Gott  ist  und  bleibt  der  Weltrichter,  ob¬ 
wohl  und  indem  er  auch  und  gerade  die  Ungerechtigkeit 
der  Menschen  dazu  dienen  läßt,  seine  Gerechtigkeit  als 
solche,  seine  Treue  gegen  sich  selbst  und  also  seine  Gnade 
zu  offenbaren.  Tötet  er,  um  lebendig  zu  machen,  so  kann 
es  doch  nicht  anders  sein,  als  daß  er  immer  tötet,  um  leben¬ 
dig  zu  machen.  Wer  dürfte  und  könnte  sich  gegen  Gott 
auf  Gott  berufen? 

Vers  7 — 8:  Eine  verschärfte  Wiederholung  der  voran¬ 
gehenden  Frage:  Also  die  Wahrheit,  die  Offenbarung 
Gottes  wird  erhöht,  sie  triumphiert  gerade  durch  das 
Mittel  der  menschlichen  Lüge,  von  der  sie  sich  in  der 
Rechtfertigung  der  Glaubenden  strahlend  abhebt?  Pau- 


46 


lus  hat  in  Kap.  5,  20  tatsächlich  geschrieben:  „Wo  die 
Sünde  groß  wurde,  da  eben  ist  die  Gnade  übergroß  ge¬ 
worden.“  So  dient  also  meine  Lüge  diesem  Übergroßwer¬ 
den,  diesem  Strahlen  der  Gnade  und  also  der  Ehre  Gottes? 
Warum  stehe  ich  dann  unter  dem  Gericht?  Haben  die 
nicht  recht,  denken  die  nicht  konsequent,  die  daraus  ma¬ 
chen:  „Lasset  uns  Böses  tun,  damit  Gutes  daraus  werde?“ 
Die  Antwort  des  Paulus  ist  gerade  hier  so  kurz  wie  die 
Frage  lang  ist.  „Derer  (die  so  reden)  Verdammnis  ist  als 
gerechte  (Verdammnis)  fällig“.  Warum  so  kurz?  Weil  man 
Narren  und  ganz  besonders  konsequenten  Narren  nur 
kurz  antworten  kann  und  soll.  Und  in  jener  langen  Frage 
ist  Alles  Narrheit,  Alles  verkehrt:  Das,  was  Paulus  in 
dem  ganzen  Abschnitt  das  Böse  genannt  hat,  die  Unbu߬ 
fertigkeit,  die  Verwerfung  Jesu  Christi,  der  Unglaube,  das 
kann  man  offenbar  nicht  tun,  damit  Gutes  daraus  werde, 
damit  darin  die  Gnade  triumphiere!  Und  wer  umgekehrt 
den  Triumph  der  Gnade  will,  der  wird  offenbar  das  Gute 
und  nicht  das  Böse  wollen,  der  wird  nicht  lügen,  sondern 
Buße  tun  und  damit  der  Wahrheit  gehorsam  sein.  Was 
Gott  mit  der  Lüge  und  mit  dem  Lügner  macht,  ist  seine 
Sache.  Wir  aber  sind  von  Gott  nicht  aufgerufen,  zu  lügen, 
sondern  der  Wahrheit  und  so  ihm  die  Ehre  zu  geben. 

Und  nun  die  Zusammenfassung  des  Ganzen  in  Vers  9 — 20 : 
Es  gibt  dem  Gericht  Gottes  gegenüber  keinen  Vorzug 
eines  Menschen.  Es  sind  Juden  und  Heiden,  es  sind  die 
Menschen  als  solche  alle  unter  der  Sünde,  d.  h.  unter  der 
Herrschaft,  unter  der  sie  Gegenstand  des  Zornes  Gottes 
sein  und  bleiben  müssen.  Das  ist  es,  was  das  Ganze,  gerade 
in  den  Händen  der  Juden  befindliche  Alte  Testament,  das 
nun  in  Vers  11 — 18  in  einer  langen  Reihe  von  einzelnen 
Worten  zur  Sprache  kommt,  zu  dieser  Sache  zu  sagen  hat. 
Man  muß  zum  Verständnis  aller  dieser  Sprüche  bedenken, 
daß  Paulus  in  ihnen  nicht  nur  diesen  und  jenen  Prophe- 


47 


ten  und  Psalmisten,  sondern  überall  Jesus  Christus  selber 
reden  hört  als  den,  der  vom  Alten  Testament  bezeugt  ist 
und  der  im  Alten  Testament  durch  die  Stimme  der  Väter 
Zeugnis  von  sich  selber  gibt.  Er  richtet.  Sein  Gesetz  ist  das 
Gesetz,  von  dem  Vers  19  sagt,  daß  es  zu  allen  rede,  die 
unter  dem  Gesetz  sind,  d.  h.  an  die  es  sich  richtet,  denen  es 
begegnet.  Es  begegnet  im  Evangelium  der  ganzen  Welt  und 
eben  darum  und  insofern  wird  durch  das  Gesetz,  genauer 
gesagt:  durch  den  Richter,  der  das  Gesetz  anwendet  und 
vollzieht,  jeder  Mund  gestopft,  die  ganze  Welt  vor  Gott 
schuldig  erklärt.  Vor  dem  Gesetz  Gottes  als  solchem  und 
für  sich  steht  nach  Vers  20  alles  Fleisch,  die  ganze  Mensch¬ 
heit  ungerechtfertigt  da  mit  allen  ihren  Werken.  Eine 
andere,  eine  radikal  erneuerte  Menschheit  müßte  das  sein, 
die  mit  ihren  Werken  vor  Gott  und  seinem  Gesetz  gerecht¬ 
fertigt  dastehen  würde.  Paulus  hat  in  Kap.  2  (v.  14 — 15 
und  26 — 29)  bereits  angedeutet,  daß  es  eine  solche  neue 
Menschheit  gibt  und  wo  sie  zu  finden  ist.  Sieht  er  von  dieser 
Möglichkeit,  vielmehr  von  dieser  neuen  Wirklichkeit  (Kap. 
3,  21  f.!)  ab,  dann  muß  es  dabei  bleiben:  was  durch  das  Ge¬ 
setz,  was  aus  dem  Evangelium  selbst,  sofern  es  Gottes  Ge¬ 
setz  ist,  folgt,  das  ist  (v.  20)  die  Erkenntnis  der  Sünde:  die 
Offenbarung  der  göttlichen  Verurteilung  des  Menschen,  der 
uns  als  solcher  zu  unterwerfen  uns  zu  unserem  Heil  ge¬ 
boten  und  zu  unserem  reichen  Trost  erlaubt  ist. 


48 


3,21—4,  25 


Das  Evangelium  als  göttliche  Gerecht¬ 
sprech  ung  der  Glaubenden 


Uns  ist  es  zu  unserem  Heil  erlaubt  und  zu  unserem 
reichen  Trost  geboten,  uns  der  göttlichen  Verurteilung  zu 
unterwerfen,  weil  es  ja  das  Evangelium  ist,  das  uns  sol¬ 
chen  Zorn  Gottes  offenbart.  Es  ist  ja  dieser  Zorn  Gottes 
doch  nur  die  harte,  bittere  Schale,  in  der  wir  Gottes  Rechts¬ 
entscheidung  freilich  entgegennehmen  müssen  —  und  nun 
doch  auch  wirklich  dürfen!  Denn  für  die,  die  sie  entgegen¬ 
nehmen,  ist  gerade  sie  das  allmächtige  Werk  ihrer  Er¬ 
rettung  (Kap.  1,  16).  Wozu  die  göttliche  Verurteilung  des 
Menschen  in  Kap.  1,  18 — 3,  20,  jene  Anklage  gegen  Alle 
und  Jeden  (Kap.  3,  9),  jenes  Verstopfen  jedes  rechthaberi¬ 
schen  Mundes  (Kap.  3,19),  jene  Aufdeckung  der  Sünde  durch 
die  Anwendung  des  Gesetzes  Gottes  (Kap.  3,  20)?  Was  will 
der  Richter  Jesus  Christus,  indem  Juden  und  Griechen 
ohne  Ausnahme  vor  seinem  Stuhl  solches  widerfährt?  Und 
was  wollte  Paulus,  indem  er  in  jenem  ersten  Teil  des 
Römerbriefes  an  dieses  Gericht  erinnerte?  Es  geht,  so  wer¬ 
den  wir  nun  in  der  Fortsetzung  hören,  gerade  in  diesem 
Bericht  nicht  um  die  Verwerfung  der  Menschen,  sondern 
wirklich  um  ihre  Errettung,  um  Heil  und  Seligkeit.  Um  sie 
zu  empfangen,  stehen  wir  vor  diesem  Richter  und  um  uns 
zu  diesem  fröhlichen  Empfangen  einzuladen  und  aufzu¬ 
fordern  hat  Paulus  uns  an  das  Gericht  dieses  Richters  er¬ 
innert. 

Aber  wie?  Haben  denn  die  Menschen  ihre  Verwerfung 
nicht  verdient?  Ist  ihre  Verurteilung  nicht  vollzogen?  Ist 


49 


etwas  anderes  als  die  Vollstreckung  des  Zornes  Gottes  in 
ihrer  Bestrafung  jetzt  noch  zu  erwarten?  Wird  Paulus 
von  etwas  anderem  als  von  Tod  und  Hölle  (Kap.  1,  32) 
jetzt  noch  reden  können?  Oder  war  jene  Verurteilung 
vielleicht  so  ernsthaft  gar  nicht  gemeint?  Ist  sie  irgendwie 
zurückgenommen?  Hat  Gott  nachträglich  mit  sich  reden, 
sich  etwas  abmarkten  lassen  aus  irgend  einer  launischen 
Güte?  Besteht  darin  die  Liebe  Gottes:  daß  es  so  gefährlich 
nicht  ist  mit  seinem  Zorn,  wie  es  zuerst  wohl  aussehen 
mag,  daß  er  in  Wirklichkeit  auch  anders  kann?  Sollte  das 
das  Geheimnis  des  Evangeliums  sein,  der  gute  Kern  in  der 
harten  Schale:  es  ist  nicht  so  gefährlich,  Gott  kann  auch 
anders? 

Die  Fortsetzung  unseres  Briefes  redet  nun  aber  weder 
davon,  wie  die  Menschen  von  Gottes  Zorn  verdientermaßen 
verzehrt  und  vernichtet  werden,  noch  von  einer  solchen  in 
ihrer  Weichheit  sehr  verdächtigen  Liebe  und  Güte  Gottes. 
Sie  redet  vielmehr  weiter  und  nun  erst  recht  von  Gottes 
Rechtsentscheidung.  Man  merke  wohl:  nicht  von  ihrer  Sus¬ 
pendierung,  nicht  von  einer  Amnestie,  nicht  von  einem 
Gnadenerlaß,  sondern  von  Gottes  Rechtsentscheidung,  so 
wie  sie  wirklich  vollzogen  ist  und  vollständig  lautet  und 
wie  der  Mensch  sie  auch  hören  und  verstehen  darf, 
wenn  er  sie  nur  annimmt,  wenn  er  sie  nur  wirklich  auf 
sich  bezieht,  sich  selbst  nicht  für  eine  Ausnahme  hält,  den 
sie  nicht  angehe.  Sie  lautet  nämlich,  wie  Jeder  hören  kann, 
der  sie  vollständig  hört  und  vollständig  auf  sich  bezieht  — 
Jeder,  der  glaubt,  hat  Paulus  schon  in  Kap.  1,  17  gesagt 
und  wird  er  jetzt  wieder  sagen  —  dahin,  daß  er  nicht  ver¬ 
dammt,  auch  nicht  irgend  einer  bloßen  Amnestie  teilhaftig 
gemacht,  sondern  von  Gott  freigesprochen,  für  unschuldig 
erklärt  und  also  gerecht  gesprochen  ist.  Weil  gerecht  ge¬ 
sprochen,  darum  und  damit  in  den  Frieden  mit  Gott  ver¬ 
setzt,  so  wird  dann  in  Kap.  5,  1  f.  weiter  gezeigt  werden. 
Zunächst  aber  ist  dies  zu  verstehen:  gerecht  gesprochen 


50 


in  Gottes  strengem,  wahrhaftigem,  die  Herzen  erforschen¬ 
dem  und  kein  Ansehen  der  Person  kennendem  Gerichte. 
Es  war  die  ganze  lange,  harte  Stelle  in  Kap.  1,  18 — 3,  20 
eine  einzige  Erklärung  der  Tatsache:  Du  bist  der  Mann! 
—  der  Mann  nämlich,  der  von  Gottes  Rechtsentscheidung 
betroffen  ist  und  sich  selbst  als  betroffen  erkennt,  wer  es 
also  annimmt:  Ja,  ich  bin  der  Mann!,  der  soll  jetzt  weiter 
hören:  Du  bist  der  Mann,  den  Gott  gerecht  gesprochen 
hat!  Und  der  soll  jetzt  wieder  antworten:  Ja,  ich  bin  dieser 
Mann!,  ich  darf  es  und  ich  will  es  auch  sein.  Daß  das  der 
gute  Kern  in  der  harten  Schale  ist,  davon  redet  der  Ab¬ 
schnitt  in  Kap.  3,  21 — 4,  25.  Er  redet  vom  Evangelium  als 
der  göttlichen  Gerechtsprechung  der  Glaubenden. 

Der  Beginn  von  Vers  21  erinnert  uns  sofort  an  Kap.  1,17: 
Gottes  Gerechtigkeit  ist  offenbar  gemacht.  Aber  der  grie¬ 
chische  Ausdruck,  den  Paulus  hier  braucht,  ist  ein  anderer, 
speziellerer,  der  weniger  von  dem  Enthülltwerden  als  von 
dem  Sichtbarwerden  eines  bis  jetzt  Verborgenen  redet.  Und 
Paulus  fügt  ja  auch  im  Unterschied  zu  Kap.  1,  17  hinzu: 
„Ohne  Zutun  (eigentlich:  außerhalb)  des  Gesetzes“.  Und  er 
sagt  am  Anfang:  „Jetzt  aber“.  Dieses  „Jetzt  aber“  stellt 
die  in  Kap.  1, 18 — 3,20  beschriebene  Off enbarung  der  gött¬ 
lichen  Rechtsentscheidung  in  Gegensatz  eben  zu  der  fal¬ 
schen  Meinung,  die  nach  jener  Schilderung  aus  einem 
falschen  jüdischen  oder  heidnischen  Denken  sich  erheben 
könnte:  als  ob  jetzt  nur  entweder  unsere  Verdammung 
oder  ein  weichliches  Verzeihen  Gottes  Platz  greifen 
könnte.  Nein,  jetzt  ist  gerade  Gottes  Rechtsentscheidung 
als  solche  als  Akt  seiner  Gerechtigkeit,  der  nun  doch  nicht 
unsere  Verdammnis  bedeutet,  sichtbar  geworden.  Man  be¬ 
merke,  wie  in  Vers  25 — 26  daran  festgehalten  wird  und 
wie  der  Begriff  der  Gerechtigkeit  den  Schluß  des  dritten 
Kapitels  und  dann  das  ganze  vierte  Kapitel  auch  sonst 
beherrscht:  es  geht  um  den  Erweis  der  Gerechtigkeit  Got- 


51 


tes,  aber  eben  um  ihren  Erweis ,  um  das  Sichtbarwerden 
des  wirklichen  vollständigen  Inhalts  seiner  Rechtsentschei¬ 
dung,  durch  das  jene  falschen  Meinungen  zum  vornherein 
zunichte  gemacht  werden.  Die  Worte  „außerhalb  des  Ge¬ 
setzes“  stecken  zunächst  einmal  einen  leeren  Raum  ab. 
Was  sie  positiv  bedeuten,  kann  erst  nachher  sichtbar  wer¬ 
den.  Blicken  wir  voraus  auf  Vers  31,  so  ist  das  ganz 
sicher:  sie  können  nicht  bedeuten,  daß  das  Gesetz  aufge¬ 
hoben,  zerbrochen,  außer  Kraft  gesetzt  ist.  Wenn  irgend¬ 
wo,  so  sagt  Paulus  dort,  dann  wird  das  Gesetz  durch  das, 
was  wir  jetzt  von  Gottes  Rechtsentscheidung  auf  Grund 
seiner  Offenbarung  zu  sagen  haben,  in  Kraft  und  Geltung 
gesetzt.  Wir  sollen  aber  —  und  das  sagen  die  Worte  „außer¬ 
halb  des  Gesetzes“  —  um  diese  Rechtsentscheidung  zu 
verstehen,  nicht  auf  das  Gesetz  sehen,  d.  h.  nicht  auf  das, 
was  Gott  von  Menschen  will  und  fordert  und  nicht  auf 
unser  Tun,  mit  welchem  wir  alle  es  nach  Kap.  1,  18 — 3,  20 
nicht  erfüllen.  Wir  sollen  das,  was  das  Evangelium  in 
Einklang  mit  Mose  und  den  Propheten  hinsichtlich  des 
Gesetzes  allerdings  auch  zu  sagen  hat,  (und  also  zu  sagen 
hat  von  unserer  notwendigen  Verurteilung!),  als  Zeugnis 
verstehen,  durch  das  wir  auf  den  Kern  der  Sache,  wie 
in  Kap.  1,  18 — 3,  20  geschehen  ist,  hingeleitet,  vorbereitet, 
durch  das  wir  zum  Hören  des  vollen  Gehaltes  jener  Rechts¬ 
entscheidung  aufgerufen  werden.  Was  aber  ist  dieser  ihr 
eigentlicher  voller  Gehalt?  Es  ist  (v.  22)  die  durch  den 
Glauben  an  Jesus  Christus ,  d.  h.  durch  die  Botschaft  von 
diesem  Glauben  und  für  den  Glauben  an  diese  Botschaft 
offenbarte  und  wirksame  und  so  zu  jedem  Glaubenden 
kommende  Rechtsentscheidung.  Auf  ihn  und  nicht  auf  das, 
was  Gott  von  uns  verlangt  und  fordert,  noch  auf  unser 
dieser  Forderung  so  gar  nicht  entsprechendes  Tun  sollen 
wir  sehen,  um  sie  zu  verstehen.  Wir  sollen  auf  den  Richter 
selbst  sehen.  Wollten  wir  von  ihm  weg,  an  ihm  vorbei¬ 
sehen,  dann  bekämen  wir  nur  das  zu  sehen  (v.  23),  was 


52 


nach  Kap.  1,  18 — 3,  20  freilich  unleugbare  Wirklichkeit  ist: 
„Da  ist  kein  Unterschied,  sie  alle  haben  gesündigt  und  er¬ 
mangeln  der  Ehre  vor  Gott“.  Aber  wir  sollen  eben  nicht 
an  ihm  vorbei,  wir  sollen  nicht  auf  das  Gesetz  sehen,  sonst 
würden  wir  ja  Gottes  Rechtsentscheidung  gerade  nicht  so 
annehmen  und  von  dorther,  woher  sie  kommt  auf  uns  be¬ 
ziehen,  wie  sie  lautet.  Wollten  wir  auf  das  Gesetz  sehen, 
so  wären  wir  nach  Kap.  1, 18 — 3,  20  noch  einmal  zu  fragen: 
ob  wir  es  noch  nicht  verstanden  haben,  daß  wir  verurteilt, 
daß  wir  gar  nicht  in  der  Lage  sind,  dem  Gesetz  ins  Auge 
zu  sehen  und  uns  an  ihm  zu  messen?  Wir  sollen  und 
dürfen  also  statt  dessen  „außerhalb  des  Gesetzes“  den 
Richter  ansehen  und  aus  seinem  Munde  hören,  daß  eben 
die,  die  laut  des  von  ihm  verkündigten  und  angewendeten 
Gesetzes  Sünder  sind  und  vor  Gott  keine  Ehre  haben 
(v.  24),  indem  sie  sich  an  ihn  halten,  indem  sie  an  ihn 
glauben,  gerecht  gesprochen  sind.  Das  ist  nun  allerdings 
reines  Geschenk,  nicht  ihr  Verdienst  —  wo  sollten  sie  ein 
solches  schon  her  haben?  —  sondern  Gottes  Gnade:  das  freie 
Werk  göttlicher  Huld  und  Gunst,  das  sie  in  keiner  Weise 
provoziert,  auf  das  sie  keinerlei  Anspruch  haben.  So  lügt 
Gott,  indem  er  sie  gerecht  spricht,  da  sie  es  doch  nicht  sind? 
Nein,  gerade  in  diesem  Wort  der  Gnade  redet  er  die  Wahr¬ 
heit,  übt  er  strengste  Gerechtigkeit.  Sie  werden  nämlich 
darum  gerecht  gesprochen,  weil  sie  in  Jesus  Christus  er¬ 
löst,  d.  h.  weil  sie  durch  ihn  von  der  ganzen  Herrschaft 
der  Sünde,  unter  der  sie  laut  des  Gesetzes  stehen  und  von 
dem  ganzen  Fluch,  der  sie  deshalb  laut  des  Gesetzes  tref¬ 
fen  müßte,  ein  für  allemal  losgekauft  sind:  wie  Sklaven, 
für  deren  Befreiung  bezahlt  ist  und  auf  die  ihr  alter  Herr 
deshalb  keinen  Anspruch  mehr  hat.  Denn  was  ist  gesche¬ 
hen?  Eben  der  Richter,  vor  dem  sie  alle  zur  Verantwortung 
gezogen  sind,  vor  dem  sie  alle  als  Übertreter  und  Ver¬ 
lorene  dastehen,  ist  (v.  25),  indem  er  als  Mensch  sein  Blut 
vergossen,  sein  Leben  dahingegeben  hat,  zum  Versöhnungs- 


53 


opfer  geworden  für  das  ganze  Volk  derer,  die  an  ihn 
glauben.  Er  hat  die  ihrer  Verurteilung  notwendig  folgende 
Strafe,  er  hat  die  ganze  Auswirkung  des  Zornes  Gottes 
auf  sich  genommen.  Sie  hat  also  in  seinem  Tode  bereits 
ihren  rechtmäßigen  Lauf  gehabt.  Gottes  Geduld  gegenüber 
der  Ungerechtigkeit  und  Gottlosigkeit  der  Menschen  hat  in 
seinem  Tode  ihr  Ende  und  Ziel  erreicht.  Gott  hat  mit  sei¬ 
nem  Tode  mit  den  Sündern  den  nötigen  zornigen  Schluß 
gemacht.  Eben  damit  ist  aber  die  Schuld  —  nicht  die  seinige 
aber  die  seines  Volkes,  für  das  er  als  Opfer  eingetreten 
ist  —  getilgt,  so  daß  es  in  diesem  seinem  Volk  keinen  Un¬ 
gerechten  mehr  gibt.  Die  sein  Volk  sind  —  und  das  sind 
die,  die  an  ihn  glauben — ,  sind  gerecht,  sind  unschuldig,  sind 
rein.  Denn  mit  ihrer  Ungerechtigkeit  und  Gottlosigkeit,  mit 
ihnen  als  Sündern  ist  im  Tode  des  Richters  Jesus  Christus, 
vor  dem  sie  stehen  und  dessen  Urteil  sie  annehmen,  tat¬ 
sächlich  Schluß  gemacht.  Daß  sie  sein  Volk  sein  und  im 
Glauben  an  ihn  sein  Urteil  annehmen  dürfen,  das  ist  un¬ 
verdient,  das  ist  Geschenk,  das  ist  Gnade.  Aber  daß  Gott 
sie  gerecht  spricht,  das  ist  das  Wort  lauterster  Wahrheit, 
das  ist  der  Akt  seiner  strengsten  Gerechtigkeit.  Es  ist,  wie 
wenn  Paulus  das  (v.  26)  fast  nicht  stark  genug  betonen 
könnte:  es  geht  um  den  Erweis,  um  die  Sichtbarmachung 
der  Gerechtigkeit  Gottes  in  dem,  was  das  Evangelium  der 
Gegenwart  —  und  als  Begründung  einer  ganz  neuen  ein¬ 
zigartigen  Gegenwart!  —  zu  sagen  hat.  Als  der  Gerechte 
handelt  Gott,  indem  er  den  gerecht  spricht,  der  „aus  dem 
Glauben“  an  Jesus  ihm  gegenübertritt,  der  „aus  dem 
Glauben“  an  den  für  ihn  gerichteten  Richter  zur  Unter¬ 
werfung  unter  dessen  Urteil,  zu  der  Anerkennung:  Ich 
bin  der  Mann!  gekommen  ist.  Um  die  Wiederholung,  Er¬ 
klärung  und  Erläuterung  der  in  Vers  21 — 26  ausgespro¬ 
chenen  christlichen  Erkenntnis  von  unserem  in  Jesus  Chri¬ 
stus  geordneten  Rechtsverhältnis  zu  Gott  wird  es  nun  im 
ganzen  Römerbrief  gehen.  Daß  uns  im  Glauben  an  Jesus 


54 


Christus  dieser  Rechtsgrund  unserer  Existenz  vor  Gott 
und  damit  Alles,  wirklich  Alles  gegeben  ist,  das  ist  es, 
was  Paulus  das  Evangelium  nennt. 

Was  als  übriger  Inhalt  des  Abschnittes  Kap.  3,  21 — 4,  25 
folgt,  steht  unter  einer  doppelten  Absicht.  Paulus  wird 
sich  darüber  erklären,  daß  und  inwiefern  dieses  Sicht¬ 
barwerden  der  göttlichen  Rechtsentscheidung  als  Gerecht- 
sprechung  aller  Glaubenden  keine  neue  Offenbarung,  son¬ 
dern  (v.  21)  „vom  Gesetz  und  den  Propheten“,  vom  Alten 
Testament  also,  bezeugt  und  also  seinerseits  nur  die  Be¬ 
stätigung  der  Wahrheit  des  Alten  Testamentes  ist.  Und 
Paulus  wird  sich  gerade  im  Zug  dieser  Auseinander¬ 
setzung  darüber  erklären,  was  es  mit  dem  Glauben  an 
Jesus  Christus,  in  welchem  jene  göttliche  Rechtsentschei¬ 
dung  sichtbar  wird,  auf  sich  hat. 

Wir  haben  es  zunächst  in  Vers  27 — 31  ähnlich  wie  in 
Vers  1 — 9  mit  einer  kleinen  Serie  von  einzelnen  Zwischen¬ 
fragen  und  deren  Beantwortung  zu  tun.  Bei  der  in  Kap.  4, 1 
auftauchenden  Frage  wird  Paulus  dann  stehen  bleiben, 
um  ihr  den  übrigen  größeren  Teil  unseres  Abschnittes  zu 
widmen. 

Vers  27  a:  Wo  bleibt  nun  der  Ruhm,  der  Ruhm  eines 
Menschen  nämlich,  der  sich  der  göttlichen  Rechtsentschei¬ 
dung  gegenüber  für  unangefochten  halten  möchte?  Ant¬ 
wort:  Er  ist  ausgeschlossen.  Indem  die  Ehre  des  Menschen 
in  Jesus  Christus  rechtmäßig  wiederhergestellt  ist,  ist 
(v.  23)  darüber  entschieden,  daß  der  Mensch  für  sich,  von 
Jesus  Christus  abgesehen,  keine  Ehre  und  also  nichts  hat, 
dessen  er  sich  vor  Gott  rühmen  könnte. 

Vers  27  b— 28:  An  welchem  Gesetz,  an  welcher  Norm  ist 
der  Mensch  gemessen,  wenn  dieses  Harte  von  ihm  gesagt 
wird?  An  der  Norm  seiner  Werke,  seines  Tuns  und  Nicht- 
tuns?  Antwort:  Nein,  denn  an  diesem  Gesetz  gemessen 
möchte  dem  Menschen  neben  viel  Schande  einiger  Ruhm 
wohl  auch  zuzubilligen  sein.  Menschen  wie  Abraham  so- 


55 


gar  sehr  viel  Ruhm  (Kap.  4,  2!).  Gemessen  an  dem  Gesetz 
des  Glaubens  aber,  gemessen  daran,  daß  der  gerichtete 
Richter  unser  Rechtsgrund  ist,  fällt  jeder  andere  Rechts¬ 
grund  dahin,  hat  der  Mensch  also  keinen  Ruhm.  Daß  er 
als  Glaubender  gerechtfertigt  wird,  schließt  aus,  daß  er 
es  durch  seine  Werke,  durch  sich  selber  wird.  In  dem  Maß, 
als  er  selbst  dem  Gesetz  genug  tun  und  damit  sich  selbst 
rechtfertigen  wollte,  würde  er  an  Jesus  Christus  vorbei¬ 
sehen,  würde  er  nicht  glauben  und  also  nicht  gerecht  ge¬ 
sprochen  sein.  Wenn  Luther  in  Vers  28  den  Worten  „durch 
den  Glauben“  das  Wort  „allein“  hinzugefügt  hat,  so  hat 
er  damit  genau  das  unterstrichen,  was  Paulus  hier  ohne 
dieses  Wort  tatsächlich  gesagt  hat. 

Vers  29 — 30:  Oder  sollte  Gott  —  der  Gott,  der  den  Men¬ 
schen  gerecht  spricht  —  zwar  der  Juden,  aber  auch  nur 
der  Juden  und  nicht  der  Heiden  Gott  sein?  Sollte  es  vor 
ihm  gerechte  Menschen  nur  in  dem  besonderen  Bereich 
seines  auserwählten  Volkes  geben?  Antwort:  Er  ist  der 
Gott  der  Juden  und  der  Heiden;  er  erweist  sich  gerade  in 
der  Ordnung  des  Rechtsverhältnisses  zwischen  ihm  und 
den  Menschen  durch  Jesus  Christus  und  den  Glauben  an 
ihn  als  der  eine  Gott.  Aller  Monotheismus  ist  ein  kaltes 
Geschwätz,  solange  Gott  nicht  als  der  erkannt  ist,  der  diese 
Rechtsentscheidung  vollzogen  hat.  Als  dieser  aber  steht  er 
den  Heiden  nicht  ferner  als  den  Juden;  diesen  gegenüber 
sollen  die  Juden  ja  nicht  auf  einen  Ruhm  zurückkommen 
wollen,  der  ihnen  erlauben  würde,  an  Jesus  Christus  vor¬ 
beizusehen. 

Vers  31:  Bedeutet  das  alles  nicht  die  Aufhebung  des 
Gesetzes?  Wie  steht  es  mit  dem,  was  Gott  von  uns  ver¬ 
langt  und  fordert,  wie  es  im  Alten  Testament  auf  jeder 
Seite  zu  lesen  ist,  wenn  wir  dahin  in  der  Frage  unserer 
Gerechtigkeit  vor  Gott  gerade  nicht  sehen  sollen?  Antwort: 
Unmöglich!  (Es  steht  hier  im  Griechischen  ein  Ausdruck, 
den  Paulus  immer  als  Zeichen  seines  höchsten  Entsetzens 


56 


gebraucht  hat!)  Paulus  denkt  nicht  daran,  das  Gesetz  auf¬ 
zuheben.  Vielmehr:  „Wir  richten  das  Gesetz  auf“.  Wir 
lehren  das  Gesetz  verstehen,  wie  es  auf  jeder  Seite  des 
Alten  Testamentes  eben  das  verlangt  und  fordert,  daß  wir 
an  Gottes  Verheißung  —  an  die  jetzt  in  Jesus  Christus  er¬ 
füllte  Verheißung  glauben  sollen.  Wir  predigen  ja  den 
Gehorsam  des  Glaubens  (Kap.  1,  5)  und  also  wahrlich  nicht 
Gesetzlosigkeit,  sondern  die  Geltung  des  Gesetzes.  Gerade 
Jesus  Christus  ist  die  Summe  und  der  Inbegriff  des  Ge¬ 
setzes  (Kap.  10,  4):  indem  er  es  erfüllt  und  indem  er  ihm 
genug  getan  hat,  indem  er  dem  wirklichen  Hörer  des  Ge¬ 
setzes  nur  den  Glauben  übrig  läßt  als  den  rechten  tätigen 
Gehorsam;  den  Glauben  an  ihn  als  den  für  uns  gerichteten 
Richter,  durch  den  wir  vor  Gott  allein,  dafür  aber  auch 
wirklich  und  vollständig,  Gerechte  sind. 

Man  sieht,  daß  alle  diese  Fragen  wie  schon  die  von 
Kap.  3,  1 — 9  irgendwie  im  Zusammenhang  mit  der  Frage 
des  rechten  Verständnisses  des  Alten  Testamentes  stehen. 
Von  jüdischen,  judenchristlichen  aber  sicher  auch  heiden¬ 
christlichen  Lesern  der  heiligen  Schriften  Israels  muß  Pau¬ 
lus  diese  Fragen  gehört  haben.  Bei  der  letzten  von  ihnen 
(Kap.  4,  1)  macht  er  Halt  und  ihrer  Behandlung  ist  nun 
das  ganze  vierte  Kapitel  gewidmet.  Sie  ist  in  der  Tat 
radikal  und  umfassend  genug,  um  allen  anderen  gegen¬ 
über  diesen  Vorzug  zu  verdienen.  Sie  lautet  nämlich: 
„Was  ist  denn  als  das  zu  bezeichnen,  was  Abraham,  unser 
Vorvater  nach  dem  Fleisch,  gefunden  hat?“  Abraham  war 
in  der  gewiß  richtigen  Sicht  der  damaligen  Leser  des  Alten 
Testamentes  der  Gerechte,  der  Typus  aller  übrigen  Ge¬ 
rechten.  Indem  Paulus  ihn  „unseren  Vorvater  nach  dem 
Fleische“  nennt,  bekennt  er  sich  selbst  als  Juden,  stellt  er 
sich  selbst  in  die  erste  Reihe  der  hier  nach  dem  rechten 
Verständnis  des  Alten  Testamentes  Fragenden.  Die  Mei¬ 
nung  der  Frage  in  Kap.  4,  1  ist:  Was  machte  denn  den 


57 


Abraham  zum  Gerechten?  Die  Antwort  verläuft  in  drei 
Teilen:  Vers  2 — 8,  Vers  9 — 12,  Vers  13 — 17  a,  in  welchen 
nacheinander  drei  falsche  Antworten  abgewiesen  und  gleich¬ 
zeitig  die  rechte  Antwort  gegeben  wird:  daß  der  Glaube 
den  Abraham  zu  einem  Gerechten  machte,  und  einem 
Schlußteil,  Vers  17  b — 22,  in  welchem  erklärt  wird,  welches 
die  Art  und  das  Wesen  des  Glaubens  des  Abraham  ge¬ 
wesen  sei.  In  Vers  22 — 25  wird  Paulus  die  Anwendung 
machen  und  zugleich  den  in  Kap.  3,  26  verlassenen  Faden 
seines  Hauptgedankens  neu  aufnehmen. 

Paulus  sagt  in  Vers  2 — 8,  daß  Abraham  durch  sei¬ 
nen  Glauben  gerecht  ist  und  nicht  durch  seine  Werke. 
Abraham  hat  freilich  auch  Werke,  rühmenswerte  Werke 
aufzuweisen.  Der  Leser  des  Alten  Testamentes  denkt  an 
seinen  Auszug  aus  seinem  Vaterland,  er  denkt  an  Isaaks 
Opferung.  Aber  wenn  solche  Werke  Abrahams  Ruhm  im 
Auge  des  Lesers  sind,  so  ist  sein  Ruhm  vor  Gott  nach 
dem  Wort  der  Schrift  ein  anderer.  Sie  sagt  nämlich,  daß 
dem  Abraham  dies  als  Gerechtigkeit  angerechnet  wurde, 
daß  er  Gott  glaubte.  „Als  Gerechtigkeit  angerechnet“  heißt: 
als  Gerechtigkeit  angenommen,  obwohl  dieses  Angenom¬ 
mene  an  sich,  als  Abrahams  Tun,  mit  Gerechtigkeit  nichts 
zu  tun  hat  bezw.  nur  dann  etwas  damit  zu  tun  hat, 
wenn  es  Abrahams  Beziehung  zu  einem  Rechtsgrund  ist, 
den  er  selber  nicht  schaffen  kann,  der  als  solcher  außer 
ihm  liegt,  der  ihm  gegeben  sein  muß,  so  daß  sein  Glaube 
ihm  daraufhin:  auf  die  Gerechtigkeit  dieses  objektiven 
Grundes  hin,  auf  den  er  gerichtet  ist,  als  seine  Gerechtig¬ 
keit  angerechnet  werden  kann.  Würde  Abraham  durch 
seine  Werke  gerecht,  dann  würde  die  Schrift  anders  lau¬ 
ten:  sie  würde  dann  sagen,  daß  ihm  das  Gute,  was  er 
getan,  nach  Fug  und  Recht,  nach  seinem  Verdienst  als 
seine  Leistung  zur  Erlangung  der  Gerechtigkeit  angerech¬ 
net  wurde.  Nun  aber  sieht  sie,  wenn  sie  von  seiner  Ge¬ 
rechtigkeit  redet,  an  allem  was  er  getan  und  was  ihn 


58 


von  einem  Gottlosen  unterschieden  hat,  vorbei  allein 
auf  seinen  Glauben,  in  welchem  er  wie  ein  Gottloser 
vor  Gott  steht  und  eben  als  solcher  von  Gott  gerecht  ge¬ 
sprochen  wird.  Und  im  gleichen  Sinn  wird  auch  Ps.  32, 1  f. 
der  Mann  selig  gepriesen,  mit  welchem  Gott  so  verfährt, 
als  wäre  etwas  anderes  als  dies,  daß  er  Sündenvergebung 
nötig  hat,  überhaupt  nicht  von  ihm  zu  sagen.  Eben  der 
und  nur  der  Mann,  der  sich  allein  um  deswillen  selig 
preist,  was  ihm  als  einem  verlorenen  Sünder  zukommt: 
daß  Gott  seinerseits  einen  Rechtsgrund  hat,  ihm  zu  ver¬ 
geben,  ihn  gerecht  zu  sprechen  und  als  einen  Gerechten 
zu  behandeln  —  dieser  Mann  allein  und  also  der  Glaubende 
ist  vor  Gott  gerecht,  wie  es  von  Abraham  geschrieben  steht. 

Paulus  sagt  in  Vers  9 — 12,  daß  Abraham  durch  seinen 
Glauben  gerecht  ist  und  nicht  auf  Grund  seiner  Beschnei¬ 
dung.  Abraham  ist  der  erste  Träger  dieses  Zeichens,  das 
das  Volk  Israel  als  das  erwählte  Volk  Gottes  von  anderen 
unterscheidet.  Ist  die  Gerechtigkeit  vor  Gott  an  dieses  Zei¬ 
chen  gebunden  und  also  auf  dessen  Träger  und  also  auf 
Israel  beschränkt?  Gilt  das  Wort  von  Abrahams  Gerechtig¬ 
keit,  gilt  Ps.  32,  1,  wie  schon  in  Kap.  3,  29  gefragt  wurde, 
nur  den  Juden?  Die  Antwort  der  Schrift  selbst  lautet,  daß 
nicht  die  Beschneidung,  sondern  der  Glaube  Abraham  als 
Gerechtigkeit  angerechnet  wurde.  Die  Beschneidung  war 
umgekehrt  das  Zeichen,  das  diese  allein  in  seinem  Glau¬ 
ben  bestehende  Gerechtigkeit  Abrahams  bestätigen  sollte. 
Er  glaubt  ja  als  noch  Unbeschnittener,  und  von  seinem 
Glauben  als  noch  Unbeschnittener  heißt  es,  daß  er  ihm  als 
Gerechtigkeit  angerechnet  wurde.  Ist  er  als  Beschnittener , 
als  Jude,  der  Vater  der  Juden  als  des  Volkes,  das  zum 
Träger  der  Verheißung  und  schließlich  zur  Erfüllung  der 
Verheißung  in  seiner  Mitte  bestimmt,  daß  eben  um  dieser 
Verheißung  willen  durch  dieses  Zeichen  von  anderen  Völ¬ 
kern  unterschieden  war  —  so  ist  Abraham  gerade  als 
noch  Unbeschnittener  zugleich  der  Vater  und  Vorläufer 


59 


aller  derer,  die  ebenfalls  als  solche,  als  Nichtjuden  mit 
ihm  und  wie  er  selbst  an  die  Verheißung  glauben  und 
in  diesem  Glauben  Gerechte  vor  Gott  sein  würden.  Die 
Beschncidung  kann  als  Zeichen  des  Volkes  der  Ver¬ 
heißung  auf  diese  Gerechtigkeit  vor  Gott  nur  hinweisen. 
Die  Beschneidung  macht  keinen  gerecht.  Es  gibt,  wie  Abra¬ 
ham  selbst  zeigt,  Gerechte  vor  Gott  auch  ohne  Beschnei¬ 
dung,  auch  außerhalb  des  Judentums,  aber  nicht  außer¬ 
halb  des  Glaubens. 

Paulus  sagt  in  Vers  13 — 17  a,  daß  Abraham  durch  sei¬ 
nen  Glauben  gerecht  ist  und  nicht  als  Kenner  des  Gesetzes. 
Abrahams  Volk  ist  freilich  das  Volk,  dem  Gottes  Gesetz 
gegeben,  Gottes  Wille  und  Gebot  bekannt  gemacht  ist.  Aber 
das  ist  es  nicht,  was  Israel  zum  auserwählten  Volk,  zum 
Volk  der  Verheißung  macht.  Damit,  daß  es  das  Gesetz 
hat  und  kennt,  hat  es  keinen  Anteil  an  dem  Segen,  den 
Gott  ihm  als  seine  Zukunft  zugesagt  hat.  Denn  an  dem 
ihm  allerdings  gegebenen  und  bekannten  Gesetz  Gottes 
wird  Israel  ja  doch  nur  zu  Schanden.  Es  hat  sich  der 
Glaube  an  seine  eigene  Erfüllung  des  Gesetzes  immer  wie¬ 
der  als  ein  leerer  Glaube,  es  hat  sich  die  Verheißung  als 
Ziel  menschlichen  Wollens  und  Vollbringens  in  Israels  Ge¬ 
schichte  immer  wieder  als  eine  nichtige  Verheißung  er¬ 
wiesen.  Das  Gesetz  als  solches  und  für  sich  ist,  wie  in 
Kap.  1,  18 — 3,  20  gezeigt,  das  Instrument  des  Zornes  Got¬ 
tes.  „Wo  aber  das  Gesetz  nicht  isty  da  ist  keine  Über¬ 
tretung!“  Sündlosigkeit,  Gerechtigkeit  gab  es  auch  in  Israel 
immer  nur  „außerhalb  des  Gesetzes“,  d.  h.  nicht  kraft  sei¬ 
ner  Erfüllung  durch  die  Menschen  (zu  der  es  nie  kam!), 
sondern  als  die  Gerechtigkeit  derer,  die  im  Zeugnis  des 
Gesetzes  den  objektiven  Rechtsgrund  Gottes,  ihnen  ihre 
Sünden  zu  vergeben,  erkannten  und  ergriffen.  An  Gott 
selbst  und  seine  Gnade  haben  die  geglaubt,  die  in  Israel 
recht  geglaubt,  die  nicht  an  eine  eingebildete,  sondern  an 
die  am  Ziel  der  Geschichte  Israels  erfüllte  Verheißung  ge- 


60 


glaubt  haben.  Alle  diese  sind  Abrahams  Kinder:  inner¬ 
halb  und  außerhalb  des  Bereiches  des  Gesetzes  —  die  das 
getan,  die  mit  Abraham  geglaubt  haben,  die  vielen  Völker, 
deren  Vater  er  als  Vorgänger  im  Glauben  gewesen  ist. 

Eben  diese  letzte  Wendung  gibt  nun  Paulus  Anlaß  zu 
einer  positiven  Beschreibung  des  Glaubens  Abrahams: 
Vers  17  b — 22.  Wie  glaubt  Abraham?  Und  wie  ist  er  also 
ein  Gerechter?  Wir  hören  in  Vers  17  b  zunächst:  Er  glaubt 
angesichts  des  Gottes,  der  die  Toten  lebendig  macht  und, 
was  nicht  ist,  ins  Dasein  ruft.  Er  glaubt  also  an  den  Gott, 
der  als  Schöpfer  der  uns  unbegreiflichen  Welt,  in  welcher 
kein  Tod  ist,  wie  als  der  unbegreifliche  Schöpfer  dieser 
gegenwärtigen  Welt  der  ist,  der  allein  durch  sein  Wort 
etwas  schlechthin  Neues  schafft.  Glauben  heißt,  sich  an 
dieses  Wort  dieses  Gottes  halten.  So  hat  Abraham  ge¬ 
glaubt.  Dieser  Glaube  wurde  ihm  nach  der  Schrift  als 
Gerechtigkeit  angerechnet.  Wir  hören  in  Vers  18:  Er  hatte 
dabei  gegen  alle  Hoffnung,  nämlich  gegen  alle  menschlich 
mögliche  Hoffnung  auf  die  Erfüllung  dessen  zu  hoffen, 
was  Gott  ihm  zusagte.  Er  hatte  in  Gottes  Wort  eine  ihm 
gegebene  Hoffnung  anzunehmen,  ohne  dabei  durch  irgend 
eine  menschlich  einleuchtende  Wirklichkeit  oder  Wahrschein¬ 
lichkeit  unterstützt  zu  werden.  Das  hat  er  getan.  Und  das 
war  sein  Glaube,  der  ihm  als  Gerechtigkeit  angerechnet 
wurde.  Wir  hören  in  Vers  19 — 20:  Abraham  stand  vor 
lauter  widersprechenden  natürlichen  Tatsachen:  er  sah, 
als  er  die  Verheißung  empfing,  nichts  vor  sich  als  sein 
eigenes  Alter  und  das  der  Sara,  seines  Weibes.  Daß  er 
diese  Tatsache  faktisch  nicht  ansah,  daß  er  keinen  Ver¬ 
gleich  anstellte  zwischen  dem,  was  er  da  sah  und  was  er 
als  Gottes  Wort  hörte,  daß  er  auf  Berechnungen  über 
dessen  Erfüllbarkeit  nicht  eintrat,  sondern  ganz  allein  hörte 
auf  das,  was  ihm  gesagt  war,  daß  er  seine  Existenz  dem 
Worte  Gottes  gegenüber  nicht  zweifelnd,  d.  h.  nicht  von 
einem  doppelten,  einem  „gläubigen“  und  einem  „weltlichen“ 


61 


Standpunkt  aus  beurteilte  —  denn  dieser  Dualismus  ist 
das  Wesen  des  Zweifels!  — ,  daß  er  vielmehr  ganz  und  gar 
nur  von  dem  Einen  aus  urteilte,  von  dem  man  doch  den¬ 
ken  möchte,  daß  es  einen  Standpunkt  gar  nicht  bilden 
könne,  daß  er  mit  dem  Unglauben  nicht  umging  als  mit 
einer  zweiten  Möglichkeit,  sondern  nur  als  mit  der  ausge¬ 
schlossenen  Unmöglichkeit,  das  war  die  Stärke  des  Glau¬ 
bens,  der  ihm  als  Gerechtigkeit  angerechnet  wurde.  Nicht 
um  seiner  selbst,  nicht  um  der  Schönheit  und  der  Tiefe 
dieses  Glaubens  willen!  Sondern  darum,  weil  der  damit 
(v.  20)  Gott  die  Ehre  gab,  d.  h.  weil  er  bei  dem  allen  von 
sich  selber  weg  sah  auf  Gott  hin,  um  ihn  Gott  sein  zu 
lassen,  als  den,  der  die  Macht,  die  Allmacht,  hat  zu  tun, 
zu  erfüllen,  was  er  verheißen  hat  und  von  dessen  Treue 
solche  Erfüllung  unter  allen  Umständen  zu  erwarten  ist. 
Indem  Abrahams  Glaube  dieses  Hinwegsehen  und  Hin¬ 
sehen  war,  wurde  er  ihm  angerechnet  als  Gerechtigkeit 
(v.  22). 

Das  also  ist  Abraham,  der  Gerechte  des  Alten  Testa¬ 
mentes.  Man  kann  ihn  nicht  zum  Zeugen  gegen,  man  kann 
ihn  und  das  ganze  Alte  Testament  nur  zum  Zeugen  für 
das  Evangelium  anrufen:  zum  Zeugen  der  göttlichen  Ge- 
rechtsprechung  der  Glaubenden. 

Die  Verse  23 — 25  bringen  die  Reihe  der  in  Kap.  3,  27 
begonnenen  Zwischenüberlegungen  zum  Abschluß.  Wir  er¬ 
innern  uns,  daß  die  ganze,  das  vierte  Kapitel  beherrschende 
Feststellung  über  Abraham  nur  die  ausführliche  Antwort 
auf  die  letzte  der  in  Kap.  3, 27 — 4, 1  aufgeworfenen  Fragen 
war.  Diese  letzte  Frage  hatte  gelautet:  „Was  macht  den 
Abraham  zu  dem  Gerechten,  der  er  nach  dem  Alten 
Testament  gewesen  ist?“  Die  Antwort  hatte  gelautet:  Nicht 
seine  Werke  machen  ihn  dazu,  nicht  seine  Beschneidung, 
nicht  das  Gesetz,  sondern  dies,  daß  er  glaubte,  d.  h.  daß  er 
sich  an  Gottes  an  ihn  ergangenes  Verheißungswort  hielt 


62 


und  so  an  Gottes  Allmacht,  Treue  und  Beständigkeit.  In¬ 
dem  er  damit  Gott  selbst  die  Ehre  gab,  wurde  Gott  selbst 
seine  Gerechtigkeit,  wurde  er  selbst  von  Gott  freigespro¬ 
chen,  gerecht  gesprochen:  er  der  Gottlose!  (v.  5).  So  stand 
es  mit  Abrahams  Gerechtigkeit.  Und  wenn  man  noch  ein¬ 
mal  an  die  ganze  Reihe  der  in  Kap.  3,  27  f.  aufgeworfenen 
Fragen  denkt,  merkt  man,  daß  Paulus  damit  sagen  will: 
so  steht  es  mit  dem,  was  im  Alten  Testament  überhaupt 
des  Menschen  Gerechtigkeit  ist.  Das  Alte  Testament  be¬ 
zeugt  (Kap.  3,  21)  diese  Gerechtigkeit,  die  Gerechtigkeit 
des  Glaubens.  Was  von  Abraham  geschrieben  steht  —  so 
nimmt  jetzt  Vers  23  den  Faden  wieder  auf  — ,  eben  das 
steht  von  uns  geschrieben:  von  uns,  die  wir  uns  jetzt, 
heute  der  in  Jesus  Christus  offenbarten  Rechtsentschei¬ 
dung  Gottes,  indem  wir  an  Jesus  Christus  glauben,  freuen 
dürfen  als  unseres  Freispruchs,  als  unserer  Gerechtspre- 
chung  im  Gerichte.  An  wen  sonst  als  eben  an  Jesus  Chri¬ 
stus  hat  ja  schon  Abraham  sich  gehalten  und  also  ge¬ 
glaubt,  indem  er  sich  an  Gottes  Verheißung  hielt?  War 
doch  eben  Jesus  Christus  der  ihm  in  Isaak  verheißene 
Nachkomme!  So  und  also  in  ihm  hat  schon  Abraham  der 
Allmacht,  Treue  und  Beständigkeit  Gottes  die  Ehre  ge¬ 
geben.  So  und  also  in  ihm  war  Gott  selbst  Abrahams  Ge¬ 
rechtigkeit.  Wir  glauben  nicht  anders  und  an  keinen  ande¬ 
ren,  als  Abraham  es  tat  und  mit  ihm  alle  Glaubenden  des 
Alten  Testamentes.  Wir  glauben  ja  schlicht  an  die  nun  ge¬ 
schehene  Erfüllung  der  ihm  gewordenen  Verheißung  und 
wissen  darum  mit  ihm,  wissen  nun  erst  recht,  daß  unsere 
Gerechtigkeit,  die  Gerechtigkeit  jedes  Menschen  vor  Gott, 
allein  in  seinem  Glauben,  allein  darin  bestehen  kann,  daß 
ihm  sein  Glaube  angerechnet  wird  als  Gerechtigkeit.  Noch¬ 
mals:  nicht  wegen  seiner  Kraft,  Güte  und  Schönheit,  son¬ 
dern  wegen  seines  Gegenstandes,  wegen  Jesus  Christus, 
wegen  der  in  ihm  beschlossenen,  offenbarten  und  wirk¬ 
samen  Allmacht,  Treue  und  Beständigkeit  Gottes.  Das  ist 


63 


es,  was  Kap.  4,  24 — 25  im  Rückblick  auf  Kap.  3,  22 — 26 
noch  einmal  in  einer  kurzen  Formel  bestätigt  wird:  Wir 
sind  darum  vor  Gott  gerecht,  weil  Gott  uns  unseren  Glau¬ 
ben,  wie  er  es  Abraham  getan,  als  Gerechtigkeit  anrechnet. 
Gott  tut  das  aber  darum,  weil  er,  an  den  wir  glauben,  der 
Gott  ist,  der  Jesus  als  unseren  Herrn  von  den  Toten  auf¬ 
erweckt,  d.  h.  der  sich  selbst  in  der  Erhöhung  dieses  Men¬ 
schen,  in  der  Offenbarung  des  Lebens  seines  eigenen  Soh¬ 
nes  in  diesem  getöteten  Menschensohn  (Kap.  1,  5)  zu  unse¬ 
rem  Herrn  und  Haupt  gemacht  hat.  Er  hat  diesen  seinen 
eigenen  Sohn  (und  in  ihm  sich  selber  für  uns)  zur  Hin- 
wegschaffung,  zur  völligen  Beseitigung  und  Wiedergut¬ 
machung  aller  unserer  Übertretungen  eingesetzt  und  da¬ 
hingegeben,  so  daß  sie  in  seinem  Tode  beseitigt  sind  und 
uns  nicht  mehr  zur  Last  fallen  können.  Und  er  hat  diesen 
Sohn  Davids  (und  in  ihm  uns  durch  sich  selber)  aus  dem 
Tode,  den  wir  verdient  hatten,  dem  wir  verfallen  waren, 
erweckt  zu  unserem  Herrn  und  Haupt,  unter  dem 
und  mit  dem  wir  existieren  dürfen  als  solche,  die  — 
wie  ihr  altes  böses  Kleid  für  immer  ausgezogen  ist  — 
nunmehr  bekleidet  sind  mit  seiner  Gerechtigkeit,  mit  der 
Gerechtigkeit  seines  Sohnes,  mit  seiner  eigenen  Gerechtig¬ 
keit.  Indem  wir  uns  an  ihn  halten  als  an  unseren  Herrn, 
indem  wir  uns  daran  halten,  daß  er  unser  Haupt  ist,  ste¬ 
hen  wir  vor  Gott  schlechterdings  so  da,  wie  er,  sein  geliebter 
Sohn,  vor  ihm  steht,  sieht  er  uns  in  ihm  und  also  in 
seinem  eigenen  Bilde  an,  kann  er  gar  nichts  an  uns  fin¬ 
den  als  seine  eigene  Gerechtigkeit.  Indem  wir  an  diesen 
Gott  Abrahams  glauben,  ist  uns  seine  Gerechtigkeit  zuge¬ 
rechnet,  ist  sie  die  unsrige,  wie  sie  die  seine  ist,  sind  wir 
mit  Abraham  wahrhaft  und  von  rechtswegen  gerecht  vor 
ihm. 


64 


5,  1—21 


Das  Evangelium  als  Versöhnung 
des  Menschen  mit  Gott 


Gottes  in  Jesus  Christus  vollzogene  und  offenbarte  Rechts¬ 
entscheidung  ist  nach  dem,  was  uns  der  Römerbrief  bis 
jetzt  gesagt  hat,  verschlossen  und  verborgen  in  der  Ver¬ 
urteilung  aller  Menschen  (Kap.  1,  18 —  3,  20),  die  Gerecht- 
sprechung  der  Glaubenden  (Kap.  3,  21 — 4,  25).  Diese 
Rechtsentscheidung  Gottes  ist  das  Evangelium.  Aber  nun 
hatte  ja  Paulus  in  Kap.  1,16  vom  Evangelium  noch  etwas 
anderes  gesagt:  nämlich  das  Entscheidende  über  seinen 
Inhalt  und  seine  Tragweite:  es  sei  Gottes  allmächtiges 
Rettungswerk  für  jeden  Glaubenden.  Wir  bemerkten  schon 
dort:  das  ist  kein  Zweites,  das  jetzt  zu  dem  Ersten  zu  der 
göttlichen  Rechtsentscheidung  noch  hinzukäme.  Das  ist  viel¬ 
mehr  mit  dieser  identisch:  wir  sind  damit  gerettet,  daß 
wir  als  Glaubende  gerecht  gesprochen  sind;  und  umge¬ 
kehrt:  indem  wir  als  Glaubende  gerechtfertigt  sind,  sind 
wir  gerettet,  wie  es  in  Kap.  5,  1  zunächst  im  Blick  auf  die 
grundlegende  Tatsache  der  Versöhnung  des  Menschen  mit 
Gott  ausdrücklich  gesagt  wird.  Aber  eben,  daß  diese 
Gleichung  besteht  und  gilt,  soll  und  wird  nun  in  einer 
Reihe  von  vier  zusammenhängenden  Entwicklungen  in 
den  Kapiteln  5 — 8  gezeigt  werden:  indem  wir  im  Glauben 
Gottes  Rechtsentscheidung  hören  und  annehmen,  wider¬ 
fährt  uns  die  Rettung,  deren  wir  als  Menschen  bedürftig 
sind.  Es  ist  also  diese  Rechtsentscheidung  kein  leeres  Wort, 
sondern  sie  hat  als  Gottes  Rechtsentscheidung  jene  un¬ 
widerstehliche  Kraft  der  Wahrheit,  die  ihr  Paulus  schon 


65 


in  Kap.  1,16  nachgerühmt  hat:  Wer  vor  Gott  gerecht  ist, 
der  kann  eben  darum  und  damit  kein  Verlorener  sein. 
Wer  von  Gott  so  angesehen  und  beurteilt  ist,  wie  er  seinen 
eigenen  lieben  Sohn,  wie  er  in  diesem  seinem  Bilde  sich 
selbst  ansieht,  der  ist  eben  darum  und  damit  bei  Gott  ge¬ 
borgen  und  aufgehoben,  dem  kann  es  darum  und  damit 
in  alle  Ewigkeit  hinein,  aber  darum  und  damit  nun  auch 
wirklich  in  der  kurzen  Zeit  seiner  Existenz  jetzt  und  hier 
nicht  schlecht,  sondern  nur  noch  gut  gehen.  Der  muß  und 
wird,  wie  es  schon  in  Kap.  1,17  hieß,  leben:  Der  Gerechte, 
der  durch  seinen  Glauben  vor  Gott  Gerechte,  wird  aus 
und  in  diesem  Glauben  vor  Gott  nicht  sterben,  sondern 
leben  —  im  Bund  mit  Gott  leben  und  darum  kein  be¬ 
drücktes,  kein  beschattetes,  kein  verzweifeltes,  sondern 
(Kap.  5,  17)  ein  königliches,  ein  souveränes,  das  von  dem 
ewig  lebendigen  Gott  als  seinem  Bundespartner  ihm  ver¬ 
liehene  ewige  Leben. 

Das  Viele,  was  davon  zu  sagen  ist,  wird  im  5.  Kapitel  mit 
der  Feststellung  eröffnet,  daß  wir  als  Glaubende  und  also 
als  Gerechte  mit  Gott  versöhnte  Menschen  sind.  In  diesem 
Versöhntsein  ergreift  uns  gewissermaßen  die  rettende  Hand 
Gottes.  Man  beachte,  daß  es  sich  weder  hier  noch  sonst  im 
Neuen  Testament  um  die  Versöhnung  Gottes  mit  uns,  son¬ 
dern  um  unsere  Versöhnung  mit  ihm  handelt.  Gott  braucht 
nicht  versöhnt  zu  werden.  Gott  liebt  ja  auch,  indem  er 
zürnt.  Gott  hat  ja  auch  die  Last  seines  Zornes  nicht  auf 
uns  geworfen,  so  daß  wir  nun  erst  von  ihr  befreit  werden 
müßten,  sondern  hat  sie,  indem  er  seinen  Sohn  leiden  und 
sterben  ließ,  auf  sich  selbst  genommen,  so  daß  er  uns  nicht 
treffen  und  verderben  kann.  Gottes  Gerechtigkeit  bedarf 
keiner  Milderung,  so  daß  er  erst,  nachdem  er  Einiges  davon 
abgestrichen,  mit  uns  versöhnt  sein  könnte,  sondern  gerade 
indem  seine  Gerechtigkeit  zum  Vollzug  kam  und  offenbar 
wurde,  sind  wir  durch  ihn  in  einen  neuen  Stand  versetzt, 
mit  ihm  versöhnt,  aus  einer  unmöglichen  Stellung  ihm 


66 


gegenüber  herausgeholt  und  in  die  allein  mögliche  Stel¬ 
lung  zu  ihm  gebracht.  Daß  diese  Voraussetzung  unserer 
Errettung  (oder  positiv:  unseres  Lebens)  durch  Gottes 
Rechtsentscheidung  erfüllt  ist,  das  ist  die  überaus  wunder¬ 
bare  Tatsache,  mit  der  Paulus  im  5.  Kapitel  beschäftigt 
ist.  Das  Kapitel  ist  für  uns  aus  zwei  Gründen  gedanklich 
schwierig — gedanklich  vielleicht  das  schwierigste  im  Römer¬ 
brief:  Einmal  darum,  weil  es  für  uns  leider  nicht  natürlich 
ist,  das  Unerhörte,  das  Unbegreifliche,  das  schlechthin  Wun¬ 
derbare  dessen,  daß  es  das  gibt:  mit  Gott  versöhnte  Men¬ 
schen,  daß  wir  soldie  sein  dürfen,  zugleich  in  seiner  Wirk¬ 
lichkeit,  aber  eben  in  dem  ganzen  Wunder  seiner  Wirklich¬ 
keit  zu  sehen,  weil  wir  das  vielmehr  nur  zweifelnd  oder 
aber  mit  einer  höchst  unangebrachten  Leichtigkeit  und 
Selbstverständlichkeit  hinzunehmen  gewöhnt  sind.  Und  so¬ 
dann  darum,  weil  wir  leider  ebensowenig  darüber  im  kla¬ 
ren  sind,  daß  diese  Tatsache  so  ganz  und  gar  nichts  mit 
einer  allgemeinen  Idee  von  Gott  und  vom  Menschen  zu 
tun  hat,  sondern  eben  eine  bestimmte  Tatsache,  nämlich 
die  Tatsache  der  Person  Jesu  Christi  und  eben  in  ihr  so 
wunderbar  und  zugleich  so  wirklich  ist.  Paulus  dagegen 
steht  zugleich  ohne  jeden  Vorbehalt  und  völlig  verwundert 
vor  dieser  Tatsache  und  er  steht  ihr  eben  als  dieser  be¬ 
stimmten  Tatsache ,  er  steht  Jesus  Christus  gegenüber.  Bei¬ 
des  kommt  im  Römerbrief  vielleicht  nirgends  so  stark  zum 
Ausdruck  wie  in  diesem  Kapitel.  Das  ist  es,  was  es  für 
uns  gedanklich  schwierig  macht.  Wir  sind  eben  an  diese 
Gewißheit  und  an  dieses  Erstaunen,  wir  sind  aber  vor 
allem  an  diese  Sammlung  um  die  Person  Jesu  Christi  in 
unserem  christlichen  Denken  (auch  wenn  es  sehr  „positiv“ 
sein  sollte)  nicht  mehr  gewöhnt.  Der  Abstand  zwischen 
unserem  und  dem  apostolischen  Denken  —  nicht  weil  jenes 
ein  altertümliches  und  das  unsrige  ein  modernes  ist,  son¬ 
dern  weil  wir  mit  dem  Gegenstand  auch  die  Kategorien 
des  apostolischen  Denkens  erst  wieder  finden  müssen  — 


67 


kann  uns  hier  sehr  klar  werden  und  vielleicht  ist  das  zu¬ 
nächst  das  Wichtigste,  was  man  gerade  an  diesem  Kapitel 
zu  lernen  hat:  daß  wir  noch  viel  lernen  müssen,  um  ge¬ 
lehrige  Schüler  der  Apostel  zu  werden. 

Der  Inhalt  von  Vers  1 — 5  erscheint  zunächst  verhältnis¬ 
mäßig  einfach  und  übersichtlich.  Wir  haben  zunächst  in 
Vers  1  die  Verbindung  zum  Vorangehenden  vor  uns: 
Als  die  im  Glauben  Gerechtgesprochenen  haben  wir  Frie¬ 
den  mit  Gott,  ist  also  alles  das  aufgehoben,  was  nach  dem 
scharfen  Ausdruck  in  Vers  10  unsere  Feindschaft  gegen 
Gott  ausmacht:  unsere  Auflehnung  gegen  ihn,  in  der  wir 
ihm  (Kap.  1,  21)  die  ihm  gebührende  Ehre  verweigern 
und  damit  —  was  das  auch  für  ihn  bedeute  —  jedenfalls 
uns  selbst  ins  Elend  stürzen,  dem  Tode  (v.  12  f.)  preis¬ 
geben.  Indem  uns  Gott  gerecht  spricht,  sind  wir  von  dieser 
Feindschaft  freigesprochen,  sind  wir  in  den  Stand  des  Frie¬ 
dens  Gott  gegenüber,  der  Übereinstimmung  mit  ihm  ver¬ 
setzt.  Wie  das?  Paulus  redet  nicht  von  friedlichen  Ge¬ 
sinnungen  und  Gefühlen,  die  uns  beherrschen  könnten, 
sondern  von  Jesus  Christus  als  dem,  in  welchem,  wie 
(v.  2)  unser  Zugang  zu  Gott,  wie  unsere  Gerechtsprechung 
also,  so  auch  dieser  unser  Friedensschluß  mit  Gott,  sehe 
es  in  uns  aus,  wie  es  wolle,  vollzogen  ist,  so  daß  wir  uns 
—  Gesinnungen  und  Gefühle  hin  und  her,  es  handelt  sich 
um  den  „Frieden  Gottes,  welcher  höher  ist  als  alle  Ver¬ 
nunft“  (Phil.  4,  7)  —  daran  halten  dürfen:  wir  haben 
Frieden  geschlossen  und  haben  ihn.  Wir  sind  jene  Feinde 
Gottes  nicht.  In  Jesus  Christus  sicher  nicht.  Er  steht  im 
Frieden  mit  Gott  und  eben  „er  ist  unser  Friede“  (Eph.  2, 14). 
Indem  wir  durch  ihn  in  die  Gnade  versetzt  sind,  in  der 
wir  stehen  dürfen,  ist  er  unser  Friede.  Darum  ist  die  Sache 
so  sicher,  darum  weder  durch  uns  selbst  noch  durch  andere, 
darum  (Kap.  8,  38  f.)  durch  keine  Macht  im  Himmel  und 
auf  Erden  in  Frage  zu  stellen.  Indem  wir  diesen  Frieden 


68 


haben,  blicken  wir  in  unsere  Zukunft  und  finden,  daß,  was 
vor  uns  steht,  Gottes  Herrlichkeit  ist  und  rühmen  uns  darum 
auch  unserer  Gegenwart,  weil  sie  dieser  Zukunft  entgegen¬ 
eilt.  Nicht  nur  unserer  Zukunft,  nicht  nur  der  jenseitigen 
Ewigkeit  (v.  2),  sondern  auch  der  bedrängten  Gegenwart, 
weil  alle  Bedrängnis  den,  der  Frieden  mit  Gott  hat,  nur 
noch  fester,  noch  beharrlicher  machen  kann,  weil  er  sich 
in  solcher  Beharrlichkeit  bewähren  und  weil  diese  Bewäh¬ 
rung  sich  darin  lohnen  wird,  daß  er  jetzt  erst  recht,  jetzt 
erst  ganz  ernstlich  hoffen  wird  (v.  4):  in  der  Hoffnung,  die 
den  Hoffenden  nidit  beschämen,  nicht  zu  Schanden  gehen 
lassen  wird.  Denn  was  hält  ihn?  Ein  neues  Fühlen,  Wollen 
und  Erkennen?  Nicht  das,  ob  er  viel  oder  wenig  davon 
habe,  wohl  aber  die  objektive  Gewalt  der  Liebe,  die  Gott 
ihm  damit  erwiesen  hat  (v.  5),  daß  er  ihn  in  Jesus  Chri¬ 
stus  ohne  und  gegen  sein  ganzes  Fühlen,  Wollen  und  Er¬ 
kennen  dorthin  gestellt  hat,  wo  er  mit  ihm  in  Überein¬ 
stimmung  sich  finden  darf.  Es  ist  die  Wohltat  dieser  Liebe 
Gottes  durch  den  Heiligen  Geist,  der  ihn  zum  Glauben  er¬ 
weckt  und  aufgerufen  hat,  in  sein  Herz  ausgegossen,  so 
daß  es  nun  von  dieser  Wohltat  ganz  erfüllt  ist,  wie  schwach 
und  böse  es  immer  sein  mag,  so  daß  aus  diesem  seinem 
Herzen  heraus  nur  jener  Ruhm  nach  außen  dringen  kann: 
quer  hindurch  durch  alles  Murren,  Seufzen  und  Klagen,  wie 
sie  diesem  Gefäß  eigentümlich  sein  dürften:  der  Ruhm  der 
Hoffnung,  der  Ruhm  der  uns  gewissen  künftigen  Herrlich¬ 
keit  Gottes,  unseres  Verbündeten  und  dann  wirklich  auch 
der  Ruhm  aller  Bedrängnis  in  der  Gegenwart,  weil  sie  die 
Hoffnung  dessen,  der  mit  Gott  Frieden  hat,  nur  größer, 
nie  kleiner  machen  kann. 

Es  ist  der  Zusammenhang  Vers  6 — 11,  in  welchem 
jenes  für  uns  so  außerordentliche  Staunen  des  Apostels 
besonders  zum  Ausdruck  kommt  und  in  Verbindung  ge¬ 
rade  damit  auch  die  schledithinige  Gewißheit,  in  der  er 


69 


der  Tatsache  gegenübersteht,  daß  Menschen  mit  Gott  Frie¬ 
den  und  darum  jenes  Leben  in  der  Hoffnung  haben  dür¬ 
fen.  Je  erstaunlicher  die  Sache  ist,  um  so  gewisser  ist  sie  — 
weil  er  höher  als  alle  Vernunft  ist,  darum  ist  er  ein  sicherer 
Friede,  das  ist  es  in  Kürze,  was  hier  gesagt  wird.  Was  ist 
es  um  jene  unser  Herz  erfüllende  Liebe  Gottes,  in  deren 
Kraft  wir  versöhnt  sind  und  jenen  Frieden  haben?  Paulus 
antwortet  in  Vers  8  mit  der  Feststellung:  Gott  beweist  sie 
damit,  daß  Christus  für  uns  starb,  da  wir  noch  Sünder 
waren.  „Da  wir  noch  Schwache,  zur  Zeit,  da  wir  noch 
Gottlose  waren“  (v.  6)  wie  Abraham  (Kap.  4,  5)!  „Als  wir 
seine  Feinde  waren,  wurden  wir  mit  Gott  versöhnt  durch 
den  Tod  seines  Sohnes“  (v.  10)!  Eine  solche  Liebe  ist  die, 
die  unsere  Herzen  erfüllt  und  regiert  durch  den  Heiligen 
Geist.  Nicht  die  erklärliche  und  verständliche  Liebe,  die 
einer  zu  seinem  guten  Freunde  hat,  für  den  er  vielleicht 
—  vielleicht  auch  nicht!  —  zu  sterben  bereit  sein  mag 
(v.  7).  Nicht  eine  solche  Liebe  also,  von  der  wir  auch 
sonst  einige  Kenntnis  und  Erfahrung  haben  mögen.  Nicht 
unsere  menschliche  Liebe  m.  e.  W.,  in  der  wir  lieben,  die 
uns  wiederlieben.  Sondern  —  wir  verstehen  jetzt,  daß  man 
bei  jenem  Frieden  an  friedliche  Gesinnungen  und  Gefühle 
nicht  denken  darf  —  Gottes  Liebe,  welche  Feindesliebe 
ist.  Darum  ist  sie  und  darum  ist  der  Friede  mit  Gott,  den 
sie  in  uns  begründet,  unbegreiflich,  wunderbar.  Daß  der 
Akt  Gottes,  in  welchem  er  seinen  Sohn  dahingibt  für  uns, 
um  uns  anzunehmen  an  seines  Sohnes  Stelle,  dieser  Akt, 
der  unseren  Frieden  mit  ihm  begründet,  der  Akt  solcher 
Liebe  ist  —  Gott  für  uns,  die  wir  gegen  ihn  sind  — ,  daß 
das  in  Jesus  Christus  wahr  und  durch  den  Heiligen  Geist 
in  unser  Herz  gegeben  ist,  so  daß  unser  Herz  davon  voll 
ist,  so  voll,  daß  es  in  lauter  Ruhm  unserer  ewigen  Herr¬ 
lichkeit  und  in  lauter  Ruhm  auch  unserer  bedrängten 
Gegenwart  ausbrechen  muß  —  darüber  staunt  Paulus. 
Aber  nun  gerade  nicht,  um  daran  zu  zweifeln!  Zweifeln 


70 


könnte  man  an  seinen  christlichen  Gesinnungen  und  Ge¬ 
fühlen  und  an  den  Konsequenzen,  die  man  ihnen  ent¬ 
nehmen  möchte.  Zweifeln  könnte  man  an  all  dem,  was 
unser  menschliches  Lieben  an  Erhebung  und  Trost  mit 
sich  bringen  mag.  Was  Gott  ist  und  tut:  die  Rechtsent¬ 
scheidung,  die  doch  gerade  als  solche  der  Beweis  seiner 
Liebe  —  der  Beweis  seiner  Liebe,  der  doch  gerade  als 
solcher  seine  Rechtsentscheidung  ist,  das  ist  so  groß,  das 
spricht  in  seiner  Größe  so  für  sich  selber,  daß  es  nicht  nur 
unzweifelhaft  ist,  sondern  die  Gewißheit  nötig  macht:  „Wir 
werden  in  seinem  Blut  vor  dem  uns  drohenden  Zorn 
Gottes  durch  ihn  gerettet  sein“  (v.  9).  Das  ist  unsere 
Zukunft:  unser  Gerettetsein  durch  ihn  in  seinem  Blute! 
Und  dementsprechend  sieht  unsere  Gegenwart  aus:  Gott 
in  seiner  Feindesliebe,  das  Blut  seines  Sohnes,  vergossen 
für  uns,  die  Sünder,  das  ist  unsere  Zukunft,  unsere  Hoff¬ 
nung.  Dieser  Gott,  Gott  in  der  Gestalt  dieses  Menschen 
kommt:  er,  der  in  seinem  Tode  allen  gerechten  Zorn  schon 
erlitten,  schon  getragen  und  hinweggetragen  hat.  Er,  in 
welchem  alles,  was  gegen  uns  spricht,  schon  widerlegt  ist.  Er, 
in  welchem  unsere  eigene  böse  Feindschaft  gegen  Gott  schon 
hinter  uns  geworfen  ist!  Er,  der  das  ganze  Elend,  der  die 
Finsternis  des  Todes,  die  diese  Feindschaft  mit  sich  bringt, 
schon  durchgemacht  und  durchschritten  hat!  Und  eben:  er, 
der  das  ganz  ohne  und  gegen  uns  getan  hat,  so  daß  wir 
nun  gar  nicht  fragen  können  und  müssen,  wie  es  von  uns 
aus  möglich  sein  möchte,  daß  wir  Frieden  mit  Gott  haben, 
mit  Gott  versöhnt  sein  können  trotz  alledem,  was  wir  sind 
und  tun!  Er,  in  welchem  es  trotz  uns  wirklich  wurde: 
wir  sind  versöhnt!  Dieser  Beweis  für  das,  was  wir  zu  er¬ 
warten  haben  und  damit  nun  doch  auch  für  den  Sinn 
unserer  Gegenwart  ist  gerade  darum  zwingend,  weil  er  so 
schlechterdings  erstaunlich  ist.  „Um  wieviel  mehr“,  so  fol¬ 
gert  Paulus  zweimal  (v.9  und  10)  — um  wieviel  mehr,  da 
jenes  Größere  von  Gott  her  Ereignis  und  Wahrheit  ist, 


71 


muß  es  auch  das  Kleinere  sein  für  uns.  Das  Größere:  das 
Wunder  der  göttlichen  Feindesliebe,  unveranlaßt,  unbe¬ 
gründet,  unableitbar  aus  irgend  welchen  menschlichen 
Gründen,  ungleich  aller  Liebe  und  allen  Wundern,  die 
uns  sonst  begegnen  mögen.  Das  Kleinere:  unser  Friede, 
unser  Versöhntsein,  unsere  künftige  Errettung  und  dar¬ 
um  der  Ruhm  und  Preis  unseres  von  der  Liebe  Gottes  er¬ 
füllten  Herzens,  wohlbegründet  —  göttlich  begründet,  aber 
gerade  so  schlechterdings  wohlbegründet  durch  das  Größere, 
was  Gott  von  sich  aus  getan  hat,  wohlbegründet  in  Gottes 
Göttlichkeit. 

In  Vers  12—21  *)  tritt  dies  in  den  Mittelpunkt,  daß  der 
eine  Jesus  Christus  es  ist,  in  welchem  die  in  Vers  1—11 
beschriebene  Entscheidung  über  den  Menschen:  daß  er 
Frieden  mit  Gott  haben  soll,  gefallen  und  offenbar  ge¬ 
worden  ist:  Jesus  Christus  als  der,  der  die  andere,  durch 
den  Menschen  selbst  vollzogene  Entsdieidung,  seinen  Ein¬ 
tritt  in  die  Feindschaft  gegen  Gott  und  in  das  Todeselend, 
das  diese  Feindschaft  mit  sich  gebracht  hat,  umgekehrt 
und  zunichte  gemacht  hat  —  Jesus  Christus,  der  gut  machte, 
was  Adam  übel  gemacht  hat.  Man  versteht  den  Abschnitt 
dann,  wenn  man  nach  Vers  12  zunächst  bei  Vers  18  und 
dann  bei  Vers  21  weiter  liest.  Der  erste  Satz  in  Vers  12  ist 
nämlich  entweder  unvollendet  oder,  was  wahrscheinlicher 
ist:  er  stellt  eine  Art  Überschrift  dar:  Wie  mit  dem  einen 
Menschen,  durch  den  die  Sünde  in  die  Welt  kam  und  durch 
die  Sünde  der  Tod  und  so  das  Übergehen  des  Todes  auf 
alle  Menschen  —  so  steht  es!  so  mit  dem  einen  Jesus  Chri¬ 
stus  nämlich!  Die  Meinung  ist:  die  ganze  durch  Adam  in 
seinem  Sündenfall  bestimmte  Geschichte  der  Menschheit, 


*)  Vgl.  zu  dieser  Stelle  die  Schrift  „Christus  und  Adam“  (Theol 
Stud.  Heft  35,  1952).  V 


72 


die  ganze  Wiederholung  seiner  Sünde  und  seines  Elends  in 
der  Gesamtheit  und  in  jedem  Einzelnen  derer,  die  seinen 
Namen,  den  Namen  „Mensch“  tragen,  ist  ein  einziges 
Gleichnis  dessen,  was  kraft  der  Gerechtigkeit  und  Liebe 
Gottes  in  Jesus  Christus  geschehen  ist.  Ein  Gleichnis,  ein 
Vorbild  (v.  14)  —  gerade  so  viel  und  nicht  mehr!  —  gerade 
darauf  und  nur  darauf  von  uns  anzusehen!  So  also  auch 
unsere  eigene  Beteiligung  daran,  so  alles  das,  was  wir  an 
Feindschaft  gegen  Gott  und  an  dem  entsprechenden  Elend 
bei  uns  selber  —  an  sich  wahrlich  nicht  mit  Unrecht!  — 
wahrzunehmen  meinen.  So  das  Ganze  unserer  Existenz, 
wenn  wir  davon  absehen  wollen,  daß  wir  ja  glauben  und  im 
Glauben  unseren  Freispruch  entgegennehmen  und  aus  und 
mit  diesem  Freispruch  leben  dürfen.  Es  soll  und  darf  uns 
das  Alles  gerade  nur  noch  an  Jesus  Christus  erinnern:  an 
die  Entscheidung  Gottes,  die  der  Entscheidung  Adams 
siegreich  gegenübersteht,  durch  die  sie  umgekehrt,  aufge¬ 
hoben  und  zunichte  gemacht  ist.  Vers  18 — 19  und  Vers  21 
enthalten  den  Kern  dessen,  was  Paulus  jener  Überschrift 
in  Vers  12  entsprechend  hier  sagen  will.  Durch  des  einen 
Menschen  Übertretung  kam  es  zum  Gericht  über  alle  Men¬ 
schen  und  so  durch  des  einen  Menschen  Rechtstat  zum 
Freispruch  Aller.  Im  Ungehorsam  des  einen  Menschen  wur¬ 
den  die  Vielen  als  Sünder  vor  Gott  hingestellt  und  im  Ge¬ 
horsam  wieder  des  einen  Menschen  die  Vielen  als  Gerechte. 
Hier  und  dort  der  Eine,  hier  und  dort  Alle,  die  Vielen. 
Hier  der  Eine,  der  mit  seinem  Sein,  Tun  und  Erleiden  der 
Zeuge  dessen  ist,  was  Alle,  was  die  Vielen  sind  und  tun 
und  zu  erleiden  haben  —  hier  Alle,  die  Vielen,  die  sich  in 
dem  Sein,  Tun  und  Erleiden  jenes  Einen  nur  zu  genau 
wiedererkennen  müssen.  Und  dort  wieder  der  Eine,  der 
wieder  für  Alle,  die  Vielen,  steht  —  und  dort  wieder  Alle, 
die  Vielen,  die  nun  auch  in  diesem  Einen  sich  selbst  wieder¬ 
erkennen  dürfen.  Hier  als  Ergebnis  der  Existenz  des  Einen 
für  Alle,  für  die  Vielen  die  Herrschaft  der  Sünde  und  des 


73 


Todes;  dort  wieder  als  Ergebnis  der  Existenz  des  Einen 
für  Alle,  für  die  Vielen,  die  Herrschaft  der  Gnade  durch 
Gerechtigkeit  zum  ewigen  Leben  (v.  21).  Man  merke,  daß 
Paulus  Adam  und  Christus,  Alle  hier  und  Alle  dort,  nicht 
einfach  nebeneinanderstellt  als  Figuren  und  Faktoren  von 
gleicher  Würde  und  gleichem  Gewicht  und  als  Träger  einer 
gleich  mächtigen  Bestimmung.  Nun  als  Gleichnis  soll  ja 
Adam  und  sollen  seine  Vielen  neben  Christus  und  seinen 
Vielen  stehen.  Nur  als  Schatten  und  Vorbild  läuft  er  vor 
Christus  her.  Nur  scheinbar  ist  er  der  Erste.  Der  Erste,  der 
Inhaber  der  Wirklichkeit,  die  jener  nur  abbilden  kann 
und  in  seiner  ganzen  Andersartigkeit  abbilden  muß,  ist 
Christus.  Hier  steht  also  nicht  Macht  gegen  Macht,  nicht 
Recht  gegen  Recht,  geschweige  denn  Gott  gegen  Gott.  Hier 
steht  Gott  gegen  den  Menschen,  weil  für  den  Menschen. 
Hier  steht  also  Recht  gegen  Unrecht,  Wahrheit  gegen  Lüge, 
Macht  gegen  Ohnmacht  —  aber  eben  so,  daß  nun  gerade 
das  Unrecht  für  das  Recht,  die  Lüge  für  die  Wahrheit,  die 
Ohnmacht  für  die  Macht,  der  sündige  Mensch  für  den 
gnädigen  Gott  Zeugnis  ablegen  muß,  daß  Gott  und 
sein  Tun  für  den  Menschen  sich  auch  in  dem  spiegelt,  ja 
offenbart,  was  der  Mensch  gegen  Gott  gewollt  und  getan 
hat.  Hier  triumphiert  Gottes  Gerechtigkeit  und  Liebe  dar¬ 
in,  daß  sie  in  dem  Bild  und  Gleichnis  der  menschlichen 
Ungerechtigkeit  und  Feindschaft  sichtbar  und  herrlich  wird. 
Daß  Paulus  es  so  meint,  wird  klar  in  Vers  15 — 17,  wo  er 
immer  wieder  darauf  hinweist,  wie  gänzlich  ungleich  die 
beiden  Partner  und  ihr  Werk  für  Alle,  für  die  Vielen,  sich 
in  Wahrheit  gegenüberstehen,  wie  die  Gnade  Gottes  und 
des  Menschen  Sünde  und  Bestrafung  (v.  15),  Gottes  Gnade 
und  Gottes  Gericht  (v.  16),  die  Herrschaft  des  Lebens  und 
die  Herrschaft  des  Todes  (v.  17)  sich  eben  nicht  die  Waage 
halten,  nicht  paritätisch  den  Charakter  von  Wirklichkeit 
haben,  sondern  wie  das  Erste  durch  das  Zweite  faktisch 
aufgewogen  und  aufgehoben,  überwunden,  übertroffen, 


74 


besiegt  und  aus  dem  Wege  geräumt  ist.  So  also,  gerade  in 
dieser  Ungleichheit,  wollen  diese  Partner  und  will  ihrer 
beider  Werk  für  Alle,  für  die  Vielen,  gesehen  und  ver¬ 
standen  werden.  Und  es  zeigt  sich  dieselbe  Absicht  des 
Paulus  noch  schärfer  in  den  Stellen  über  das  Gesetz  in 
Vers  13 — 14  und  Vers  20,  welche  sagen,  daß  auch  die  Offen¬ 
barung  und  Geltung  des  Gesetzes  —  scheinbar  die  schreck¬ 
liche  Verschärfung  des  Gegensatzes,  scheinbar  die  Verewi¬ 
gung  der  Sünde  Adams  und  des  über  ihn  gesprochenen 
Urteils  —  in  Wirklichkeit  —  wie  es  uns  in  Kap.  1,18  —  3,  20 
in  anderer  Weise  gezeigt  wurde  —  der  Offenbarung  der 
gnädigen  Entscheidung  Gottes  nur  dienen  konnte  und  fak¬ 
tisch  gedient  hat,  wie  die  Gnade  gerade  da  überströmte, 
wo  die  Übertretung  des  Menschen  durch  seine  Begegnung 
mit  dem  heiligen  Willen  Gottes  als  Übertretung,  in  ihrer 
Gestalt  als  Feindschaft  gegen  Gott,  in  ihrer  Todeswürdig¬ 
keit  sichtbar  und  aufgedeckt  wurde.  So  also,  und  nur  so 
steht  es  mit  dem,  was  gegen  uns  spricht  laut  unserer  gan¬ 
zen  menschlichen  Wirklichkeit,  die  eben  „Adam“  heißt  und 
also  Sündenherrschaft  und  Todesgebundenheit.  Gerade  das 
Bild  dessen,  der  für  uns  spricht,  vermag  diese  Wirklichkeit 
uns  zu  zeigen!  Gerade  der  göttliche  Sieger  spiegelt  sich  in 
unserer  menschlichen  Niederlage!  Gerade  von  Gottes  Gna¬ 
de  zeugt  auch  die  menschliche  Sünde,  gerade  dann,  wenn 
sie  in  ihrer  schärfsten  Beleuchtung,  nämlich  in  der  durch 
Gottes  Willen  und  Gesetz  sichtbar  wird,  wie  sie  uns  sicht¬ 
bar  werden  muß.  Und  gerade  vom  ewigen  Leben  zeugt 
der  Tod,  der  ihre  notwendige  Folge  ist.  Dann  nämlich,  wenn 
diese  ganze  Adamswirklichkeit  mit  Jesus  Christus  kon¬ 
frontiert,  wenn  sie  an  ihm  gemessen  und  von  ihm  her  ge¬ 
sehen  wird.  Daß  sie  mit  ihm  konfrontiert  ist  und  daß  sie 
darum  unsere  Versöhnung  mit  Gott,  den  Frieden  mit  Gott, 
den  wir  haben ,  nicht  in  Frage  stellen,  sondern  vielmehr 
nur  bestätigen  kann,  daß  ist  die  Voraussetzung,  von  der 
aus  er  hier  geredet  hat.  Wenn  es  bei  der  in  Jesus  Christus 


75 


gefallenen  Entscheidung,  wenn  es  beim  Glauben  an  ihn  sein 
Bewenden  hat,  dann  gibt  es  keine  andere  Voraussetzung 
und  dann  auch  hinsichtlich  Adams  und  der  ganzen  Adams¬ 
wirklichkeit  keine  andere  Folge. 


76 


6,  1—23 


Das  Evangelium  als  des  Menschen 
Heiligung 


Das  6.  Kapitel  bringt  eine  zweite  Erklärung  des  Sat¬ 
zes  in  Kap.  1,  16,  daß  das  Evangelium  Gottes  allmäch¬ 
tiges  Rettungswerk  für  jeden  Glaubenden  ist.  Man  kann 
auch  sagen:  eine  zweite  Erklärung  des  Satzes  in  Kap.  1,17, 
daß  der  durch  seinen  Glauben  vor  Gott  Gerechte  in  diesem 
seinem  Glauben  leben  wird.  Des  Menschen  Errettung  durch 
Gottes  Gnade,  d.  h.  durch  die  im  Evangelium  geschehene 
und  ausgesprochene  göttliche  Rechtsentscheidung,  besteht  ja 
darin,  daß  der  Mensch  leben  und  zwar  ewig,  unbedingt, 
jenseits  aller  Furcht  und  Macht  des  Todes  leben  darf 
(Kap.  5, 21 ;  6, 23).  Das  5.  Kapitel  hatte  dies  dahin  erläutert, 
daß  es  den  durch  seinen  Glauben  vor  Gott  Gerechten  als 
den  mit  Gott  versöhnten  Menschen  beschrieben  hat:  er  ist 
der  Feind  Gottes,  der  kraft  der  unbegreiflichen  Liebe  Got¬ 
tes  in  Jesus  Christus  zu  Gottes  Freund  gemacht  ist  (Kap. 
5,  1 — 11)  so  radikal  und  tatsächlich,  daß  er  auf  das  ganze 
Reich  der  Feindschaft  gegen  Gott,  auf  die  ganze  Welt  des 
ersten  Adam,  in  der  die  Sünde  und  der  Tod  regieren,  nur 
noch  zurückblicken  kann  als  auf  ein  Vorbild  und  Gleich¬ 
nis  der  unendlich  viel  wahreren  und  wirklicheren  Herr¬ 
schaft  der  Gnade  und  des  Lebens,  und  der  er,  laut  der 
Offenbarung  der  göttlichen  Rechtsentscheidung,  nun  stehen 
darf  (Kap.  5, 12 — 21).  Die  Erläuterung  des  6.  Kapitels  lau¬ 
tet  dahin,  daß  der  durch  seinen  Glauben  vor  Gott  Gerechte, 
der  durch  Gott  geheiligte  Mensch  ist  (v.  19  und  22).  Wir 
können  den  Begriff  gleich  vorweg  so  bestimmen:  er  ist  als 


77 


mit  Gott  versöhnter  Mensch  wirklich  in  einen  anderen  neuen 
Stand  versetzt,  nicht  durch  sich  selbst,  sondern  durch  Got¬ 
tes  Entscheidung,  die  ihn  dahin  gestellt  hat,  aber  in  Wahr¬ 
heit  und  Wirklichkeit  er  selbst.  Ihn  hat  das  Licht,  das  von 
Jesus  Christus  ihn  von  außen  traf,  nicht  bloß  äußer¬ 
lich  getroffen,  sondern  es  ist,  indem  es  ihn  von  außen 
traf,  in  ihn  hineingegangen.  Ihm  ist  nicht  zum  Schein, 
sondern  in  vollem  Ernst,  mit  der  ganzen  Kraft  eines 
göttlichen  Schöpferwortes  gesagt,  daß  er  ein  Gerechter 
ist.  „Die  Liebe  Gottes  ist  ausgegossen  in  unsere  Herzen“ 
(Kap.  5,  5),  nicht  in  Form  von  besonderen  Gesinnungen 
und  Gefühlen,  wohl  aber  in  Form  eines  tatsächlichen 
anderen  Dranseins,  einer  anderen  neuen  Verfassung, 
unter  die  er  selbst  —  das  „Herz“  heißt  in  der  Bibel: 
der  Mensch  selbst  —  und  weil  er  selbst,  darum  allerdings 
auch  sein  ganzes  inneres  und  äußeres  Leben,  gestellt  ist. 
Der  durch  seinen  Glauben  Gerechte  „wandelt  in  einem 
neuen  Leben“  (Kap.  6,  4):  nicht  aus  seinem  eigenen  Ent¬ 
schluß  (wie  sollte  er  dazu  kommen?),  aber  allerdings  in 
seinem  eigenen  Entschluß,  der  dadurch  unausweichlich  not¬ 
wendig  gemacht  ist,  daß  er  laut  der  göttlichen  Entschei¬ 
dung  Gottes  Freund  und  nicht  mehr  Gottes  Feind  ist  —  in 
dem  eigenen  Entschluß,  der  damit  selbstverständlich  ge¬ 
macht  ist,  daß  er  selbst,  sein  Herz,  jene  neue  Bestimmung: 
die  Bestimmung,  durch  die  es  erfüllende  Liebe  Gottes  er¬ 
halten  hat.  Diese  Bestimmung  ist  des  Menschen  Heiligung. 
Die  Heiligung  ist  ganz  und  gar  Gottes  Gnade:  sie  ist  nicht 
des  Menschen,  sondern  Gottes  —  des  in  Jesus  Christus  für 
den  Menschen  handelnden  Gottes  —  Sache.  Niemand  kann 
sie  sich  nehmen.  Niemand  kann  sie  von  sich  aus  wollen, 
so  oder  so  gestalten  und  durchführen.  Das  6.  Kapitel  sagt 
das  ganz  unmißverständlich.  Es  sagt  aber,  daß  eben  Gottes 
Gnade,  eben  das  Werk  des  in  Jesus  Christus  für  uns  han¬ 
delnden  Gottes  darin  besteht,  daß  wir,  wir  selbst,  tatsäch¬ 
lich  in  einem  neuen  Leben  wandeln,  andere  Menschen 


78 


schon  sind  und  daß  eben  dieses  Sein  nun  auch  die  Ordnung 
ist,  unter  der  wir  stehen  und  in  deren  Respektierung  wir 
allein  existieren  können,  der  Anspruch  und  Befehl,  durch 
den  wir  in  Beschlag  genommen  sind,  dem  zu  gehorchen 
wir  also  nicht  vermeiden  können.  Nicht  daß  wir  unsere 
Heiligung  erst  wahrzumachen  hätten  durch  unseren  Ge¬ 
horsam,  sagtRöm.  6.  Wie  wollten  wir  sie  wahrmachen?  Sie 
ist  als  unsere  Heiligung  —  genau  so  wie  unsere  Versöh¬ 
nung  mit  Gott  —  in  Jesus  Christus  ein  für  allemal  (Kap. 
6,  10)  und  also  keiner  Wiederholung  und  Bestätigung  be¬ 
dürftig,  wahr  gemacht.  Aber  eben  daß  dem  so  ist:  „Er  ist 
uns  gemacht  zur  Heiligung“  (l.Kor.  1,  30)  —  er  ist  uns 
zur  Ordnung  gemacht,  die  wir  als  schon  feststehende 
Wahrheit  unserer  Existenz  zu  respektieren,  der  wir  also 
zu  gehordien  haben,  das  ist  es,  was  in  Röm.  6  entwickelt 
wird:  von  derselben  Mitte  aus  und  im  gleichen  Sinn  wie 
das,  was  wir  in  Röm.  5  darüber  hörten,  daß  wir  mit  Gott 
Frieden  haben. 

Das  Kapitel  gliedert  sich  deutlich  in  zwei  Abschnitte: 
Vers  1 — 14  und  Vers  15 — 23.  Das  Thema  ist  in  beiden  Ab¬ 
schnitten  dasselbe:  der  durch  das  Evangelium  geheiligte 
Mensch.  Aber  der  Akzent  liegt  verschieden:  Vers  1 — 14 
(wo  der  Nerv,  wo  die  eigentliche  Aussage  des  Kapitels  zu 
finden  ist)  steht  dies  im  Vordergrund,  daß  der  veränderte 
Stand  des  durch  seinen  Glauben  vor  Gott  Gerechten  in 
einem  neuen  Sein  besteht,  Vers  15 — 23  dies,  daß  dieser 
Stand  eine  neue  im  Gehorsam  zu  respektierende  Ordnung 
ist.  Es  hängt  aber  alles  daran,  daß  man  sieht:  es  handelt 
sich  um  eine  Akzentverschiebung  und  wieder  nicht  etwa 
um  ein  Erstes,  dem  ein  Zweites  erst  folgen  müßte,  nicht 
um  eine  Ergänzung  des  guten  Willens  Gottes  durch  unsere 
menschliche  Bereitwilligkeit  und  auch  nicht  um  jene  Tei¬ 
lung:  „Das  tat  ich  für  dich,  was  tust  du  für  mich?“  Denn 
das  neue  Sein  ist,  wie  schon  in  Vers  1 — 14  ganz  deutlich 
wird,  selbst  und  als  solches  die  im  Gehorsam  zu  respek- 


79 


tierende  neue  Ordnung  des  menschlichen  Lebens.  Und  das 
eine  Motiv  zur  Respektierung  der  neuen  Ordnung  besteht 
gerade  auch  in  Vers  15 — 23  darin,  daß  diese  neue  Ordnung 
unser  neues  Sein  ist,  dessen  Gesetz  wir  auch  bei  schlech¬ 
testem  Willen  so  wenig  ausweichen  können  als  man  sich 
in  die  Luft  statt  auf  den  uns  tragenden  Boden  stellen 
kann.  Es  geht  hier  wie  dort  (v.  14  und  23)  um  Gottes 
Gnade ,  darum,  daß  eben  sie  unsere  Heiligung  ist  und  als 
solche  an  Ernst  und  Gründlichkeit,  an  tiefster  Beruhigung 
und  Beunruhigung  des  Menschen  nichts  zu  wünschen 
übrig  läßt,  nicht  zu  überbieten  ist.  Es  geht  hier  wie  dort 
um  die  Bestätigung  und  Entfaltung  des  Satzes  in  Kap.  3,31: 
Wir  richten  das  Gesetz  auf  durch  den  Glauben. 

Die  Gliederung  des  Kapitels  in  diese  zwei  Abschnitte 
ist  äußerlich  angezeigt  durch  die  zweimalige  Erwähnung 
der  Frage  in  Vers  1  und  Vers  15  —  sie  ist  inhaltlich  hier 
wie  dort  dieselbe:  Darf  man,  soll  man  vielleicht  gar  in 
der  Sünde  verharren,  die  Sünde  wollen,  da  man  doch  unter 
der  Gnade  steht,  damit  die  Gnade  als  Triumph  über  die 
Sünde  um  so  mächtiger,  um  so  herrlicher  werde?  Die  Frage 
ist  uns  schon  in  Kap.  3,  7 — 8  begegnet  und  wir  erinnern 
uns,  wie  sie  dort  als  Narrenfrage  nicht  beantwortet,  son¬ 
dern,  wie  es  sich  gehört,  niedergeschlagen  wurde.  Es  ist 
nicht  wohl  anzunehmen  —  obwohl  es  auf  den  ersten  Blick 
so  scheinen  könnte  — ,  daß  wir  Röm.  6  nun  doch  als  eine 
Beantwortung  dieser  Narrenfrage  zu  verstehen  haben.  Die 
Antwort,  die  sie  auch  hier  bekommt,  besteht  in  Vers  1  und 
Vers  15  schlicht  in  dem  einen  Wort:  „Unmöglich!“  „Das 
sei  ferne!“  Unmöglich  ist  hier  schon  jede  Auseinander¬ 
setzung.  Denn  wie  soll  man  sich  auseinandersetzen,  wenn 
man  schon  auseinander  ist?  Und  was  auf  dieses  „Unmög¬ 
lich!“  in  Vers  2  f .  und  Vers  16  f.  folgt,  das  ist  tatsächlich 
eine  Erklärung,  die  nicht  von  dem  Gegensatz  zu  jener 
Frage  bzw.  von  der  in  dieser  Frage  verborgenen  Behaup¬ 
tung  lebt,  die  vielmehr  um  ihrer  selbst  willen,  als  positive 


80 


Erklärung  einer  wichtigen  Bestimmung  des  Evangeliums 
geboten  und  notwendig  ist.  Gerade  nur  als  das,  was  „ferne“ 
ist,  kann  die  närrische  Behauptung,  die  in  dieser  Frage 
steckt,  hier  noch  und  noch  einmal  auftauchen.  Sie  signali¬ 
siert  gewissermaßen  die  Existenz  des  ungeheiligten  Men¬ 
schen,  der  nun  auch  das  Evangelium  mit  ungeheiligten 
Ohren  hören  und  mit  ungeheiligten  Lippen  aufnehmen 
und  wiederholen  möchte,  wo  doch  das  Evangelium  des 
Menschen  Heiligung  ist,  wo  doch  gerade  das  Evangelium 
unter  keinen  Umständen  so  gehört  und  wiedergegeben  wer¬ 
den,  wo  also  unter  keinen  Umständen  auch  nur  so  gefragt 
werden  kann.  Redet  doch  diese  Frage  von  einer  Sünde,  in 
der  der  Mensch  verharren  wollen  und  von  einer  Gnade,  die 
er,  der  Mensch,  durch  sein  Tun,  nämlich  durch  sein  Ver¬ 
harren  in  der  Sünde,  noch  größer  werden  lassen  könnte. 
Das  ist  aber  weder  die  Sünde,  die  durch  das  Evangelium 
gerichtet  und  abgetan,  noch  die  Gnade,  die  durch  das  Evan¬ 
gelium  geschenkt  wird.  Es  ist  bewußt  oder  unbewußt 
Lästerung  des  Evangeliums,  so  zu  fragen.  Die  Frage  kann 
gerade  nur  darum  erwähnenswert  und  interessant  sein, 
weil  sie  in  ihrer  völligen  Narrheit  anzeigt,  daß  das  echte 
Evangelium  verkündigt  worden  und  mit  dem  ungeheilig¬ 
ten  Menschen  zusammengestoßen  ist.  Immer  wenn  das  ge¬ 
schieht,  dann  taucht  diese  Frage  auf,  dann  offenbart  sich 
die  Unheiligkeit  des  das  Evangelium  hörenden  Menschen 
darin,  daß  er  es  sich  mit  dieser  Frage  vom  Leibe  zu  halten 
versucht.  Man  kann  das  Auftauchen  dieser  Frage  geradezu 
als  Kriterium  der  Echtheit  aller  Evangeliumsverkündigung 
bezeichnen.  Wo  es  zu  solcher  kommt,  da  stellen  die  Narren 
sicher  diese  Frage.  Wo  sie  sie  nicht  stellen,  da  besteht 
mindestens  der  schwere  Verdacht,  es  könnte  das  Verkün¬ 
digte  etwas  sehr  Anderes  als  das  Evangelium  gewesen 
sein.  Das  nicht  mit  dieser  Frage  gelästerte  Evangelium  ist 
schwerlich  das  echte  Evangelium.  Und  so  steht  diese  Frage 
zweimal  hier,  wie  sie  schon  im  3.  Kapitel  stand,  gewisser- 


81 


maßen  als  Anzeige:  das  echte  Evangelium  ist  auf  dem 
Plan,  und  zugleich  als  Warnung:  so  wie  es  im  Hohlspiegel 
dieser  Frage  aussieht,  sieht  das  Evangelium  in  Wirklich¬ 
keit  nicht  aus.  Um  die  Heiligung  gerade  des  ungeheiligten 
Menschen,  der  so  fragen  kann,  der  wohl  so  fragen  muß, 
geht  es  im  Evangelium. 

Der  erste  Abschnitt  (v.  1 — 14)  beginnt  nach  der  Erwäh¬ 
nung  jener  Frage  (v.  1)  mit  der  abrupten,  in  Form  einer 
Gegenfrage  vorgetragenen  Feststellung:  Wir,  die  wir  der 
Sünde  gestorben  sind,  werden  nicht  mehr  in  ihr  leben 
(v.  2).  Also:  Hinter  uns  ein  Tod,  unser  eigener  Tod,  so¬ 
fern  nämlich  unser  Leben  unser  Leben  in  der  Sünde,  unter 
der  Sünde,  für  die  Sünde  gewesen  war:  das  Leben  der 
Feindschaft  gegen  Gott.  Vor  uns  ein  Leben,  das  dieses 
durch  Tod  erledigte  Leben  jedenfalls  nicht  mehr  sein  wird. 
Daß  der  Mensch  in  der  Gegenwart  lebt,  hinter  der  diese 
Vergangenheit,  vor  der  diese  Zukunft  steht,  das  ist  seine 
Heiligung.  Aber  was  ist  das  für  eine  Gegenwart?  Paulus 
antwortet  (v.  3):  Sie  ist  die  Gegenwart  des  Menschen,  der 
die  Taufe  auf  den  Christus  Jesus  hinter  sich  hat,  dessen 
Vergangenheit,  dessen  Herkunft  schlechterdings  diese  ist, 
daß  er  (durch  seine  Taufe  bezeugt)  in  die  Gemeinschaft  mit 
Jesus  Christus  aufgenommen  wurde,  vermöge  derer  alles 
das,  was  in  Jesus  Christus  für  die  ganze  Menschheit  ein  für 
allemal  (v.  10)  geschehen  ist,  nun  auch  für  ihn  gilt,  nun 
auch  ihm  zugute  kommt.  Was  in  Jesus  Christus  für  die 
Menschheit  geschehen  ist,  ist  aber  in  seinem  Tod  geschehen. 
Und  so  ist  der,  der  auf  ihn  getauft  ist,  auf  seinen  Tod 
getauft,  will  sagen:  durch  Jesu  Christi  Tod  ist  geschehen, 
was  auch  für  ihn  geschehen  ist,  was  auch  ihm  gilt  und 
zugute  kommt.  Es  bezeugte  also  (v.  4)  seine  Taufe, 
sein  eigenes  Begräbnis:  vollzogen  in  und  mit  dem  Be¬ 
gräbnis  des  getöteten  Christus  im  Grabe  des  Joseph  von 
Arimathia.  Was  kann  also  seine,  des  getauften  Menschen, 


82 


Zukunft  sein?  Offenbar  nur  ein  der  Erweckung  Jesu 
Christi  von  den  Toten  Entsprechendes,  Vergleichbares,  Ähn¬ 
liches,  ein  Leben,  das  in  der  Auferstehung  Christi  ebenso 
begründet  ist,  wie  zuvor  sein  Tod  und  Begräbnis  in  Chri¬ 
sti  Tod  und  Begräbnis  begründet  war:  der  Wandel  in 
einem  anderen,  das  vergangene  nicht  fortsetzenden,  son¬ 
dern  schlechterdings  überbietenden  neuen  Leben.  Waren 
wir  (v.  5)  in  unserer  Taufe  „verwachsen“  mit  einer  Ent¬ 
sprechung  seines  Todes,  zugehörig  zu  einem  ganzen  großen 
Gegenbild  seines  Sterbens  und  Begrabenwerdens,  in  dem 
Maß,  daß  von  uns  in  allem  Ernst  zu  sagen  ist:  dort,  auf 
Golgatha,  sind  wir  selbst  gestorben,  dort,  in  jenem  Garten, 
sind  wir  selbst  begraben  worden,  so  muß  ja  dasselbe  auch 
im  Blick  auf  seine  Auferstehung  gelten.  Das  Gegenbild 
seiner  Auferstehung,  dem  wir  zugehören,  in  das  wir  kraft 
unserer  Taufe  „verwachsen“  sind,  ist  aber  eben  das  neue 
Leben,  in  dem  wir  jetzt,  von  unserer  Taufe  her,  nicht  erst 
wandeln  sollen,  sondern  tatsächlich  schon  wandeln,  in  die 
Zukunft  gehen.  Was  bedeutet  das  Alles?  Nun,  wir  er¬ 
kennen  (v.  6)  —  und  das  ist  unsere  Erkenntnis  Jesu 
Christi,  in  der  unser  Glaube  seinen  Grund  hat — ,  daß  „un¬ 
ser  alter  Mensch“,  d.  h.  wir  selbst  als  Feinde  Gottes,  in  und 
mit  dem  auf  Golgatha  gekreuzigten  Menschen  Jesus  ans 
Kreuz  geschlagen  und  also  getötet  worden  sind,  so  daß 
der  „Leib“  (gemeint  ist:  das  Subjekt,  die  zum  Vollzug 
nötige  Person)  der  Sünde,  der  Mensch,  der  sündigen  kann 
und  will  und  wird,  aufgehoben  ist:  beseitigt,  nicht  mehr 
vorhanden  (also  nicht  nur:  „kraftlos  gemacht“!),  aus  der 
Welt  geschafft  ist.  Wir  können  der  Sünde  darum  nicht 
mehr  dienen,  weil  der  Mensch,  der  das  konnte  —  der 
überhaupt  nichts  Anderes  konnte  als  dies:  der  Sünde  die¬ 
nen  —  gar  nicht  mehr  lebt,  gar  nicht  mehr  da  ist.  Fernerer 
Sündendienst  wäre  das  in  sich  unmögliche  Unternehmen, 
unsere  Vergangenheit  rückgängig  machen  zu  wollen,  den 
laut  unserer  Taufe  schon  getöteten  und  begrabenen  alten 


83 


Menschen  noch  einmal  aufleben  zu  lassen.  An  den  Men¬ 
schen,  der  jenen  Tod  —  den  laut  seiner  Taufe  auch  für 
ihn  geschehenen  Tod  Jesu  Christi  —  hinter  sich  hat, 
hat  die  Sünde  kein  Recht,  keinen  Anspruch  mehr  (v.  7). 
Er  ist  aus  ihrem  Dienst  entlassen  und  kann  ihn,  wenn  er 
schon  wollte  —  es  handelt  sich  um  eine  entschiedene  Rechts¬ 
frage  —  nicht  wieder  aufnehmen.  Was  er  vor  sich  hat,  das 
kann  auf  alle  Fälle  (v.  8)  nur  noch  ein  Leben  mit  Christus, 
ein  seiner  Auferstehung  entsprechendes,  ein  von  jenem 
Dienst  befreites  Leben  sein:  so  gewiß  Christus  —  der  von 
den  Toten  auferweckte  Christus  (v.  9)  —  keinen  neuen 
weiteren  Tod  vor  sich  hat,  so  gewiß  der  Tod  auf  ihn  keinen 
Anspruch  und  über  ihn  keine  Gewalt  mehr  hat,  so  gewiß 
er  (v.  10)  der  Sünde  —  als  der  mit  unserer  Sünde  Be¬ 
ladene,  als  der  für  unsere  Sünde  Büßende,  als  der  die 
Strafe  unserer  Sünde  Erleidende  —  ein  für  allemal  ge¬ 
storben  ist,  so  gewiß  er  jetzt  Gott:  Gott  allein  und  in  kei¬ 
ner  Weise  einem  künftigen  Tod  entgegenlebt:  das  reine, 
das  unbedingte,  das  ewige  Leben  des  zur  Rechten  des  Va¬ 
ters  erhöhten  Menschen.  Was  bleibt  dem  auf  ihn  getauften 
Menschen  schon  übrig,  als  jene  Gegenwart,  von  der  aus  er 
seine  Vergangenheit  und  seine  Zukunft  so  ansehen  muß, 
wie  sie  in  dem  erstaunlichen  Satz  in  Vers  2  beschrieben 
wurde?  Welche  andere  Selbstbetrachtung  und  Selbstbeur¬ 
teilung  (v.  11)  soll  ihm  erlaubt  und  möglich  sein  als  die: 
Ich  bin  für  die  Sünde  tot,  abwesend,  nicht  mehr  vorhan¬ 
den,  idi  bin  von  der  Sünde  abgeschnitten  und  getrennt  — 
ich  lebe,  weil  nicht  mehr  für  sie,  darum  für  Gott,  der  diesen 
Schnitt  zwisdien  ihr  und  mir  vollzogen  hat:  in  Christus 
Jesus  nämlich,  auf  Grund  dessen  und  in  Wahrheit  dessen, 
daß  ich  zu  jenem  Gegenbild  seines  Sterbens  und  seines 
Lebens  gehöre  —  auf  Grund  dessen  und  in  Wahrheit 
dessen,  daß,  was  ihm  geschah,  für  mich  geschah,  mit  sol¬ 
cher  Autorität  und  Legitimität  für  mich  geschah,  daß, 
was  immer  aus  mir  und  durch  mich  geschehen  möge,  durch 


84 


jenes  für  mich  Geschehene  nicht  nur  zugedeckt,  sondern 
ausgewischt  ist,  daß  ich  nicht  mehr  unter  meiner  eigenen, 
sondern  unter  seiner  Verantwortlichkeit  stehe,  nicht  mehr 
mir  selbst,  sondern  eben  ihm  gehöre.  Das  ist  die  Selbst¬ 
betrachtung  und  Selbstbeurteilung  des  Glaubens  (v.  8), 
in  der  wir  unsere  Heiligung  erkennen  und  ihr  werden 
wir  hinsichtlich  unserer  Existenz,  hinsichtlich  alles  dessen, 
was  aus  uns  und  durch  uns  geschieht,  nichts  Anderes  ent¬ 
nehmen  können  als  dies  (v.  12),  daß  die  Sünde  nicht  mehr 
herrschen  darf  „in  unserem  sterblichen  Leibe“,  d.  h.  in 
dem  Sterblichen,  was  jetzt  und  hier  noch  unsere  Gestalt 
ist  als  Subjekte,  die  von  dem  Subjekt  Jesus  Christus 
verschieden  sind.  Sie  darf  es  nicht,  weil  sie  es  nicht  mehr 
kann,  weil  wir  ja  gerade  in  dieser  Gestalt  getauft,  mit 
dem  Gegenbilde  seines  Todes  und  seiner  Auferstehung  „ver¬ 
wachsen“  und  damit  der  Sünde  gestorben,  von  der  Sünde 
abgeschnitten,  der  Herrschaft  der  Sünde  entrückt  sind.  Die 
Begierden,  die  dieser  unserer  sterblichen  Gestalt  als  solcher 
eigentümlich  sind,  haben  darum  keinen  legitimen  Anspruch 
auf  unseren  Gehorsam,  weil  wir  schon  in  dieser  unserer 
sterbenden  Gestalt  nicht  uns  selbst,  sondern  Jesus  Chri¬ 
stus  gehören,  weil  das  Subjekt,  das  der  Sünde  untertan 
und  gehorsam  sein  müßte  und  könnte,  schon  jetzt  und  hier 
nicht  mehr  lebt,  weil  wir  auch  in  dieser  sterbenden  Gestalt 
eine  andere  Zukunft  als  die  in  der  Zugehörigkeit  zu  Jesus 
Christus  nicht  vor  uns  haben.  Aus  jener  Selbstbetrachtung 
und  Selbstbeurteilung  folgt  also  das  Verbot:  „Gebt  eure 
Glieder  (eure  Lebensmöglichkeiten  und  Lebensäußerungen 
in  jeder  Hinsicht!)  nicht  her  zu  Werkzeugen  der  Unge¬ 
rechtigkeit!“  und  folgt  das  Gebot:  „Stellt  euch  Gott  (als 
das,  was  ihr  seid)  als  solche,  die  aus  Toten  zu  Lebenden 
geworden  sind,  zur  Verfügung  und  eure  Glieder  zu  Werk¬ 
zeugen  der  Gerechtigkeit  für  Gott!“  (v.  13).  Tut  jenes 
nicht,  weil  ihr  es  nicht  tun  könnt!  Tut  dieses,  weil  dieses 
das  allein  Mögliche  ist:  weil  (v.  14)  die  Sünde  nicht  über 


85 


euch  herrschen  wird.  Man  beachte  die  Erklärung  des  Im¬ 
perativs  von  Vers  12  durch  diesen  Indikativ.  Die  Sünde 
wird  nie  und  unter  keinen  Umständen  ein  Herrschafts¬ 
recht,  eine  wirkliche  Macht,  über  euch  haben:  auch  wenn 
ihr  jenes  tun  und  dieses  nicht  tun  würdet.  Es  kann  von 
irgend  einer  Begründung  der  Sünde  bei  euch,  den  getauf¬ 
ten  Menschen,  keine  Rede  sein.  Gerade  bei  euch  nicht! 
Weil  ihr  ja  nicht  unter  dem  Gesetz  steht,  das  euch  noch 
einmal  der  Sünde  anklagen,  das  bestätigen  könnte,  daß 
ihr  Sünder  seid,  sondern  unter  der  Gnade,  durch  die  ihr 
von  der  Sünde  freigesprochen  seid,  weil  ja  eben  der  Richter 
selbst  nicht  gegen,  sondern  für  euch  gesprochen  und  gerade 
damit  Gottes  Rechtsentscheidung  über  euch  ausgesprochen 
und  schon  an  euch  vollzogen  hat.  Weil  es  mit  eurer  Heili¬ 
gung  steht,  daß  sie  unabhängig  von  eurem  guten  oder 
bösen  Willen  Ereignis  ist,  weil  das  Nein  der  Sünde  und  das 
Ja  zu  einem  neuen,  der  Sünde  abgewandten,  Gott  zuge¬ 
wandten  Leben  für  euch  endgültig  und  darum  schon  jetzt 
und  hier  gültig  feststeht,  darum  müßt  ihr,  darum  sollt 
ihr  nicht  mehr  das  Leben  des  alten  Menschen  leben,  dar¬ 
um  in  dem  neuen  Leben  wandeln.  Ihr  habt  gar  kein  ande¬ 
res!  Ihr  habt  nur  das  Leben  in  der  Gemeinschaft  mit 
dem,  der  die  Sünde,  gerade  eure  Sünde,  auf  sich  genom¬ 
men  und  hinweggetragen  und  der  nun  ganz  allein  das 
Leben  mit  Gott  vor  sich  hat.  Das  ist  die  Kraft  des  Impe¬ 
rativs  eurer  Heiligung. 

Der  zweite  Abschnitt  (v.  15 — 23)  rückt  nach  nochmaliger 
Erwähnung  jener  Narrenfrage  (v.  15)  dies  in  den  Vorder¬ 
grund,  daß  die,  die  laut  Vers  14  unter  der  Gnade  stehen, 
eben  damit  unter  einer  bestimmten  Ordnung,  in  ein  Dienst¬ 
verhältnis  versetzt  sind.  Man  beachte,  daß  Paulus  in  Vers  19 
sagt,  daß  es  sich  bei  dieser  Betrachtungsweise  um  eine 
„menschliche  Weise“  handelt,  angebracht  „um  der  Schwach¬ 
heit  eures  Fleisches  willen“,  von  ihm  dazu  eingeführt,  um 


86 


sich  ganz  und  sicher  und  jedenfalls  praktisch  verständlich 
zu  madien,  wenn  etwa  das  Vers  1 — 14  Gesagte  nicht  greif¬ 
bar  genug  geworden  sein  sollte  —  aber  auch  unter  der  War¬ 
nung,  daß  das  Greifbare,  das  Praktische,  was  nun  kommt, 
doch  ja  nicht  abstrakt,  ja  nicht  anders  als  im  Lichte,  nicht 
anders  denn  als  Anwendung  dessen  gehört  und  verstanden 
werden  möchte,  was  er  dort  gesagt  hat. 

Der  Mensch  steht  so  oder  so  unter  einer  Herrschaft, 
hören  wir  in  Vers  16.  Er  ist  entweder  ein  Knecht  der 
Sünde  oder  ein  Knecht  des  Gehorsams.  Sünde  und  Ge¬ 
horsam  sind  also  nicht  zuerst  unsere  Taten,  sondern  be¬ 
vor  sie  das  sind,  die  uns  so  oder  so  beherrschenden 
Mächte.  Das  ist  aber  die  nicht  genug  zu  preisende  Gnade 
Gottes  (v.  17),  daß  wir  Knechte  der  Sünde  wohl  waren, 
aber  nun  nicht  mehr  sind;  sind  wir  doch  dem  Evange¬ 
lium,  indem  es  uns  gesagt  und  von  uns  vernommen 
wurde,  von  Herzen  und  also  mit  unserer  ganzen  Existenz 
gehorsam  und  so  zu  Untertanen  jenes .  zweiten  Bereichs, 
zu  Knechten  des  Gehorsams  geworden:  von  der  Sünde 
befreit  und  zu  Knechten  der  Gerechtigkeit  gemacht.  Zu 
Knechten?  Hier  schaltet  Paulus  (v.  19)  jene  Bemerkung 
ein:  es  geht  ja,  eigentlich  geredet,  nicht  um  Knechtschaft 
in  diesem  neuen  Stand,  sondern  gerade  um  Freiheit. 
Aber  sei  es  denn:  es  kann  jedenfalls  das,  daß  wir  nicht 
mehr  Knechte  der  Sünde  sind,  daran  klar  gemacht  wer¬ 
den,  daß  wir  jetzt  tatsächlich  unter  einer  anderen  Herr¬ 
schaft,  in  einem  neuen  Reich  leben,  „Knechte  der  Freiheit“ 
sind  —  so  würde  wohl  das  Eigentliche  lauten,  was  Pau¬ 
lus  hier  nur  uneigentlich  „menschlicher  Weise“  gesagt 
haben  will.  Wieder  wird  jetzt  das  alte  vergangene  Leben 
der  Sündenknechtschaft  (Kap.  5,  12  f.)  zum  Gleichnis  des 
Lebens,  das  vor  uns  liegt:  wie  damals  so  jetzt!  So  jetzt: 
diese  bessere  Entsprechung  der  Herrschaft,  unter  der  wir 
damals  standen,  ist  unsere  Heiligung,  das  Leben  unter 
dem  göttlichen  Ja,  durch  das  unser  Leben  unter  dem 


87 


göttlichen  Nein  überholt,  überboten  und  erledigt  ist.  Und 
dem  folgt  in  Vers  20 — 22  die  Gegenüberstellung:  „Wie 
ihr  damals  unter  einer  Herrschaft  standet  und  jetzt  wie¬ 
der  unter  einer  Herrschaft  steht,  so  wart  ihr  damals  frei: 
von  der  Gerechtigketi  nämlich,  in  einer  furchtbaren  Frei¬ 
heit,  deren  notwendige,  schändliche  Folge,  als  Frucht  der 
Sünde  der  Tod  ist.  Und  so  seid  ihr  jetzt  wieder  frei, 
frei  nämlich  eben  von  der  Sünde,  indem  ihr  Gottes 
Knechte  geworden  seid  mit  der  Folge,  daß  ihr  durch  seine 
Entsdieidung  und  die  damit  aufgerichtete  Ordnung  ge¬ 
heiligte  Menschen  seid,  die  als  solche  dem  ewigen  Leben 
entgegeneilen.  Also  Tod  ist  dort  der  Lohn,  der  Sold, 
(v.  23),  ewiges  Leben  ist  hier  die  Gnadengabe.  Ihr  seid 
nicht  Söldlinge,  ihr  seid  nicht  Lohndiener,  ihr  empfangt 
und  habt  die  Gabe  der  Gnade.  Dieses  Empfangen  und 
Haben  ist  euer  Sein  und  dieses  als  solches  ist  die  Ord¬ 
nung,  unter  der  ihr  lebt,  der  Imperativ,  dem  ihr  zu  ge¬ 
horchen  habt,  weil  ihr  außerhalb  dieser  Ordnung  über¬ 
haupt  nicht  da  seid.  Weil  dem  so  ist,  darum  ist  das  Evan¬ 
gelium  auch  unter  diesem  Gesichtspunkt  notwendig  und 
als  solches:  eure  Heiligung. 


88 


7,  1—25 


Das  Evangelium  als  des  Menschen 
Befreiung 


Das  7.  Kapitel  *)  bringt  eine  weitere,  dritte  Erklärung 
des  Satzes  in  Kap.  1,  16,  daß  das  Evangelium  Gottes  all¬ 
mächtiges  Rettungswerk  für  jeden  Glaubenden  ist,  eine 
dritte  Erklärung  des  Satzes  in  Kap.  1,  17,  daß  der  durch 
seinen  Glauben  vor  Gott  Gerechte  kraft  dieses  seines 
Glaubens  leben  wird.  Wir  hören  jetzt:  das  Evangelium 
ist  des  Menschen  Befreiung  —  seine  Befreiung  vom  Ge¬ 
setz  nämlich.  So  lesen  wir  es  an  der  entscheidenden  Stelle 
des  Gleichnisses  am  Anfang  dieses  Kapitels  (v.  3)  und 
so  dann  auch  in  dem  Rückblick  am  Anfang  des  folgenden 
(Kap.  8,  2).  Aber  gerade  die  Stelle  in  Kap.  8,  2  mahnt 
uns  sofort  zur  Genauigkeit.  Daß  wir  von  dem  „Gesetz 
der  Sünde  und  des  Todes“  befreit  sind,  heißt  es  dort,  und 
es  darf,  wenn  man  Römer  7  verstehen  will,  an  keiner 
Stelle  übersehen  werden,  daß  von  diesem  und  nur  von 
diesem  Gesetz  die  Rede  ist.  Daß  wir  von  diesem  Gesetz 
befreit  sind:  für  dieses  Gesetz  erledigt,  ihm  enthoben,  ja 
getötet,  das  ist  die  in  dem  ersten  Abschnitt  (v.  1 — 6) 
enthaltene  und  durch  den  Schluß  (v.  24 — 25)  bestätigte 
eigentliche  Aussage  unseres  Kapitels.  Alles  übrige  ist 
nämlich  nicht  eine  Fortsetzung  dieser  Hauptaussage,  son¬ 
dern  eine  in  zwei  weiteren  Abschnitten  (v.  7 — 12  und 
v.  13 — 23)  verlaufende  Erläuterung  des  besonderen 
Sinnes,  in  welchem  in  Vers  1 — 6  vom  Gesetz  die  Rede 


*)  Vgl.  dazu  KD  IV,  i,  S.  648  f. 


89 


ist,  des  besonderen  Sinnes  also,  in  welchem  dort  von  ihm 
gesagt  wird,  daß  wir,  die  an  das  Evangelium  Glauben¬ 
den,  von  ihm  befreit  sind.  Man  vergleiche  Kap.  8,  2  mit 
Kap.  7,  7  und  Kap.  7,  13,  so. bemerkt  man  sofort,  daß 
in  jenem  zweiten  und  dritten  Abschnitt  des  7.  Kapitels 
erläutert  wird,  wieso  und  inwiefern  das  Gesetz  1.  ein 
Gesetz  der  Sünde  und  2.  ein  Gesetz  des  Todes  sein  kann, 
von  dem  wir  durch  das  Evangelium  befreit  sind. 

Das  7.  Kapitel  ist  von  jeher  eine  der  am  meisten  be¬ 
achteten  und  hervorgehobenen  Stellen  des  Römerbriefes 
gewesen.  Dagegen  wäre  nichts,  sondern  dafür  wäre  sehr 
vieles  zu  sagen,  wenn  man  dabei  an  die  allerdings  außer¬ 
ordentliche  Tragweite  der  in  Vers  1 — 6  und  Vers  24 — 25 
ausgesprochenen  Erkenntnis  von  unserer  Befreiung  vom 
Gesetz  der  Sünde  und  des  Todes  gedacht  hätte.  Es  ist 
aber  kein  gutes  Zeugnis  für  das  Verständnis  unseres 
Briefes,  daß  das  besondere  Interesse  so  vieler  Leser  sich 
gerade  nicht  auf  diese  Hauptaussage,  sondern  auf  ihre 
nachträglichen  Erläuterungen  und  vor  allem  auf  die 
zweite  in  Vers  13 — 23  gerichtet  hat,  wo  das  Gesetz,  von 
dem  wir  befreit  sind,  im  besonderen  als  das  Gesetz  des 
Todes,  d.  h.  als  das  uns  zum  Tod  verurteilende  Gesetz 
beschrieben  wird.  Eine  höchst  interessante,  höchst  auf¬ 
regende  Psychologie  der  Sünde  in  ihrem  Verhältnis  zu 
Gottes  Gesetz  meinte  man  dort  zu  finden  und  übersah 
dabei,  daß  es  sich  in  Vers  13 — 23  wie  Vers  7 — 12  sozu¬ 
sagen  um  kleingcdruckte  Anmerkungen  handelt,  in  denen 
Paulus  die  Bedeutung  und  Wirksamkeit  des  Gesetzes 
beschreibt,  von  dem  wir  im  Glauben  gerade  befreit  bzw. 
für  das  wir  selbst  im  Glauben  gerade  nicht  mehr  vor¬ 
handen  sind,  in  denen  also  eine  Situation  dargestellt  wird, 
die  uns  nur  noch  als  die  im  Glauben  überholte  Situation 
unserer  eigenen  Vergangenheit  interessieren  kann,  in 
welcher  wir  uns  weder  zur  Sünde  noch  zum  Gesetz  in 
der  richtigen  Stellung  befinden,  in  der  nachträglich  zu 


90 


verweilen  oder  die  für  sich  ernst  zu  nehmen  wir  durch 
das,  was  Paulus  über  sie  sagt,  bestimmt  nicht  eingeladen 
sind.  Nicht  auf  das  will  er  unsere  Aufmerksamkeit  len¬ 
ken,  was  da  gilt  und  passiert ,  von  wo  wir  im  Glauben 
weggerufen  sind,  sondern  darauf,  daß  wir  von  da,  wo 
das  gilt  und  passiert,  im  Glauben  weggerufen  sind:  also 
darauf,  daß  der  Bereich  der  Psychologie  der  Bereich  ist, 
in  welchem  wir  —  glaubend  an  das  Evangelium  —  nichts 
zu  suchen  und  nichts  zu  finden  haben  —  Gnade  und  Leben 
schon  gar  nicht,  aber  nicht  einmal  die  Erkenntnis  unserer 
wirklichen  Sünde.  Inwiefern  ist  er  ernstlich  wichtig?  Ge¬ 
nau  nur  insofern,  als  er  der  Bereich  ist,  den  wir  im 
Glauben  an  das  Evangelium  hinter  uns,  in  unserem 
Rücken  haben.  Von  dem  Dahintenliegen  dieses  Bereichs 
redet  Röm.  7  auch  in  den  Abschnitten  Vers  7 — 12  und 
Vers  13—23. 

Die  Hauptaussage  in  Vers  1 — 6  beginnt  in  Vers  1  mit 
einer  rückwärts  blickenden  Frage:  „Oder  wißt  ihr  nicht, 
Brüder . . .“  —  die  entscheidende  Fortsetzung  lautet  nach 
Vers  6:  daß  wir  dem  Gesetz  enthoben  und  entrückt,  für 
das  Gesetz  erledigt  sind?  Indem  Paulus  offenbar  an¬ 
nimmt,  daß  die  Leser  das  nicht  oder  nicht  gut  und  genau 
genug  wissen,  setzt  er  zu  dieser  weiteren  Erklärung  an: 
das  Evangelium  ist  auch  in  dem  Sinn  Gottes  allmächtiges 
Rettungswerk,  daß  es  des  Menschen  Befreiung  ist,  seine 
Befreiung  vom  Gesetze.  Die  Frage  blickt  offenbar  zurück 
auf  eine  bestimmte  Stelle  im  6.  Kapitel,  nämlich  auf 
Kap.  6,  14  (vergl.  Kap.  6,  15),  wo  Paulus  den  Satz:  die 
Sünde  wird  nicht  über  euch  herrschen,  mit  dem  anderen 
Satz  begründet  hatte:  „Ihr  seid  nicht  unter  dem  Gesetz, 
sondern  unter  der  Gnade“.  Im  Zusammenhang  der  Er¬ 
kenntnis  des  6.  Kapitels:  daß  wir  darum  nicht  mehr 
sündigen  dürfen,  weil  wir  es  nicht  mehr  können  und 
darum  nicht  mehr  können,  weil  wir  als  die,  die  das  konn¬ 
ten,  im  Tode  Jesu  Christi  gestorben  und  also  nicht  mehr 


91 


vorhanden,  weil  wir  durch  die  Auferstehung  Jesu  Christi 
unter  eine  Ordnung  versetzt  sind,  die  die  Sünde  aus¬ 
schließt  —  in  diesem  Zusammenhang  war  jener  Satz  zu¬ 
nächst  nur  aufgetaucht,  um  dann  wieder  zu  verschwin¬ 
den.  Er  hatte  vorweggenommen,  was  jetzt  besonders  zur 
Aussprache  kommen  soll:  ihr  dürft,  ihr  könnt  darum 
nicht  mehr  sündigen,  weil  mit  euch  selbst,  nämlidi  mit 
eurem  im  Tode  Jesu  Christi  mitgestorbenen  alten  Men¬ 
schen  auch  die  eigentliche  „Kraft“  der  Sünde  (so  sagt 
Paulus  in  1.  Kor.  15,  56)  nämlich  das  Gesetz,  nicht  mehr 
über  euch  ist,  weil  ihr  als  die  mit  Jesus  Christus  Gestor¬ 
benen  und  Auferstandenen  unter  der  Gnade  und  nicht 
mehr  unter  dem  Gesetz  steht.  Paulus  hatte  dasselbe 
schon  früher  beiläufig  angedeutet:  „Wo  das  Gesetz  nicht 
ist,  da  ist  keine  Übertretung"  (Kap.  4,  15).  Aber  er  ver¬ 
mutet  offenbar,  daß  gerade  diese  Erkenntnis,  in  Form  sol¬ 
cher  bloß  beiläufigen  und  andeutenden  Sätze  vorgetragen, 
die  Leuchtkraft  nicht  haben  möchte,  die  gerade  sie  haben 
muß.  Er  vermutet  offenbar,  daß  Anderes,  was  er  bis  da¬ 
hin  vom  Gesetz  in  ähnlicher  Beiläufigkeit  gesagt,  den 
Lesern  viel  eindrücklicher  gewesen  sein  oder  jenen  An¬ 
deutungen  doch  in  rätselhaftem  Widerspruch  gegenüber¬ 
stehen  möchte:  „Das  Gesetz  richtet  Zorn  an“  (Kap.  4,  15) 
oder  „Das  Gesetz  ist  zwischenhineingekommen  und  so  ist 
die  Übertretung  erst  groß  geworden“  (Kap.  5,  20).  Er 
vermutet  offenbar,  daß  Alles,  was  er  im  6.  Kapitel  über 
das  Evangelium  als  des  Menschen  Heiligung  gesagt  hatte, 
beschattet  und  bedroht  sein  könnte  durch  die  Frage:  ob 
denn  das  Gesetz  nicht  nach  wie  vor,  d.  h.  trotz  des  Todes 
und  der  Auferstehung  Jesu  Christi,  trotz  unseres  Glau¬ 
bens  an  ihn  und  trotz  unserer  Taufe  auf  seinen  Namen, 
die  Sünde  immer  wieder  ins  Leben  rufe  und  im  Leben 
erhalte,  um  uns  dann  als  Sünder  anzuklagen  und  somit 
unsere  Heiligung,  damit  aber  auch  unsere  Versöhnung 
mit  Gott  und  also  das  ganze  Rettungswerk  des  Evange- 


92 


liums  zunichte  zu  machen  und  Gottes  Rechtsentscheidung, 
daß  wir  im  Glauben  an  Jesus  Christus  vor  ihm  Gerechte 
seien,  Lügen  zu  strafen.  Ob  das  Gesetz  in  dieser  Funktion 
und  als  diese  Gefahr  für  die  Glaubenden  immer  noch 
vorhanden  sei?  das  ist  die  in  Röm.  7  von  Paulus  ver¬ 
neinte  Frage:  verneint  durch  die  Erklärung,  daß  wir  vom 
Gesetz,  d.  h.  von  diesem  Gesetz  der  Sünde  und  des  Todes 
befreit  sind.  Es  ist  eine  Erklärung,  die  allerdings  der  Er¬ 
läuterung  bedarf.  Ihrer  Erläuterung  hinsichtlich  der  hier 
gemachten  Voraussetzung  des  Gesetzes,  das  uns  zur  Sün¬ 
de  verführt  und  andererseits  wegen  der  Sünde  anklagt 
und  zum  Tode  verurteilt,  dienen  die  Abschnitte  Vers 
7 — 12  und  Vers  13 — 23.  Sie  muß  aber  vor  aller  Erläute¬ 
rung  ausdrücklich  ausgesprochen  werden.  Das  geschieht 
in  Vers  1 — 6  und  in  den  Schluß versen  in  Vers  24 — 25. 

Vers  1  beginnt  mit  dem  allgemeinen,  jedem,  der  weiß, 
was  ein  Gesetz  ist,  bekannten  und  einleuchtenden  Satz,  daß 
das  Gesetz  den  lebenden  Menschen  meint  und  beherrscht. 
Daß  also  der  Tod  dieses  Menschen  wie  seine  Verpflichtun¬ 
gen  Anderen,  so  auch  alle  Verpflichtungen  Anderer  ihm 
gegenüber  hinfällig  macht.  Der  lebende  und  also  dem  Ge¬ 
setz  unterworfene  Mensch,  von  dem  Paulus  redet,  ist  der 
(nach  Vers  5)  „im  Fleisch“,  also  als  jener  „alte  Mensch“ 
(Kap.  6,  6)  lebende  Mensch.  Ihn  betrifft,  ihn  bindet  zwei¬ 
fellos  das  Gesetz:  das  „Gesetz  der  Sünde  und  des  Todes“ 
(Kap.  8,  2)  nämlich,  welches  Paulus  entsprechend  der 
Frage,  die  er  zu  beantworten  hat,  zum  vorherein  allein 
im  Auge  hat:  das  Gesetz,  durch  das  (nach  v.  5)  einerseits 
die  Sündenleidenschaften  in  unsern  Gliedern,  in  unserm 
ganzen  Leben  erregt,  andererseits  Todesfurcht  (Kap.  6,  21) 
durch  das  Urteil,  das  es  über  uns  spricht,  notwendig  ge¬ 
macht  wird.  Das  Leben  dieses  Menschen  wird  immer  und 
unter  allen  Umständen  sein  Leben  unter  diesem  Gesetz 
sein.  Und  nun  setzt  in  Vers  2  eine  Gleichnisrede  ein.  So- 


93 


lange  dieser  Mensch,  dieser  Mann,  heißt  es  jetzt  —  lebt, 
ist  seine  Frau  durch  das  ihn  —  und  solange  er  lebt, 
auch  sie  —  verpflichtende  Gesetz  an  ihn  gebunden.  Mit 
anderen  Worten:  Solange  wir  (der  Mann!)  im  Fleische 
als  jener  alte  Mensch  leben,  sind  wir  (die  Frau!)  durch 
das  jenen  alten  Menschen  und  mit  ihm  uns  selbst  bin¬ 
dende  Gesetz  bestimmt,  stehen  wir  in  der  Tat  unter  der 
Notwendigkeit,  durch  das  Gesetz  erst  recht  zu  Sündern  und 
dann  als  solche  angeklagt  zu  werden.  Das  Gesetz  des 
lebenden  Mannes  ist,  solange  er  lebt,  auch  unser  Gesetz. 
Stirbt  der  Mann  (d.  h.  wir  selbst  als  die  im  Fleisch  Leben¬ 
den),  dann  ist  die  Frau  wie  ihm,  so  audi  dem  sie  und 
ihn  bindenden  Gesetz  entrückt,  d.  h.  dann  sind  wir  selbst 
als  die  durch  den  Tod  des  alten  Menschen  in  einen  neuen 
Stand  Versetzten  nicht  mehr  unter  jener  Notwendigkeit; 
das  Gesetz  als  Erreger  und  Ankläger  unserer  Sünde  hat 
dann  uns  gegenüber  seine  Kraft  verloren.  Es  bedarf  frei¬ 
lich  (v.  3)  des  Todes  jenes  Mannes,  damit  seine  Frau 
rechtmäßig  frei  werde.  Würde  sie  sich  diese  Freiheit  neh¬ 
men  und  zu  Lebzeiten  ihres  Mannes  einem  anderen  ge¬ 
hören,  dann  würde  sie  durch  das  Gesetz,  das  sie  an  ihn 
bindet,  als  Ehebrecherin  verklagt  und  gerichtet  sein.  Mit 
anderen  Worten:  ohne  den  Tod  des  alten  Menschen 
könnte  jeder  Versuch,  uns  dem  Gesetz  der  Sünde  und  des 
Todes  zu  entziehen,  jeder  Versuch,  der  Sünde  und  dem 
Tod  zu  entlaufen,  nur  die  Folge  haben,  daß  wir  durch 
dasselbe  Gesetz  erst  recht  der  Sünde  überführt  und  des 
Todes  schuldig  gesprochen  würden.  Was  bringen  wir,  so¬ 
lange  und  sofern  wir  im  Fleische  leben,  in  dieser  Riditung 
schon  fertig,  als  das,  was  das  Alte  Testament  als  quali¬ 
fizierten  Ehebruch  Israels  seinem  Gott  gegenüber  bezeich¬ 
net:  allerlei  Götzendienst  und  allerlei  Werkgerechtigkeit, 
Sünde,  die  die  Sünde  nicht  austreibt,  sondern  erst  zu  ihrer 
Blüte  bringt  und  die  unser  Todesurteil  nur  unwiderruf¬ 
lich  machen  kann?  Die  Frau  kann  aber  von  dem  Gesetz, 


94 


das  sie  an  den  Mann  bindet,  dadurch  faktisch  frei  wer¬ 
den,  daß  jener  stirbt.  Sie  kann  dann  laut  desselben  Ge¬ 
setzes,  das  sie  an  jenen  band,  ohne  Anklage  einem  ande¬ 
ren  gehören.  Mit  anderen  Worten:  wir  können  von  dem 
Gesetz  der  Sünde  und  des  Todes  dadurch  faktisch  und 
damit  auch  rechts-  und  ordnungsmäßig  frei  werden,  daß 
wir  als  die,  die  im  Fleische  lebten,  nicht  mehr  da,  nicht 
mehr  anzusprechen,  weil  getötet  und  gestorben  sind,  so 
daß  uns  das  diesen  alten  Menschen  angehende  Gesetz 
nicht  mehr  angeht,  so  daß  wir  nun  —  anderswo  als 
unter  diesem  Gesetz  —  andere,  von  seinem  Erregen 
und  Verurteilen  der  Sünde  nicht  mehr  betroffene,  son¬ 
dern  befreite  Menschen  sein  können.  Vers  3 — 6  bringen 
die  Deutung  des  Gleichnisses.  Sie  setzt  bei  dessen  letztem 
Gliede  ein.  Für  den  Glaubenden  ist  eben  das  Ereignis, 
was  die  Frau  vom  Manne  und  damit  von  ihrer  eigenen 
Bindung  durch  das  Gesetz  frei  macht.  Sie  sind  (laut  Kap. 
6,  2  f.)  dem  Gesetz  der  Sünde  und  des  Todes  dadurch 
entrückt,  daß  ihr  alter  Mensch  getötet,  nämlich  mitgetötet 
wurde  in  der  leiblichen  Tötung  Jesu  Christi.  Aber  hier 
sprengt  nun  die  Sache  das  Gleichnis.  Denn  mit  dieser 
ihrer  in  Jesus  Christus  geschehenen  Tötung  sind  sie  ja 
nicht  nur  wie  jene  Frau  in  die  Freiheit  gesetzt,  irgend 
einem  anderen  angehören  zu  dürfen,  sondern  dazu  ge¬ 
schah  jene  Tötung,  damit  sie  dem  ganz  bestimmten  ande¬ 
ren:  demselben,  mit  dem  sie  gestorben,  der  ja  auch  der 
von  den  Toten  Auferweckte  ist,  angchören  sollten,  um  in 
dieser  legitimen  und  notwendigen  neuen  Verbindung  und 
Zugehörigkeit  Gott  und  nicht  mehr  dem  Tode  Frucht 
bringen  zu  dürfen.  Es  ist  die  die  Sünde  erregende  und 
verurteilende  Wirkung  des  Gesetzes  —  der  sie  nicht  ent¬ 
fliehen  können,  der  sie  nur  entfliehen  wollen,  die  sie  mit 
allem  Entfliehenwollen  nur  schlimmer  machen  könnten  — 
für  sie  damit  Vergangenheit  geworden,  daß  sie  selbst 
(nämlich  hinsichtlich  ihres  Lebens  im  Fleische)  Vergangen- 


95 


heit  wurde  (v.  5).  So  zur  Vergangenheit,  wie  eben  der  Tod 
Vergangenheit  schafft  (v.  6)  —  nicht  irgendein  Tod  freilich 
(der  Tod  als  solcher  könnte  ja  nur  ein  Vakuum  schaffen), 
sondern  der  Tod  Jesu  Christi,  der  nicht  nur  das  Fest¬ 
haltende,  die  Klammer  auflöst:  die  Existenz,  in  der  sie 
jenem  Gesetz  verhaftet  waren,  sondern  der  mit  dieser 
Auflösung,  so  gewiß  er  von  den  Toten  auferstanden  ist, 
den  dieses  Todes  Gestorbenen  frei  macht  für  die  ganz 
andere  Bindung:  für  den  Dienst  in  dem  neuen  Wesen 
des  Geistes,  das  genau  dort  anfängt,  wo  das  alte  Wesen 
des  Buchstabens,  d.  h.  eben  das  Regiment,  die  Gültigkeit 
und  Wirkung  jenes  Gesetzes  aufhört.  „Gott  sei  Dank 
durch  unsern  Herrn  Jesus  Christus!“,  so  wird  Paulus 
am  Ende  des  Kapitels  (v.  25)  ausrufen  —  Gott  sei  Dank, 
der  mich  elenden  Menschen  dem  „Leib  dieses  Todes“,  d.  h. 
der  durch  das  Gesetz  unvermeidlich  zur  Todesverfallen- 
heit  bestimmten  Menschenexistenz  entrissen  hat  —  der 
Existenz,  der  ich  mich  selbst  nicht  entreißen  konnte  noch 
kann,  angesichts  derer  ich  nur  seufzen  konnte,  und  indem 
ich  sie  erledigt  hinter  mir  sehe,  auch  jetzt  nur  seufzen 
kann:  Wer  wird  mich  ihr  entreißen?  —  der  ich  aber  in 
Jesus  Christus  durch  den  Tod,  den  er  diesem  meinem 
Todesleib  bereitet  hat,  der  meiner  Existenz  in  ihm  zuteil 
geworden  ist,  schon  entrissen  bin  (v.  24)!  Mag  sie  als  ge¬ 
tötete,  als  meine  eigene  Vergangenheit  immer  noch  meine 
Existenz,  immer  noch  vor  Gottes  und  meinen  eigenen 
Augen  sein,  mag  es  also  sein,  daß  ich  im  Fleische  —  in 
meinem  in  Jesus  Christus  in  den  Tod  gegebenen  Fleische! 
—  noch  immer,  täglich  und  bis  an  mein  Ende,  jenem  „Ge¬ 
setz  der  Sünde“  diene  —  ich  selbst,  ich  in  meinem  Innern, 
ich  als  der  sich  selbst  lebend  findet  im  Leben  Jesu  Christi, 
ich  diene  heute  schon  dem  Gesetz  Gottes  (v.  25).  Ich  bin 
wirklich  frei  von  dem  Gesetz,  das  das  Gesetz  der  Sünde 
und  des  Todes  ist,  mag  es  immer  das  Gesetz  sein,  dem  ich 
mein  in  Jesus  Christus  getötetes  Fleisch  noch  heute  unter- 


96 


worfen  sehe.  Was  es  mit  dem  Leben  in  diesem  anderen 
Dienst,  in  dem  neuen  Wesen  des  Geistes  auf  sich  hat,  da¬ 
von  wird  Paulus  im  8.  Kapitel  reden  und  sich  dort  unter 
einem  neuen,  vierten  Aspekt  erklären,  wie  das  Evange¬ 
lium  Gottes  allmächtiges  Rettungswerk  ist. 

Er  gibt  uns  vorher  in  dem  übrigen  größeren  Teil  des 
7.  Kapitels  noch  zwei  Erläuterungen  hinsichtlich  der 
wichtigsten  Voraussetzung,  die  er  in  Vers  1 — 6  hinsicht¬ 
lich  des  Gesetzes  gemacht  hat:  daß  das  Gesetz,  von  dem 
wir  befreit  sind,  das  „Gesetz  der  Sünde  und  des  Todes“ 
ist.  Nur  unter  dieser  Voraussetzung  und  nur  in  diesem 
Sinn  kann  es  offenbar  eine  Befreiung  vom  Gesetz  geben. 
Nur  von  diesem  Gesetz  kann  der  Glaubende  frei  sein. 
Wir  wissen  ja,  daß  Paulus  das  Gesetz  nicht  aufzuheben, 
sondern  aufzurichten  gedenkt  durch  den  Glauben  (Kap. 
3,  31),  durch  die  Verkündigung  des  Evangeliums.  Er  hat 
es  wahrhaftig  im  vorangehenden  6.  Kapitel  deutlich  ge¬ 
nug  aufgerichtet!  Er  sagt  ja  auch  in  unserem  Kapitel, 
daß  es  sich  in  der  gewonnenen  Freiheit  gegenüber  jenem 
Gesetz  um  das  Dienen  in  einem  neuen  Wesen  und  also 
sicher  nicht  um  Gesetzlosigkeit  handelt  (v.  6)  und  am 
Ende  des  Kapitels  ausdrücklich:  daß  er  in  seinem  Innern, 
er  selbst  (im  Gegensatz  zu  seinem  getöteten  Leben  im 
Fleische)  dem  Gesetz  Gottes  dienen  dürfe  und  tatsächlich 
diene  (v.  25).  Und  er  wird  nachher  (Kap.  8,  2)  sogar  noch 
stärker  sagen:  daß  es  gerade  dieses  Gesetz  Gottes  („Das 
Gesetz  des  Geistes  und  Lebens“)  ist,  das  den  Menschen 
frei  macht  von  dem  Gesetz  der  Sünde  und  des  Todes. 
Was  aber  hat  es  mit  diesem  Gesetz  der  Sünde  und  des 
Todes  auf  sich?  Wie  kommt  es  zur  Existenz,  und  welches 
sind  die  Funktionen  dieses  Gesetzes,  von  dem  letztlich 
und  entscheidend  nur  dies  zu  sagen  ist,  daß  das  Evan¬ 
gelium  uns  von  ihm  befreit,  daß  wir  als  Glaubende  nicht 
unter  ihm  stehen? 


97 


„Ist  das  Gesetz  Sünde?“  läßt  sich  Paulus  (v.  7)  fragen 
und  antwortet  entsetzt  (mit  demselben  Entsetzen  wie  in 
Kap.  6,  2  und  Kap.  6,  15):  „Das  sei  ferne!“  Das  Gesetz 
ist  (Kap.  3,  21)  die  Bezeugung  des  Evangeliums,  die 
Form,  die  Schale,  in  der  das  Evangelium  zu  uns  Men¬ 
schen  kommt.  Wie  sollte  das  Evangelium  anders  zu  uns 
kommen  als  in  Gestalt  von  Mahnung,  Warnung,  Wei¬ 
sung,  Befehl,  Gebot  und  Verbot?  In  dieser  Gestalt  —  in 
der  Gestalt  des  Gesetzes  also  —  hat  Paulus  selber  es  in 
Kap.  1,  18  —  3,  20  geltend  gemacht  zur  Verkündigung 
des  durch  das  Evangelium  vollzogenen  Gerichtes  über 
alle  Menschen.  Eben  als  diese  Gestalt  des  Evangeliums 
hat  Paulus  selbst  das  Gesetz  in  allen  seinen  Briefen  und 
so  auch  im  Römerbrief  verkündigt.  Als  Gestalt  des  Evan¬ 
geliums  ist  das  Gesetz,  weit  entfernt  davon,  Sünde  zu 
sein,  vielmehr  die  Offenbarungsgestalt  der  Gnade  Gottes. 
Eben  als  solche  ist  es  heilig,  ist  sein  Gebot  —  jedes  seiner 
Gebote  —  heilig  und  gerecht  und  gut  (v.  12).  Aber  das 
Gesetz  (und  in  seiner  Gestalt  das  Evangelium)  wird  ja 
offenbar  im  Bereich  der  Sünde.  Dem  sündigen  Menschen 
ist  es  gegeben,  und  in  seinen  Augen,  Ohren  und  Händen 
wird  es,  vermöge  der  ihn  beherrschenden  Sünde,  dieses 
andere  Gesetz,  von  dem  er  durch  das,  was  es  als  Gottes 
Gesetz  in  sich  schließt,  nämlich  durch  das  Evangelium, 
durch  den  Glauben,  der  im  Gesetz  das  Evangelium  emp¬ 
fängt  und  ergreift,  befreit  werden  muß  und  tatsächlich 
befreit  wird.  Es  gehört  zu  der  Herablassung  Gottes,  daß 
er  sich  selbst  im  Gesetz  als  der  Gestalt  des  Evangeliums 
der  Sünde  preisgibt,  dem  menschlichen  Mißverständnis 
und  Mißbrauch  aussetzt.  Es  gehört  zu  seiner  Heiligkeit, 
daß  eben  die  von  sündigen  Menschen  mißbrauchte  Gestalt 
seiner  Gnade  zum  Instrument  seines  Zornes  und  Ge¬ 
richtes  über  den  Menschen  werden  muß,  daß  der  Mensch, 
der  sich  dieses  Mißbrauchs  schuldig  macht,  es  auch  in 
dieser  mißbrauchten  Gestalt  mit  Gott  selber  zu  tun  hat, 


98 


nur  daß  ihm  nun  eben  durch  sie  die  Erfahrung  zuteil 
werden  muß,  daß  Gott  seiner  nicht  spotten  läßt.  Und  es 
gehört  zu  Gottes  Barmherzigkeit  und  zu  seiner  Allmacht 
zugleich,  daß  er  sich  diesen  Mißbrauch  der  Gestalt  seiner 
Gnade  schließlich  nicht  gefallen,  daß  er  es  dabei,  daß  sie 
vom  Menschen  mißbraucht  wird,  nicht  sein  Bewenden  ha¬ 
ben,  sondern  das  im  Gesetz  verborgene  Evangelium  in 
Jesus  Christus  auch  aus  seiner  verunreinigten  Schale 
hervorbrechen  und  eben  damit  auch  diese,  auch  das  Ge¬ 
setz  als  sein  Gesetz,  als  das  heilige  Gesetz  des  Geistes 
des  Lebens,  wieder  erstehen  und  neu  offenbar  werden 
läßt.  Verse  7 — 11  beschreiben  diesen  Mißbrauch  des  Ge¬ 
setzes  und  erläutern  damit,  inwiefern  es  —  indem  es 
in  sich  etwas  ganz  anderes  als  Sünde  ist  —  nun  doch 
das  „Gesetz  der  Sünde“,  d.  h.  das  die  menschliche  Sünde 
erregende,  mehrende  und  offenbarende  Gesetz  werden 
kann,  von  dem  wir  durch  das  Evangelium  befreit  sind. 
Wir  hören,  daß  die  Sünde  am  Gesetz  entsteht:  in  der 
Begegnung  des  Menschen  mit  dem  Gesetz.  Der  Mensch 
kannte  sie  nicht;  sie  war  und  ist  ihm  fremd,  solange  er 
nicht  der  Gnade  Gottes  in  der  Form  des  an  ihn  gerich¬ 
teten  Anspruchs,  in  der  Gestalt  des  Gesetzes  begegnet. 
Sie  ist  wohl  auch  ohne  das  Gesetz  da,  aber  sie  lauert  vor 
der  Türe,  sie  hat  keinen  Anlaß  (kein  Sprungbrett!),  um 
zu  der  Tat  zu  werden,  die  uns  zu  Feinden  Gottes  macht 
und  damit  dem  Tod  überliefert.  Sie  ist  noch  tot  (v.  8)! 
Sie  erwacht  aber  zum  Leben,  sie  findet  Anlaß  und 
Sprungbrett,  indem  ich  dem  Gesetz  begegne.  In  dieser 
Begegnung  erhebt  sie  sich,  wird  sie  aktiv,  betrügt  sie 
mich,  wird  sie  meine  eigene  Sünde  und  so  der  Grund 
meiner  eigenen  Verdammnis.  Denn  indem  das  Gesetz  mich 
fordert  für  Gott  und  gegen  meine  eigene  Begierde,  flü¬ 
stert  die  Sünde  mir  ein,  daß  ich  dieser  Forderung  selbst 
Genüge  tun,  daß  ich  mich  selbst  reinigen,  rechtfertigen 
und  heiligen  solle.  Sie  flüstert  mir  ein,  daß  ich  für  die 


99 


mir  im  Gesetz  angebotene  Gnade  zu  gut  sei,  daß  ich  sie 
zurückstoßen  und  statt  des  mir  durch  Gottes  Gesetz  be¬ 
fohlenen  Glaubens  mein  eigenes  Werk,  meine  eigene 
Frömmigkeit  und  meine  eigene  moralische  Leistung  vor 
Gott  hinstellen  und  mich  dadurch  Gottes  würdig  machen 
solle.  Sie  flüstert  mir  ein,  daß  Gott  doch  gewiß  nicht  ge¬ 
sagt  haben  könne,  daß  ich  ihm  nicht  gleich  sein,  daß  ich 
mir  an  seiner  Gnade  genügen  lassen  solle,  daß  er  viel¬ 
mehr  bestimmt  gemeint  habe,  ich  selber,  ein  anderer  Gott 
neben  ihm,  solle  tun,  was  er  für  mich  tun  will.  Mit  dieser 
Einflüsterung  und  indem  ich  dieser  Einflüsterung  Gehör 
gebe,  erwacht  die  Sünde;  damit  wird  sie  zur  Tat  und 
zum  Ereignis.  Eben  jetzt,  in  diesem  Mißverständnis  und 
Mißbrauch  des  Gesetzes,  durch  die  mir  inne  wohnende 
Sünde,  deren  ich  mich  jetzt  schuldig  mache,  werde  ich  der 
verbotenen  Begierde  schuldig:  der  Begierde,  zu  sein  wie 
Gott.  Und  eben  damit,  als  der  so  Begierige  —  begierig 
eigenen  Ruhmes  vor  Gott,  wo  mir  sein  Ruhm  genügen, 
wo  ich  seinem  Ruhme  dienen  sollte,  um  darin  meinen 
Ruhm  zu  haben  —  werde  ich  des  Todes  schuldig,  hat 
mich  die  Sünde,  die  mich  verführte  und  betrog,  habe  ich 
mich  selbst,  indem  ich  mich  von  ihr  verführen  und  be¬ 
trügen  ließ,  dem  Tode  ausgeliefert.  Die  Sünde?  Ich  sel¬ 
ber?  Jawohl,  die  Sünde,  jawohl,  ich  selber,  aber  die  Sünde 
und  vermöge  der  Sünde  ich  selber  gerade  durch  das  Ge¬ 
setz:  die  durch  das  Gesetz  lebendig,  kräftig  gewordene 
Sünde,  ich  selber  als  der  in  meiner  Begegnung  mit  dem 
Gesetz  zum  aktiven  Sünder  gewordene  sündige  Mensch. 
Was  mich  zum  Leben,  weil  zum  Gehorsam  führen  sollte: 
Gottes  heiliges  Gebot,  eben  das  wurde  mir  zur  Anleitung 
zum  Ungehorsam  und  so  zum  Tode.  Denn  das  ist  der  Un¬ 
gehorsam,  das  die  lebendige,  kräftige  Sünde,  neben  der 
alle  anderen  nur  Puppensünden  sind:  die  Verachtung  der 
Gnade  Gottes,  der  menschliche  Griff  nach  dem,  was  er  für 
uns  sein  und  tun  will,  der  Versuch,  uns  selber  zu  retten, 


100 


zu  sichern,  zu  erheben,  wo  er  unsere  Errettung,  Siche¬ 
rung  und  Erhöhung  allein  sein  will.  Alles  was  Gott  ver¬ 
boten  hat,  ist  darum  verboten,  weil  es  in  seiner  Wurzel 
und  in  seinem  Wesen  dieses  eine  Verbotene:  der  Akt 
unseres  Hasses  gegen  Gottes  Gnade  ist.  Weil  und  indem 
wir  dieses  Verbotene  tun,  darum  und  damit  alles  andere. 
Und  daß  uns  dieses  verbotene  Tun  vergeben  werde  —  da¬ 
mit  wirksam  vergeben,  daß  wir  andere  Menschen  wer¬ 
den,  die  eben  das  nicht  mehr  tun  können  und  wollen  — , 
darum  und  also  (mit  der  Befreiung  von  uns  selbst)  um 
die  Befreiung  von  dem  mißbrauchten  Verbot  und  Gebot, 
um  die  Wiederherstellung  des  Gesetzes,  wie  Gott  selbst 
es  uns  gegeben  und  wie  er  es  gemeint  hat,  geht  es  bei 
dem  Durchbruch  und  der  Offenbarung  des  Evangeliums 
im  Gesetz,  um  derentwillen  Paulus  am  Schluß  unseres 
Kapitels  Gott  danksagt  durch  unseren  Herrn  Jesus  Chri¬ 
stus. 

„So  ist  das  Gute  (das  nach  Vers  12  heilige,  gerechte, 
gute  Gebot  des  Gesetzes  Gottes)  mir  zumTode  geworden?“ 
(v.  13).  Das  ist  die  zweite  Frage,  die  Paulus  sich  stellen 
läßt  und  die  er  wieder  mit  seinem  „Unmöglich“  beant¬ 
wortet.  Wohl  bin  ich  durch  das  Gesetz  zum  Tode  verur¬ 
teilt,  wie  ich  nach  Vers  7 — 12  durch  das  Gesetz  zur 
Sünde  veranlaßt  bin.  Aber  es  besteht  hier  wie  dort  kein 
Grund,  das  Gesetz,  wohl  aber  aller  Grund,  die  Sünde  anzu¬ 
klagen,  die  darin  als  Sünde  offenbar  wird  (die  mich  darin 
zum  unentschuldbaren  Sünder  macht  und  mich  dem  ver¬ 
dienten  Tode  überliefert),  daß  sie  sich  gerade  des  Gesetzes 
bemächtigt  und  bedient.  Nicht  das  Gute  also,  aber  aller¬ 
dings  die  Sünde  durch  das  verkehrte  Gute  hat  mir  den 
Tod  bereitet.  Indem  das  Gesetz  mir  das  Gute  sein,  mir 
zum  Leben  verhelfen  wollte,  verführte  mich  die  Sünde 
zu  dem  Irrglauben,  daß  ich  doch  auch  noch  etwas  Anderes 
und  Besseres  sei  als  ein  Sünder,  leitete  sie  mich  an,  mich 
selbst  für  im  Grunde  gut  zu  halten  und  also  für  fähig, 


101 


mir  selbst  zu  helfen  —  verlockte  sie  mich,  in  scheinbarem 
Gehorsam  gegen  das  Gesetz  gerade  das  zu  tun,  was  durch 
das  Gesetz  verboten  ist:  mich  selbst  durch  meine  eigene 
Güte  sündlos  machen  zu  wollen.  Eben  in  diesem  Mi߬ 
brauch  des  mir  gegebenen  Gebotes  ist  die  Sünde  „über 
die  Maßen  sündhaft“  geworden  und  hat  sie  mich  tödlich 
getroffen.  Hat  sie  mich  doch  damit  des  mir,  dem  Sünder, 
durch  den  Rechtsspruch  des  gnädigen  Gottes  zugesagten 
Lebens  beraubt.  Sie  erzog  mich  zu  einem  vermeintlichen 
und  angeblichen  Heiligen ,  und  eben  damit  verursachte  sie 
meinen  hoffnungslosen  Fall.  Denn  eben  damit  setzte  sie 
mich  in  Widerspruch  zu  dem  Gott,  der  sich  der  Elenden 
erbarmt  und  der  die  Toten  auferweckt,  vor  dem  darum 
alle  menschliche  Heiligkeit  aus  eigener  Kunst  und  Kraft 
nur  Greuel  sein  kann,  für  den  wir  als  solche  Heilige  ver¬ 
loren  sind.  Von  diesem  Verlorensein  des  durch  die 
triumphierende  Sünde  zu  einem  solchen  wunderlichen 
Heiligen  gemachten  Menschen  reden  die  Verse  14 — 23.  Der 
auf  diesem  Weg  befindliche  Mensch  weiß  (v.  14),  daß  das 
Gesetz  geistlich  ist  und  er  weiß  (v.  18),  daß  das  Gute 
nicht  in  ihm,  nämlich  nicht  in  seinem  Fleische  wohnt. 
Weiß  er  das?  Wie  kann  er  dann  noch  ein  solcher  Heiliger 
sein  wollen?  Paulus  will  in  der  Tat  sagen,  daß  man  das 
unmöglich  sein  wollen  kann,  sofern  man  weiß,  was  das 
Gesetz  —  auch  das  von  der  Sünde  mißbrauchte  Gesetz, 
weil  es  Gottes  Gesetz  und  also  die  Offenbarung  der 
Wahrheit  ist  und  bleibt  —  solchen,  die  solche  Heilige  sein 
wollen,  zu  sagen  hat.  Es  offenbart  ihnen  nämlich  schlicht 
ihren  Tod,  sofern  es  ihnen  nichts  anderes  zu  zeigen  hat 
als  dies:  daß  sie  als  solche,  die  das  sein  wollen,  gewisser¬ 
maßen  mitten  entzwei  gerissen  werden.  Mit  dem  Gesetz 
Gottes  ist  nicht  zu  scherzen! 

1.  Wer  sich,  von  der  Sünde  verführt,  herausnimmt,  das 
Gesetz  selber  erfüllen  und  sich  damit  der  Gnade  Gottes 
selber  und  von  sich  aus  versichern  zu  wollen,  dem  hat 


102 


es,  eben  weil  es  geistlich  ist,  weil  es  zweifellos  den  unbe¬ 
dingten  Gehorsam  des  ganzen  Menschen  fordert,  nichts 
zu  sagen  als  dies  (v.  14),  daß  er  fleischlich  ist,  daß  er  als 
Mensch  vor  Gott  nicht  bestehen,  seinen  Plan,  ihm  gerecht 
zu  werden  und  sich  selbst  zu  rechtfertigen,  nicht  aus¬ 
führen  kann,  weil  er  —  dieser  sein  Plan  verrät  es  deut¬ 
licher  als  alles  Andere  —  in  einem  nicht  rückgängig  zu 
machenden  Handel  an  die  Sünde  verkauft  ist.  Er  wird 
(v.  15)  in  dem,  was  er  auf  der  Linie  jenes  Planes  tat¬ 
sächlich  fertig  bringt,  das,  was  er  damit  will,  nicht  wieder¬ 
erkennen.  Das  Gesetz  Gottes  wird  ihn  vielmehr  dessen 
überführen,  daß  er  tut,  was  er  nicht  will,  was  er  selbst 
nur  verabscheuen  kann.  Aber  wer  ist  er  nun:  der  Mann, 
der  etwas  will?  Oder  der  Mann,  der  gerade  das  tut,  was 
er  nicht  will?  Oder  (v.  16)  der  Mann,  der  mit  seinem 
Abscheu,  vor  dem,  was  er  tut,  nun  doch  wieder  dem  Ge¬ 
setze  Gottes  Recht  zu  geben  scheint?  Er  hat  wohl  Grund, 
das  zu  tun,  aber  was  folgt  daraus?  Dies  (v.  17),  daß  ge¬ 
rade  sein  von  ihm  selbst  mißbilligtes  Tun  und  Vollbringen 
gar  nicht  das  seinige,  sondern  das  der  in  ihm  hausenden 
Sünde  ist!  In  ihm!  Wird  er  sich  der  Solidarität  mit  diesem 
Gast  in  seinem  Hause  ganz  entschlagen,  wird  er  sich  etwa 
mit  seinem  Protest  gegen  dessen  Werk  rechtfertigen  kön¬ 
nen?  Sein  Protest  käme  offenbar  als  Rechtfertigung  auch 
dann  zu  spät,  wenn  er  sich  jener  Solidarität  entschlagen, 
wenn  er  leugnen  könnte,  daß  die  Sünde  seine  Sünde  ist. 
Mag  er  das  versuchen:  sicher  ist  dies,  daß  er  sich  mit 
seinem  Werk  rechtfertigen  und  heiligen  wollte  und  daß 
er  eben  dieses  sein  Werk  nun  selbst  als  Werk  der  Sünde 
verurteilen  muß. 

2.  Und  wer  sich,  von  der  Sünde  verführt,  herausnimmt, 
das  Gesetz  Gottes  selber  erfüllen  zu  wollen,  dem  hat  es 
—  indem  es  sich,  seinem  eigenen  törichten  Verlangen  ent¬ 
sprechend,  ganz  und  gar  an  ihn  hält  —  nichts  Anderes 
zu  sagen,  als  dies  (v.  18),  daß  das  Gute ,  dessen  er  zum 


103 


Tun  des  Guten  bedürfte,  nicht  in  ihm  wohnt:  nicht  in 
ihm,  der  Fleisch,  der  in  seinem  Innersten  und  Tiefsten 
Gottes  Feind  und  Gegenstand  des  Zornes  Gottes  ist.  Der 
ylrcwesenheit  jenes  ersten  entspricht  die  ^Wesenheit  die¬ 
ses  zweiten  Gastes.  Denn  damit,  daß  diese  Beiden  unter 
einem  Dach  Platz  hätten,  kann  nicht  gerechnet  werden. 
Man  bemerke,  daß  Paulus  unserem  wunderlichen  Heili¬ 
gen  das  Wollen  des  Rechten  nicht  abspricht:  ein  ehrlich 
und  eifrig  Wollender,  Suchender,  Strebender  mag  er  im¬ 
merhin  sein.  Aber  nicht  von  einem  bloßen  Wollen,  son¬ 
dern  von  einem  rechtfertigenden  und  heiligenden  Voll¬ 
bringen  des  Menschen  war  doch  in  seinem  ursprünglichen 
Plan  die  Rede.  So  kann  nun  aus  dem  Wollen  des  Rech¬ 
ten  so  wenig  eine  Ausrede  gemacht  werden  wie  vorher 
aus  dem  Nichtwollen  des  Bösen,  wenn  es  zu  dem  ent¬ 
sprechenden  Vollbringen  nicht  kommt.  Und  es  kommt 
(v.  19)  nicht  dazu.  Was  das  Gesetz  bei  ihm  und  was  er 
selbst  im  Lichte  des  Gesetzes,  das  er  erfüllen  wollte,  bei 
sich  findet,  ist  trotz  des  guten  Willens  das  Tun  des  Bösen. 
Es  kann  alle  Berufung  auf  seinen  guten  Willen  (v.  20) 
nur  bestätigen,  daß  die  Sünde  in  ihm  wohnt  und  ihm 
zum  Trotz  das  Böse  tut.  Nochmals:  Wer  ist  er  nun?  Der 
Wollende?  Der  das  Gewollte  leider  nicht  Vollbringende? 
Der  mit  seinem  Wollen  seinem  Vollbringen  oder  der  mit 
seinem  Vollbringen  seinem  Wollen  Widersprechende? 
Daß  er  bloß  der  Hausherr  der  Sünde  ist,  wird  ihn  jeden¬ 
falls  nicht  retten:  sie,  die  Sünde  ist  es  jedenfalls,  die  da 
geschieht,  wo  es  planmäßig  zu  seiner  Rechtfertigung  und 
Heiligung  durch  sein  eigenes  Tun  kommen  sollte. 

Die  Verse  21 — 23  fassen  zusammen:  Der  wunderliche 
Heilige,  der,  von  der  Sünde  verführt,  die  Gnade  Gottes  sich 
nehmen  will,  ist  tatsächlich  ein  mitten  entzwei  gerissener 
Mensch.  Indem  er  das  Gesetz  Gottes  selber  erfüllen  will, 
ist  das  Böse  da  (v.  21).  Indem  er  sich  am  Gesetz  Gottes 
erfreut,  (v.  22)  —  würde  er  es  doch  recht  tun!  würde  er 


104 


sich  doch  nicht  durch  die  Sünde  verführen  lassen  zum 
Mißbrauch  des  Gesetzes!  — ,  kann  er  bei  sich  selbst  nichts 
entdedten  und  wahrnehmen  als  den  gänzlich  ungleichen 
und  hoffnungslosen  Streit  (v.  23)  zwischen  dem  Gesetz, 
dem  gerecht  zu  werden  er  sich  vorgenommen,  und  dem 
Gesetz  in  seinen  Gliedern,  d.  h.  der  inneren  Notwendig¬ 
keit  seiner  ganzen  menschlichen  Existenz  als  solcher,  wel¬ 
che  jenem  Unternehmen,  wie  gründlich  und  ernstlich  er 
es  auch  betreibe,  entgegensteht,  welche  ihn  als  Gesetz  der 
Sünde  gefangen  hält,  er  drehe  und  wende  sich,  wie  er 
wolle.  Diesem  anderen  Gesetz  und  immer  wieder  ihm 
wird  er  faktisch  gerecht  werden.  Als  der,  der  er  ist  und 
nicht  als  der,  der  er  sein  und  zu  dem  er  sich  machen 
möchte,  wird  er  am  Ende  aller  seiner  Anstrengungen 
und  Versuche  immer  wieder  dastehen.  Aber  ist  er  nicht 
gleichzeitig  doch  auch  der,  der  etwas  Anderes  sein  und 
mittels  dieser  Anstrengungen  und  Versuche  etwas  Ande¬ 
res  aus  sich  machten  möchte?  Welcher  von  beiden  ist  er 
nun?  Sicher  ist,  daß  er  als  keiner  von  diesen  Beiden  der 
Mann  ist,  dem  das  gelingt,  was  er  sich  allzu  kühn  vor¬ 
genommen  hat!  Und  sicher  ist  er  in  der  Aufgespaltenheit 
dieser  Doppelexistenz  zwischen  Wollen  und  Vollbringen 
ein  dem  Tode  verfallener  Mann!  Denn  was  heißt  Ster¬ 
ben,  wenn  es  nicht  das  Leben  in  dieser  Aufspaltung  ist? 
Diesem  Leben,  das  ein  Sterben  bei  lebendigem  Leibe  ist, 
gilt  der  Seufzer  in  Vers  24:  „Ich  elender  Mensch!  Wer 
wird  mich  herausreißen  aus  diesem  Leibe  des  Todes?“ 
Herausreißen  aus  dieser  Zerrissenheit?  Herausreißen  aus 
dieser  Existenz,  die  in  einer  dauernden  Auflösung  meiner 
selbst  besteht? 

Der  Mensch  wird  sich  selbst  aus  dieser  Existenz  unter 
dem  Gesetz  der  Sünde  und  des  Todes  nicht  herausreißen. 
Man  bemerke,  wie  die  beiden  Abschnitte  in  Vers  7 — 12 
und  Vers  13 — 23,  aber  auch  der  Rückblick  auf  das  Ganze 
in  Vers  24 — 25  von  dem  Worte  „Ich“  beherrscht  sind.  Es 


105 


gibt  keinen  mit  diesem  Wort  beginnenden  Satz,  in  wel¬ 
chem  die  Befreiung  des  Menschen  darzustellen  wäre. 
Auch  und  gerade  das  christliche  „Ich“  muß  und  wird  sich, 
wie  der  merkwürdige  Vers  25  zeigt,  indem  es  sich  dort 
zu  Jesus  Christus  als  dem  Befreier  bekennt,  zu  seiner 
eigenen  Gefangenschaft,  zu  jener  Zerrissenheit  in  aller 
Form  bekennen.  Gerade  wer  sich  zu  Christus  bekennt, 
wird  das  wissen:  Ich  werde  die  Sünde,  ich  werde  die  Ver¬ 
fälschung  des  Gesetzes  durch  die  Sünde,  ich  werde  die 
Existenz  des  wunderlichen  Heiligen,  der  sein  möchte  wie 
Gott  und  der  eben  daran  bei  lebendigem  Leibe  sterben 
muß,  von  mir  aus  nie  hinter  mir  lassen.  Ich  bin  und  lebe 
im  Fleische  und  bin  und  bleibe  in  diesem  Sein  und  Leben 
(v.  11)  dem  Gesetz  der  Sünde  und  des  Todes  unterwor¬ 
fen.  Es  gibt  keine  Linie,  die  mit  Ich  anfängt,  um  dann 
irgendwo  mit  Erlösung  und  Freiheit  zu  endigen.  Es  gibt 
aber,  wie  in  Vers  1 — 6  gezeigt  wurde,  die  andere  Linie, 
die  mit  Jesus  anfängt,  auf  der  eben  der  Mensch,  der 
jenem  Gesetz  verpflichtet  ist,  getötet,  nicht  in  seinem  eige¬ 
nen,  aber  im  Tode  Jesu  Christi  getötet  wurde.  Getötet 
und  also  befreit  von  sich  selbst,  um  jetzt  dem  Anderen 
zu  leben,  der  von  den  Toten  auferstanden  ist  (v.  4),  um 
als  dieser  Befreite,  dem  Ich  dieses  Anderen,  dem  Sohn 
Gottes  schlechterdings  untergeordnet,  im  neuen  Wesen  des 
Geistes  (v.  6),  dem  Gesetz  Gottes  (v.  25)  zu  dienen. 


106 


8,  1—39 


Das  Evangelium  als  die  Aufrichtung 
des  Gesetzes  Gottes 


Verurteilt  ist  der  Mensch,  der  als  Adams  Kind  tut,  was 
Adam  tut.  Verurteilt  ist  alles  Fleisch  als  die  Menschen¬ 
natur,  in  der  die  Sünde  wohnt.  Verurteilt  ist  vor  allem 
das  fromme,  das  moralische  Fleisch:  der  Mensch,  der  das 
Gesetz  Gottes  damit  beugt  und  bricht,  daß  er  ihm  ent¬ 
nimmt,  er  habe  sich  selbst  vor  Gott  zu  rechtfertigen 
und  für  Gott  zu  heiligen.  Gerade  ihn  verurteilt  das  von 
ihm  gebeugte  und  gebrochene  Gesetz  Gottes,  das  ja  auch 
als  solches  nicht  aufhört,  wahr  und  wirksam  zu  sein. 
Indem  er  die  Gnade  verstößt,  an  die  sich  zu  halten  ihm 
durch  das  Gesetz  geboten  wird,  um  sich  an  Stelle  dessen 
durch  Erfüllung  des  gebietenden  Buchstabens  (Kap.  7,  6) 
seine  Seligkeit  selbst  verschaffen  zu  wollen,  ist  er  schon 
verurteilt,  kann  er  nur  noch  lebend  sterben. 

Für  die  aber,  die  „in  Christus  Jesus  sind“,  gibt  es  keine 
Verurteilung,  heißt  es  nun  in  Kap.  8,  1,  und  das  ganze 
8.  Kapitel  wird  uns  darüber  belehren,  daß  jene  Verurtei¬ 
lung  des  Menschen  damit  hinfällig  ist,  daß  Gott  im  Evan¬ 
gelium  jenem  Beugen  und  Brechen  seines  Gesetzes  durch 
den  Menschen  damit  begegnet,  daß  er  es  in  Jesus  Chri¬ 
stus  als  sein  Gesetz  neu  und  erst  recht  damit  auf  richtet, 
daß  er  ihm  durch  Jesus  Christus  den  Respekt  und  die 
Nachachtung  verschafft,  die  ihm  gebühren,  daß  er  also 
seine  verstoßene  Gnade  triumphieren  läßt  bei  Jedem  und 
für  Jeden,  der  an  Jesus  Christus  glaubt  und  also  diese 
an  Jesus  Christus  Glaubenden  nicht  nur  frei  macht  von 


107 


dem  Gesetz  der  Sünde  und  des  Todes,  sondern  —  so 
werden  wir  nachher  hören  —  positiv  frei  für  ein  Leben 
im  Gehorsam  (v.  12 — 16),  in  der  Hoffnung  (v.  17 — 27), 
in  der  Unschuld  (v.  28 — 39),  mit  einem  Wort:  für  das 
Leben  im  Geiste ,  in  der  Unterordnung  unter  seinen 
Gtttf deswillen.  Das  ist  die  vierte  Erklärung  des  Satzes  in 
Kapitel  1,16  von  Gottes  allmächtigem  Rettungswerk  für 
jeden  Glauben  oder  die  vierte  Erklärung  des  Satzes  in 
Kap.  1,  17:  daß  der  durch  seinen  Glauben  Gerechte  kraft 
dieses  seines  Glaubens  leben  wird.  Diese  vierte  und  letzte 
Erklärung  sagt  eben  dies:  Gott  richtet  mit  der  Offen¬ 
barung  des  Evangeliums  von  Jesus  Christus  sein  Gesetz 
auf,  indem  er  den  an  Jesus  Christus  Glaubenden  seinen 
Geist  und  mit  dem  Geist  jetzt  und  hier  schon  das  gerechte, 
unschuldige  und  selige  Leben  gibt,  das  als  solches  die 
Verheißung  hat,  ewiges  Leben  zu  sein.  Darin  bewahr¬ 
heitet  sich  die  Gerechtsprechung  des  Glaubenden:  dar¬ 
in  vollendet  sich  die  Versöhnung,  die  Heiligung,  die  Be¬ 
freiung  des  Menschen:  in  der  Aufrichtung  des  Gesetzes 
Gottes,  in  der  Herrschaft  seines  Geistes. 

Das  Grundsätzliche  darüber  hören  wir  in  Vers  1 — 11. 
Wir  lesen  in  Vers  1 — 2  zunächst  in  Bestätigung  von  Kap. 
7,  1 — 6,  daß  die  Verurteilung  des  Menschen  durch  das 
Gesetz  der  Sünde  und  des  Todes  die,  die  in  Christus  Jesus 
sind,  darum  nicht  trifft,  weil  sie  als  solche  von  diesem 
Gesetz  entbunden,  befreit  sind.  Sie  haben  sich  nicht  selbst 
davon  befreit.  Alle  eigenen  Befreiungsversuche  würden 
nur  darauf  hinauslaufen,  was  in  Kap.  7,  3  schroff  genug 
als  Ehebruch  bezeichnet  wurde.  In  der  Gefangenschaft 
jenes  Gesetzes  gibt  es  zuletzt  immer  nur  den  hoffnungs¬ 
losen  Seufzer  in  Kap.  7,  24:  „Ich  elender  Mensch!“  Was 
mit  „Ich“  anfängt,  führt  nicht  zur  Befreiung  und  wird 
niemals  wirkliches,  ewiges  Leben  sein.  Wohl  aber  hat 
„das  Gesetz  des  Geistes  des  Lebens“  die  frei  gemacht,  die 
in  Christus  Jesus  sind.  Offenbar  ist  das  Eines  und  Das- 


108 


selbe:  „In  Christus  Jesus  sein“  und:  unter  diesem  ganz 
anderen  Gesetz  stehen.  Und  offenbar  bezeichnet  beides 
miteinander  jenen  ganz  neuen  Aspekt,  ja  jene  ganz  neue 
Wirklichkeit  des  menschlichen  Lebens,  auf  die  schon  in 
Kap.  7,  1 — 6  hingewiesen  wurde  und  von  der  nun  aus¬ 
führlich  die  Rede  sein  soll.  Sie  ist  damit  gegeben,  daß 
der  Mensch  nicht  mehr  mit  „Ich“  anfangen  muß,  sondern 
mit  Jesus  Christus  anfangen  darf:  daraufhin,  daß  Jesus 
Christus  mit  ihm  einen  neuen  Anfang  gemacht  hat.  Daß 
er  ein  solcher  ist,  dem  das  widerfahren  ist,  das  heißt:  „in 
Christus  Jesus  sein“.  Und  es  besteht  diese  Wirklichkeit 
darin,  daß  eben  da,  wo  ein  Mensch  mit  Jesus  Christus 
statt  mit  „Ich“  anfangen  darf  —  daraufhin,  daß  Jesus 
Christus  mit  ihm  einen  neuen  Anfang  gemacht  hat  —  das 
Gesetz  Gottes  sich  zuerst  selber  befreit  von  jenem  Mi߬ 
brauch  durch  die  Sünde,  zuerst  selber  hindurchbricht 
durch  jene  verkehrte  Gestalt  eines  Gesetzes  der  Sünde 
und  des  Todes  und  sich  selbst  darstellt  in  seiner  wahren 
Gestalt:  als  den  Geist,  der  diesen  Menschen  dazu  treibt, 
Gottes  Gnade  zu  suchen,  um  eben  damit  nun  auch  diesen 
Menschen  zu  befreien  von  der  verkehrten  Gestalt  des  Ge¬ 
setzes  und  von  der  Not,  die  es  ihm  in  dieser  verkehrten 
Gestalt  bereiten  muß,  um  eben  damit  nun  auch  diesen 
Menschen  hindurchbrechen  zu  lassen  auf  den  Weg  des  Le¬ 
bens,  der  Hoffnung  und  der  Unschuld. 

Wir  lesen  in  Vers  3,  daß  es  zu  dieser  befreienden  Auf¬ 
richtung  des  Gesetzes  ein  für  allemal  gekommen  ist  durch 
das,  was  Gott  in  Jesus  Christus  geschehen  ließ.  Was  dem 
Gesetz  in  jener  verkehrten  Gestalt,  in  seiner  Entkräftung 
durch  die  in  unserem  Fleisch  wohnende  Sünde  unmöglich 
war,  das  hat  Gott  damit  nicht  nur  möglich,  sondern 
wirklich  gemacht,  daß  er  seinen  Sohn  sandte:  wirklich 
seinen  ewigen  Sohn  wirklich  zu  uns  sandte,  ihn  also 
wirklich  uns ,  unserem  von  der  Sünde  bewohnten  und 
beherrschten  Fleisch  nicht  nur  ähnlich,  sondern  gleich 


109 


machte:  „um  der  Sünde  willen“,  d.  h.  um  der  Sünde  an 
diesem  ihrem  Wohn-  und  Herrschaftsorte  zu  begegnen 
und  um  sie  daselbst  zu  verurteilen,  zu  richten,  zu  erledi¬ 
gen,  ihre  Herrschaft  zu  brechen,  ihren  Betrug  aufzudek- 
ken  und  ihre  Konsequenzen  aufzuheben.  Das  ist  es,  was 
Jesus  Christus  getan  hat,  indem  er,  der  Sündlose,  sich  an 
unserer  Stelle  als  Sünder  vor  Gott  demütigte,  die  uns  zu¬ 
kommende  Todesstrafe  erlitt  und  eben  darin  Gott  den 
Gehorsam  darbrachte,  den  wir  ihm  verweigern,  eben  da¬ 
mit  an  unserer  Stelle  die  Gnade  Gottes  annahm,  deren 
Annahme  wir  immer  wieder  verweigern  möchten.  In  ihm 
(v.  4)  sind  wir  als  die  Sünder,  die  wir  waren  und  sind, 
getötet  und  eben  damit  auch  getötet  dem  Gesetz  der  Sün¬ 
de  und  des  Todes,  dem  wir  als  Sünder  unterworfen  waren 
und  noch  unterworfen  sind.  Und  eben  mit  ihm  leben  wir 
nun  ein  anderes,  neues  Leben.  In  ihm  steht  das  Gesetz 
Gottes  vor  uns  und  mächtig  über  uns  in  seiner  reinen, 
wahren  Gestalt:  ein  einziges  unwiderstehliches  Angebot 
und  Gebot  der  Gnade  Gottes  für  uns,  die  in  ihm  Getöte¬ 
ten  und  mit  ihm  Lebenden.  Mit  ihm  anfangen  —  darauf¬ 
hin,  daß  er  mit  uns  angefangen  hat  — ,  „in  Christus  Jesus 
sein  heißt  schlicht:  durch  das  in  ihm  auf  gerichtete  und 
mächtig  gewordene  reine  und  wahre  Gesetz  Gottes  ge¬ 
bunden  sein,  das  Angebot  der  Gnade  Gottes  ergreifen 
müssen  und  dürfen ,  dem  Gebot  der  in  ihm  erschienenen 
Gnade  Gottes  gehorsam  sein:  als  die  Getöteten,  die  mit 
ihm  lebendig  gemacht  sind.  Und  eben  das  heißt:  „nach 
dem  Geist  und  nicht  nach  dem  Fleisch  wandeln“.  In 
denen,  die  nach  dem  Geist  wandeln,  kommt  es  also  zur 
Erfüllung  dessen,  was  das  Gesetz  fordert.  Heißt  doch 
„nach  dem  Geist  wandeln“  nichts  Anderes  als:  der  in 
Jesus  Christus  zwingend  mächtig  erschienenen  Gnade  Got¬ 
tes  gehorsam  werden.  Man  muß  bei  allem  Folgenden  und 
in  diesem  ganzen  Kapitel  wohl  beachten:  „Geist“  heißt 
bei  Paulus  nichts  Anderes  als  die  Gültigkeit  und  Macht 


110 


des  durch  die  Sendung  des  Sohnes  Gottes  aufgerichteten 
Gesetzes  der  Gnade  bei  denen,  die  an  ihn  glauben  dar¬ 
aufhin,  daß  er  für  sie  gestorben  und  auferstanden  ist. 
Noch  ist  ihr  Fleisch  da,  ihre  Menschennatur,  in  welcher 
als  solcher  die  Sünde  wohnt  und  nicht  das  Gute.  Noch 
sind  und  haben  sie  auch  ein  „Ich“,  jenes  Ich,  von  dem  aus 
es  keinen  Weg  zur  Befreiung  und  zum  Leben  gibt.  Noch 
existiert  auch  in  ihnen  der  wunderliche  Heilige,  der  sich 
von  der  Sünde  betrügen  läßt  mittels  des  Gesetzes,  und  dem 
dann  das  Sündengesetz  nur  immer  wieder  zum  Todes¬ 
gesetz  werden  kann.  Noch  wissen  sie  also  nur  zu  gut,  was 
es  ist  um  jenes  Leben  in  der  Zerrissenheit.  Aber  sie 
„ wandeln “  nicht  nach  dem  Fleisch,  sondern  nach  dem 
Geist  (v.  4).  Sie  „sind“  nicht  im  Fleisch,  sondern  im  Geiste 
(v.  5  u.  9).  Sie  haben  nicht  die  Gesinnung,  die  Ausrich¬ 
tung,  die  Tendenz  des  Fleisches,  sondern  die  des  Geistes. 
Das  bedeutet  aber:  sie  stehen  nicht  etwa  noch  einmal 
zerrissen  zwischen  Geist  und  Fleisch,  sondern  sie  stehen, 
ihrerseits  schon  dem  Geiste  gehörig,  in  der  Entscheidung 
für  den  Geist  und  gegen  das  Fleisdi.  Sie  haben  dem  Geist, 
als  der  Macht  des  Gesetzes  der  Gnade,  ihr  Gesicht,  dem 
Fleisch,  als  ihrer  sündenbeherrschten  und  entsprechend 
zerrissenen  Existenz,  ihren  Rücken  zugekehrt.  Man  kann 
vom  Fleisch  nur  das  sagen,  daß  es  noch  da  ist,  eine  als 
solche  noch  nicht  beseitigte  Möglichkeit,  eine  ständige  Ein¬ 
ladung  und  Gefahr,  nach  ihm  zu  wandeln,  in  ihm  zu  sein, 
zu  tun,  was  seiner  Gesinnung,  Ausrichtung  und  Ten¬ 
denz  entspricht,  was  denn  nach  dem  7.  Kapitel  bedeuten 
würde,  die  Gnade  aufs  neue  zu  hassen  und  von  sich  zu 
stoßen,  aufs  neue  sich  selber  rechtfertigen  und  heiligen 
zu  wollen.  Das  Fleisdi  will  immer  das.  Es  wird  dem  Ge¬ 
setz  Gottes  nie  untertan  sein,  es  kann  das  gar  nicht,  es 
wäre  sonst  nicht  das  Fleisch,  unsere  durch  die  Sünde 
Adams  bestimmte  und  charakterisierte  Menschennatur 
(v.  7).  Die  Erfüllung  seiner  Absichten  könnte  nur  mit 


111 


dem  Tode  endigen,  und  was  wir  in  Erfüllung  seiner  Ab¬ 
sichten  sind  und  tun,  das  wird  in  der  Tat  immer  dem 
Tode  verfallen  sein  (v.  6).  Denn  „die  im  Fleische  Seien¬ 
den  können  Gott  nicht  gefallen“  (v.  8):  „Ich“  —  als  der 
ich  jetzt  und  hier  bin  und  mich  selbst  kenne  —  kann 
Gott  nicht  gefallen!  Aber  eben  „Ich“  —  als  dieser  „Ich“  — 
habe  keine  aktuelle  Bedeutung  mehr,  indem  ich  „in  Chri¬ 
sto  Jesu  bin“,  indem  das  durch  ihn  aufgerichtete  und 
kräftig  gemachte  Gesetz  Gottes  über  mich  Macht  hat.  Ich 
würde  diesem  Gesetz  nicht  unterstehen,  ich  würde  Jesus 
Christus  nicht  angehören,  wenn  ich  nicht  seinen  Geist 
hätte,  wenn  sein  Geist,  der  der  Geist  Gottes  selber  ist, 
nicht  in  mir  wohnte  (v.  9),  wenn  Christus  selbst  nicht  in 
mir  wäre  (v.  10)  und  das  Regiment  über  mich,  die  Ver¬ 
antwortung  für  mich  an  meiner  Stelle  übernommen  hätte. 

Die  Frage  nach  dem,  was  für  mich  gültig  und  über 
mich  mächtig  ist,  eben  damit  aber  auch  die  Frage:  wer 
ich  bin,  ist  damit  entschieden  zu  Ungunsten  des  hinter  mir 
existierenden  und  sein  Wesen  treibenden  Fleisches.  Sie  ist 
nicht  durch  mich  entschieden,  wohl  aber  dadurch,  daß  in 
Jesus  Christus  Gottes  Gesetz  über  und  für  mich  aufge¬ 
richtet  ist  und  sich  nicht  mehr  umstoßen  läßt.  Indem 
dieses  Gesetz  mich  an  Gottes  Gnade  bindet,  bin  ich  dem 
Fleisch  und  seinem  Willen,  wie  sehr  er  mir  nahe  liegen 
mag,  entfremdet,  und  ich  bin  dem  Tod,  dem  es  notwendig 
entgegentreibt,  entrückt,  dem  Frieden  und  damit  dem  Le¬ 
ben  zugewendet  (v.  6).  Ich?  Also  nun  doch  ich?  Ja,  hören 
wir  in  Vers  10  und  11:  das  ist  das  letzte  und  größte 
Wunder,  dem  wir  kraft  der  Aufrichtung  des  Gesetzes 
Gottes,  dem  wir  in  der  Entscheidung  für  den  Geist  und 
gegen  das  Fleisch,  wie  sie  über  und  für  uns  gefallen  ist, 
entgegengehen:  1.  daß  der  „Leib“,  das  „Ich“,  diese 
menschliche  Persönlichkeit,  die  ich  bin,  allerdings  sterben 
muß  um  der  Sünde  willen,  wie  es  mir  im  Tode  Jesu 
Christi  auf  Golgatha  schon  widerfahren  ist,  lange  vor  der 


112 


Todesstunde,  der  ich  jetzt  noch  entgegengehe  —  2.  daß 
der  Geist  Gottes  und  Jesu  Christi,  der  mich  diesem  Leibe 
entrissen  hat  (Kap.  7,  24)  und  hineingerissen  in  die 
Gerechtigkeit  eines  solchen,  der  nur  nodi  von  Gnade  le¬ 
ben  will,  allein  mein  Leben  ist  —  und  3.  daß  nun  gerade 
dieser  Geist,  der  Geist  des  Gottes,  der  Jesus  von  den  Toten 
erweckte,  indem  er  mir  geschenkt  ist,  indem  er  in  mir 
wohnt,  auch  meinen  „Leib“,  auch  mich  als  „Ich“,  auch 
diese  menschliche  Persönlichkeit:  das  ganze  vom  Tode  ge¬ 
zeichnete  und  dem  Tode  verfallene  Wesen,  das  ich  jetzt 
bin  und  habe,  dem  Tode  nicht  überlassen,  sondern  —  von 
seiner  Fleischesnatur  gereinigt,  als  das  Ich,  als  das  We¬ 
sen  und  die  Person  des  von  Ewigkeit  her  von  Gott  ge¬ 
liebten  Menschen  —  mit  Jesus  lebendig,  mich  dem  We¬ 
sen  des  auferstandenen  und  erhöhten  Jesus  gleichförmig 
machen  wird.  Gott  nimmt  uns  nichts,  was  er  uns  nicht 
in  erlöster  und  das  heißt  in  unendlich  viel  besserer  Ge¬ 
stalt  wiedergeben  würde.  Er  nimmt  uns  auch  das  „Ich“ 
nicht,  ohne  es  uns  in  Jesus  Christus  wiederzugeben.  Er 
muß  es  uns  aber  nehmen,  um  es  uns  erlöst  wiederzu¬ 
geben.  Wir  müssen  und  dürfen  es  uns  darum  jetzt  und 
hier  gefallen  lassen,  im  Geiste  Gottes  und  Jesu  Christi 
zu  leben,  unseren  Leib  aber,  uns  selbst  dem  Tode  ent¬ 
gegeneilen  zu  sehen,  im  voraus  dadurch  getröstet,  daß 
dessen  Bitterkeit  am  Kreuz  von  Golgatha  schon  erlitten 
und  überwunden  worden  ist.  Und  über  allen  Gräbern 
steht  die  Verheißung,  daß  durch  denselben  Geist  wir 
selbst,  unsere  Leiber,  ewig  leben  werden. 

Es  ist  sicher  sinnvoll  und  berechtigt,  jedenfalls  in  Vers 
12 — 16,  die  erste  und  kürzeste  der  nun  folgenden  Einzel¬ 
darlegungen  des  8.  Kapitels,  als  Beschreibung  des  Gehor¬ 
sams  zu  verstehen,  der  für  das  Leben  derer,  die  „in  Christo 
Jesu  sind“  bezeichnend  ist.  Was  sollte  der  ihnen  zuteil  ge¬ 
wordenen  Aufrichtung  des  Gesetzes  Gottes  ursprünglicher 
entsprechen  als  eben  ihr  Gehorsam?  Wozu  sind  sie  mit 


113 


Gott  versöhnt  (5.  Kap.),  geheiligt  (6.  Kap.)  und  vom  mi߬ 
brauchten  Gesetz  befreit  (7.  Kap.),  als  eben  dazu,  daß  sie 
gehorsam  seien?  In  weiterem  Sinn  verstanden  könnte  man 
sehr  wohl  das  ganze  8.  Kapitel  als  eine  einzige  Beschrei¬ 
bung  eben  des  Gehorsams  derer  verstehen,  deren  Gesetz 
der  Geist  Gottes  ist.  Aber  wenn  nun  in  Vers  12 — 16  sicher 
im  besonderen  von  dieser  Sache  die  Rede  ist,  werden  wir 
gleich  im  Blick  auf  Vers  12  bemerken  müssen:  Es  handelt 
sich  jetzt  in  keinem  Wort  mehr  um  einen  solchen  Ge¬ 
horsam,  den  zu  leisten  die,  die  in  Jesus  Christus  sind, 
schuldig  wären,  den  sie  leisten  sollten  und  müßten.  Wohl 
war  in  Kap.  6,  16.  17.  22;  7,  6  von  ihrem  Leben  als  von 
einem  „Dienst“  die  Rede  gewesen,  schon  dort  freilich  in 
wohl  zu  beachtender  Beziehung  dieses  Begriffs  zu  dem 
der  „Freiheit“  und  des  „Geistes“.  Der  Begriff  des  Dien¬ 
stes  wird  uns  im  Römerbrief  auch  noch  an  späteren  Stel¬ 
len  (z.  B.  in  Kap.  12,  11  und  14, 18)  begegnen,  wie  er  denn 
überhaupt  bei  Paulus  in  Ehren  steht,  so  gewiß  er  sich  ja 
selbst  seinen  Lesern  gegenüber  dauernd  als  Diener, 
Knecht,  Sklave  Jesu  Christi  bezeichnet  und  eingeführt 
hat.  Aber  wie  das  christliche  Dienen  zu  verstehen  und 
nicht  zu  verstehen  ist,  darüber  gibt  uns  unsere  Stelle 
unzweideutigen  Bescheid.  Ein  Sklavengeist,  ein  Lohn¬ 
dienergeist,  ein  Debitorengeist,  in  welchem  wir  uns  wie¬ 
der  fürchten  müßten  —  wie  wir  uns  vor  Gott  zu  fürch¬ 
ten  hatten,  da  wir  uns  in  Beugung  und  Brechung  seines 
Gebotes  selbst  rechtfertigen  wollten  —  ist  der  Geist  des 
Gehorsams  gegen  Gottes  Gesetz  auf  keinen  Fall  (v.  15). 
Wir  sind  keine  Schuldner  Gottes,  die  ihm  gegenüber  in 
Angst  und  Verlegenheit  ihre  Zinsen  aufzubringen  oder 
wohl  gar  das  geliehene  Kapital  abzutragen  hätten  in  der 
Absicht,  ihm  schließlich  triumphierend  gegenüber  zu  ste¬ 
hen.  Eben  diese  Haltung  war  unser  Leben  nach  dem 
Fleische;  eben  diese  Absicht  war  der  verbotene,  der  un¬ 
ausführbare,  der  verderbliche  Plan  der  in  unserm  Fleisch 


114 


wohnenden  und  regierenden  Sünde,  und  eben  dem 
Fleisch  und  nicht  Gott  (oder  nur  dem  Gottesbild  des 
Fleisches!)  wären  wir  in  dieser  Haltung  in  Wahrheit 
schuldig  und  verpflichtet.  Eben  von  dieser  Schuld  und 
Verpflichtung  sind  (v.  12)  die,  die  in  Christus  Jesus  sind, 
frei:  nicht  um  nun  Gott  gegenüber  in  dasselbe  betrübte 
und  unfruchtbare  Verhältnis  zu  treten  —  gerade  Gott 
gegenüber  ist  dieses  Verhältnis  schlechterdings  unmöglich 

—  sondern  um  in  der  Kraft  dessen,  was  in  Jesus  Christus 
für  sie  geschehen  ist,  in  der  Kraft  des  Geistes  die  Unter¬ 
nehmungen,  jene  „Praktiken“  (v.  13),  zu  denen  der  „Leib“, 
zu  dem  „Ich“  freilich  immer  wieder  Lust  hätte,  immer 
wieder  zu  töten,  zu  negieren  und  fallen  zu  lassen,  um 
in  dem  wirklichen  Gehorsam  dem  Gesetz  Gottes  gegenüber 
gerade  dieses  Verhältnis  immer  wieder  zu  verleugnen.  Die 
von  Gottes  Geist  getrieben,  bewegt,  gezogen  werden  (v.  14) 

—  und  das  ist  das  Wesen  derer,  die  in  Christo  Jesu  sind — , 
die  dienen  ihm  nicht,  weil  sie  sich  als  seine  Schuldner  dazu 
gezwungen  sehen  und  erst  recht  nicht  darum,  weil  sie  das 
Schuldnerideal  haben,  sich  ihm  gegenüber  frei  zu  machen. 
Sie  sind  vielmehr  —  und  das  ist  ihr  Leben  in  Jesus  Chri¬ 
stus,  dem  Sohne  Gottes  —  Gottes  Söhne,  die  seinen  Wil¬ 
len  darum  erfüllen,  weil  Gott  ihr  Vater  ist,  weil  sie  seine 
Söhne  sind,  weil  sie  kraft  des  Geistes  Gottes,  der  ja  als 
der  Geist  Jesu  Christi  der  Geist  der  Sohnschaft  ist,  von 
sich  aus,  in  ihrer  eigensten  Freiheit,  gar  keine  andere  Wahl 
und  Möglichkeit  haben  als  die,  seinen  Willen  zu  voll¬ 
ziehen  (v.  15).  Sie  vollziehen  ihn  aber  damit,  daß  sie  zu 
ihm  schreien  —  aus  und  in  der  Tiefe  der  Not  ihrer 
menschlichen  Existenz,  aber  nun  nicht:  „Ich  elender 
Mensch!“  sondern:  „Abba,  Vater!“  —  als  verlorene  Kin¬ 
der,  aber  als  solche,  die  in  ihrer  Verlorenheit  von  Gott  ge¬ 
funden  und  gehalten,  die  eben  in  ihrer  Verlorenheit  an¬ 
geleitet  sind,  ihn  Vater  zu  nennen,  sich  an  ihn  zu  halten 
als  an  den  „Vater  der  Bermherzigkeit“  und  „Gott  alles 


115 


Trostes“  (2.  Kor.  1,  3)  —  wie  Jesus  ja  die  Seinen  eben 
dazu  tatsächlich  angeleitet  hat!  — ,  die  eben  in  ihrer  Ver¬ 
lorenheit  das  eine  gute  Werk  solchen  Schreiens  und  damit 
die  eine  durch  Gottes  Gesetz  geforderte  Tat  des  Gehor¬ 
sams  nicht  unterlassen  können.  Könnten  sie  es  wohl  unter¬ 
lassen,  der  Gnade  gehorsam  zu  sein  durch  solches  Schreien, 
könnte  ihr  Geist  müde  werden,  könnten  sie  Neigung 
haben,  zurückzufallen  in  jene  „Praktiken“  eines  Gottes¬ 
verhältnisses,  das  ohne  Furcht  nie  sein  kann,  das  an¬ 
derswo  als  im  Tode  nie  endigen,  das  den  Namen  Gottes 
nur  lästern  könnte?  Wie  sollte  es  anders  möglich  sein,  daß 
das  jederzeit  geschehen  könnte?  Aber  eben  unter  dieser 
ständigen  Drohung  und  Gefahr,  der  sie  selbst  nie  ge¬ 
wachsen  wären,  wird  der  Geist  Gottes  ihrem  schwachen, 
ihrem  sich  immer  ohnmächtig  wissenden  Geist  zur  Seite 
stehen  mit  seinem  Zeugnis.  Sie  werden  dann  von  dem 
aufgerichteten  Gesetz  Gottes,  vom  Kreuz  von  Golgatha 
her,  wo  über  sie  verfügt  worden  ist,  immer  wieder  hören: 
wir  sind  Söhne  Gottes  (v.  16)1  Wir,  die  zum  eigenmächti¬ 
gen  Tun  alles  Guten  wirklich  Ohnmächtigen!  Wir,  deren 
Fleisch  von  der  Sünde  bewohnt  und  beherrscht  ist!  Wir, 
die  selbstsüchtigen,  aufrührerischen  und  unnützen  Knechte: 
wir  sind  Gottes  Kinder!  Es  bedarf  schon  des  von  dorther 
kommenden  Zeugnisses,  des  Zeugnisses  des  Heiligen  Gei¬ 
stes,  damit  auch  unser  unheiliger  Geist,  von  jenem  bewegt 
und  getrieben,  uns  dieses  Zeugnis  gebe.  Es  muß  uns 
schon  gesagt  werden,  damit  wir  es  uns  selbst  sagen  kön¬ 
nen:  Wir  sind  Gottes  Kinder!  Es  kann  und  wird  aber 
nicht  fehlen,  daß  uns  von  dorther  eben  das  und  immer 
wieder  das  gesagt  werden  wird,  und  daß  wir  es  daraufhin 
in  kühner  Freiheit  auch  zu  uns  selber  sagen  dürfen,  etwas 
anderes  zu  uns  selber  zu  sagen  gar  nicht  mehr  die  Wahl 
haben:  Wir  sind  Gottes  Kinder!  Und  es  kann  und  wird 
dann  wiederum  nicht  fehlen,  daß  wir  neu  eintreten  dürfen 
und  müssen  in  jenes  gute  Werk  des  Gehorsams,  welches 


116 


darin  besteht,  zu  schreien:  Abba!  Vater!  Man  wird  schon 
beachten  müssen,  daß  von  einem  anderen  Gehorsamswerk 
der  Kinder  Gottes  gerade  auf  diesem  Höhepunkt  des  Rö¬ 
merbriefs  nicht  die  Rede  ist.  Dazu  sind  wir  mit  Gott  ver¬ 
söhnt,  dazu  für  Gott  geheiligt,  dazu  frei  gemadit  vom  Ge¬ 
setz  der  Sünde  und  des  Todes,  damit  dieses  Werk  ge¬ 
schehe.  Damit,  daß  wir  dieses  Werk  tun,  folgen  wir  dem 
Treiben  und  Ziehen  des  Geistes  und  beweisen  wir,  daß 
wir  nicht  des  Fleisches  Schuldner  sind.  Es  kann  und  soll 
offenbar  ein  anderes  Gehorsamswerk  zu  diesem  einen 
nicht  hinzukommen.  Es  sollen  offenbar  alle  Gehorsams¬ 
werke  in  diesem  einen  beschlossen  sein,  aus  ihm  und  nur 
aus  ihm  hervorgehen,  unter  allen  Umständen  in  ihm  ihre 
Wurzel  und  Urgestalt,  ihre  erste  und  letzte  Bedingung 
haben.  Es  ist  denen,  die  in  Christus  Jesus  sind,  offenbar 
nichts  erlaubt,  was  mit  diesem  Schreien  der  Kinder  Gottes 
zu  ihrem  Vater  nicht  in  Einklang  wäre.  Es  ist  ihnen  offen¬ 
bar  alles  das  geboten,  was  ihnen  als  diesen  zu  ihrem 
Vater  schreienden  Kindern  Gottes  nötig  ist.  Es  kann  und 
wird  beides,  das  Verbotene  und  das  Gebotene  sehr  Vieles 
umfassen  —  die  letzten  Kapitel  unseres  Briefes  werden 
uns  davon  eine  gewisse  Vorstellung  geben  — ,  es  wird 
aber  die  Erfüllung  des  Gesetzes  Gottes  (v.  4),  weil  es  das 
Gesetz  seiner  Gnade  ist,  zuerst  und  zuletzt  immer  in  dem 
bestehen,  was  uns  in  diesen  Versen  als  die  Frucht  des 
Geistes  bezeichnet  wird.  So  wie  in  Vers  15  besdirieben, 
antwortet  der  Christ  auf  das  Zeugnis  des  Heiligen  Geistes 
oder  er  tut  es  gar  nicht  —  was  dann  wohl  bedeuten 
würde,  daß  er  ein  Christ  noch  nicht  oder  nicht  mehr  wäre. 

Der  Gesichtspunkt  des  Gehorsams  als  der  bezeichnen¬ 
den  Eigenschaft  des  Lebens  unter  Gottes  Gesetz  wird  nun 
auch  in  dem  größeren  mittleren  Abschnitt  in  Vers  17 — 27*) 

*)  Vgl.  dazu  KD  IV,  2,  S.  367  f. 


117 


nicht  preisgegeben  und  auch  sachlich  nicht  verändert.  Wir 
brauchen  dazu  bloß  auf  die  Verse  23  und  26  zu  blicken. 
Aber  ein  anderer  Gesichtspunkt  wird  jetzt  beherrschend: 
der  nämlich,  daß  das  Leben  unter  Gottes  Gesetz  als  Leben 
in  jenem  Gehorsam  das  Leben  in  der  Hoffnung  ist.  Will 
sagen:  in  der  gewissen,  kräftigen  und  also  schon  die  Ge¬ 
genwart  erfüllenden  und  beherrschenden  Erwartung  der 
künftigen  Offenbarung  des  durch  die  Macht  des  Geistes 
schon  geschaffenen  und  begründeten  Lebens  derer,  die  in 
Christus  Jesus  sind.  Daß  dieses  Leben  einer  Vollendung 
in  solcher  Offenbarung  entgegengeht,  der  Lebendig- 
machung  unseres  jetzt  und  hier  dem  Tode  verfallenen 
Leibes,  der  Wiederherstellung  dessen,  was  als  unser  „Ich“ 
jetzt  nur  vergehen  kann,  damit  der  Geist  lebe  —  das  hör¬ 
ten  wir  schon  in  Vers  10 — 11.  Eben  dieser  Ausblick  wird 
nun  in  Vers  17  neu  aufgenommen.  Und  eben  darum  be¬ 
kommen  wir  es  nun  mit  dem  eigentlichen  Gegenstück  zu 
der  in  Kap.  7,  7 — 23  so  eindrucksvoll  gegebenen  Schilde¬ 
rung  des  dem  Gesetz  der  Sünde  und  des  Todes  unter¬ 
worfenen  Menschen  zu  tun.  Der  von  diesem  Gesetz  be¬ 
freite,  auch  der  durch  den  Geist  dem  Gesetz  Gottes  unter¬ 
tan  gemachte  Mensch  lebt  —  in  der  siegreichen  Entschei¬ 
dung  für  den  Geist  und  gegen  das  Fleisch  (v.  1 — 11),  im 
Gehorsam  der  Kinder  Gottes  (v.  12 — 16)  —  aber  noch 
lebt  er  jetzt  und  hier,  wo  das  Fleisch  jedenfalls  immer 
noch  hinter  ihm  steht,  wo  die  im  Fleische  wohnende  und 
herrschende  Sünde  ihm  immer  noch  eine  Einladung,  eine 
Versuchung,  eine  Gefahr  bedeutet.  Daß  wir  jetzt  und  hier 
leben,  heißt:  wir  befinden  uns  da,  wo  das  Kreuz  Christi 
neben  dem  Licht ,  das  von  ihm  ausgeht  als  von  dem  Kreuz 
dessen,  der  auch  auferstanden  ist,  auch  immer  noch  den 
Schatten  des  Todes  verbreitet  über  das  ganze  menschliche 
Wesen,  das  dort,  am  Kreuz  des  Sohnes  Gottes,  gerichtet 
und  getötet  worden  ist  und  das  nun  nachträglich  nur 
noch  dies  erfahren  kann  und  eben  dies  tatsächlich  er- 


118 


fahren  muß,  daß  es  dort  gerichtet  und  getötet,  daß  sein 
weiterer  Bestand  nur  noch  eine  Zeitfrage,  daß  es  vergäng¬ 
lich  ist  und  in  seinem  Vergehen  jenen  Tod  zu  bestätigen 
hat  und  unfehlbar  bestätigen  wird.  In  diesem  Todes¬ 
schatten,  unter  seiner  Verheißung,  aber  auch  unter  seiner 
unerbittlichen  Notwendigkeit  leben  auch  die,  die  in  Chri¬ 
stus  Jesus  sind,  sofern  sie  jetzt  und  hier  leben.  So  wahr 
sie  Kinder  Gottes  sind  (v.  17),  so  wahr  sind  sie  auch 
Gottes  Erben,  d.  h.  Anwärter  der  Teilnahme  an  dem,  was 
Gott  gehört  und  eigentümlich  ist:  der  Teilnahme  an  sei¬ 
ner  Lebensherrlichkeit,  die  in  Christus  schon  aufgenom¬ 
men  ist  und  in  die  mit  ihm  aufgenommen  zu  werden  sie 
so  bestimmt  erwarten,  wie  sie  eben  in  ihm,  welcher  für 
sie  gestorben,  und  in  welchem  sie  schon  mitgestorben 
sind,  allein  ihre  Zukunft  haben.  Ihre  dieser  Zukunft  mit 
ihm  vorangehende  Gegenwart  kann  aber  offenbar  keine 
andere  sein,  als  eine  solche,  die  bestimmt  ist  durch  sein 
Leiden.  „Noch  leben“  nach  seinem  Tode  heißt  einerseits  ge¬ 
wiß:  den  eigenen  Tod  nicht  mehr  fürchten  müssen,  weil  er 
in  ihm  schon  geschehen,  weil  seine  ganze  Bitterkeit  von 
ihm  schon  durchkostet  und  erlitten,  von  uns  also  nicht 
mehr  durchzumachen  ist.  „Noch  leben“  nach  seinem  Tode 
heißt  aber  andererseits  ebenso  gewiß:  noch  in  der  An¬ 
fechtung  stehen,  die  vor  seinem  Tode,  die  in  Gethsemane 
sein  Teil  war  —  nicht  ohne  ihn,  sondern  mit  ihm,  aber  mit 
ihm  in  der  Anfechtung  stehen,  mit  ihm  dort  stehen,  wo 
er  als  der  erniedrigte  Gottessohn  gestanden  hat.  Man  kann 
schon  der  Stelle  5,  3 — 4,  man  muß  aber  vor  allem 
dem  ganzen  noch  folgenden  Inhalt  dieses  8.  Kapitels  ent¬ 
nehmen,  daß  Paulus  diesen  Ort  als  einen  ausgezeichneten 
Ort,  als  einen  Ort  voller  Verheißung  angesehen  hat,  wo 
uns  nur  vorläufig  Schlimmes,  nur  ein  sehr  geringfügig 
Schlimmes  widerfahren  kann.  Man  rühme  sich  dessen,  an 
diesem  Ort  stehen  zu  dürfen!  hieß  es  schon  dort.  Wie  sollte 
es  anders  sein,  da  wir  ja  nicht  allein,  sondern  eben  mit 


119 


Christus  an  diesem  Ort  stehen:  mit  ihm,  der  von  diesem 
Ort  aus  der  Herrlichkeit  Gottes  entgegenging?  Eben  dar¬ 
um  erfolgt  nun  auch  kein  Wort  der  Klage  darüber,  daß 
es  mit  unserem  Leben  nach  dem  Tode  Jesu  Christi  so  steht, 
daß  es  nur  noch  im  Schatten  dieses  seines  Todes  sich  aus¬ 
breiten  kann,  daß  es  entscheidend  darin  besteht,  daß  wir 
mit  ihm  zu  leiden  haben.  Wie  sollte  es  anders  sein,  da 
wir  unter  dem  Gesetz  Gottes  stehen  dürfen?  Eben  das  be¬ 
deutet  nun  aber  (v.  18),  daß  zwischen  dem,  was  wir  an 
diesem  unserem  jetzigen  Ort  zu  leiden  haben  und  der 
künftig  an  uns  zu  offenbarenden  Herrlichkeit  ein  solches 
Verhältnis  besteht,  daß  zur  Klage  unsererseits  kein  Raum 
bleibt,  daß  von  jenem  Leiden  als  von  einem  harten  Müs¬ 
sen  in  keinem  Wort  die  Rede  sein  kann,  sondern  eben 
nur  von  der  Hoffnung ,  in  der  es  in  seiner  ganzen  Schärfe 
und  Herbheit  von  denen,  die  in  Christus  Jesus  sind,  tat¬ 
sächlich  ertragen  wird:  daraufhin,  daß  es  als  der  vom 
Kreuz  von  Golgatha  her  auf  sie  fallende  Schatten  etwas 
Anderes  als  der  Vorbote  der  sie  erwartenden  Herrlichkeit 
nicht  sein  kann.  Man  muß  sich  wohl  merken,  daß  das  mit 
Idealismus  und  Optimismus  nichts  zu  tun  hat.  Eben  weil 
Paulus  das,  was  zu  erleiden  ist,  als  notwendige  Auswir¬ 
kung  des  Todes  Christi  versteht  (in  welchem  allem  Idea¬ 
lismus  und  Optimismus  wahrlich  ein  Ende  gemacht  ist!), 
eben  darum  und  nur  darum  sieht  er  die  Waage  zwischen 
den  Leiden  dieser  Zeit  und  der  kommenden  Herrlichkeit 
so  ungleich  beladen.  Er  sieht  dabei  alles  —  aber  eben 
wirklich  Alles  —  wie  es  ist  und  nicht,  wie  er  es  sich  den¬ 
ken  möchte.  Und  unter  Allem  steht  für  ihn  die  dem  Tod 
auf  Golgatha  folgende  Auferstehung  Jesu  Christi  an  der 
ersten  nicht  nur,  sondern  an  der  alles  Übrige  beherrschen¬ 
den  Stelle,  von  der  aus  er  die  seinem  Tod  vorangehende 
Anfechtung  Jesu  Christi  und  unsere  eigene  nur  als  einen 
Auftakt  verstehen  kann,  bei  dem  es  kein  Verweilen  geben, 
der  nur  anklingen  kann,  um  in  dem,  was  folgt,  alsbald 


120 


zu  verklingen.  Daß  Paulus  auch  alles  Übrige  in  der  Welt 
sowohl  wie  bei  den  Christen  sieht,  wie  es  ist,  wird  im 
Folgenden  deutlich  genug  ersichtlich.  Er  sagt  in  Vers 
19 — 22:  daß  die,  die  in  Christus  Jesus  sind,  nicht  allein 
sind  in  ihrer  Erwartung  der  künftigen,  alles  verändern¬ 
den  Herrlichkeit  Gottes,  sondern  umgeben  von  der  gan¬ 
zen  Schöpfung,  die  als  solche  derselben  Erneuerung  ent¬ 
gegengeht.  Er  sagt  aber  wiederum  in  Vers  23:  daß  das 
Seufzen  nach  Erlösung  nicht  nur  eine  Sache  der  unerlös- 
ten  Welt  da  draußen,  sondern  auch  und  zuerst  die  Sache 
gerade  der  Christen  ist.  Der  in  Vers  19 — 22  viermal  ge¬ 
brauchte  Ausdruck  „Kreatur“  bezeichnet  nach  dem  neu- 
testamentlichen  Sprachgebrauch  zuerst  und  vor  allem  den 
Menschen  in  seiner  Allgemeinheit,  die  Menschheit ,  die  das 
Evangelium  noch  nicht  gehört  hat,  sondern  erst  hören  soll. 
In  einem  weiteren  Sinn  gehört  dann  aber  dazu:  alles  Ge¬ 
schaffene  überhaupt ,  die  lebende  und  leblose  Natur,  die 
den  Menschen  und  seine  Geschichte  umgibt  und  die  nach 
der  biblischen  Auffassung  von  der  Welt  um  des  Menschen 
willen  und  um  vom  Menschen  beherrscht  zu  werden,  ge¬ 
schaffen  ist.  Man  wird  freilich  gerade  darum  bei  dem,  was 
Paulus  sagt,  doch  zuerst  an  den  Menschen  als  den  Mittel¬ 
punkt  der  Schöpfung  Gottes  zu  denken  haben.  Dort  wird 
es  greifbar,  was  er  von  dem  Ganzen  der  Schöpfung  sagt: 
daß  sie  sich  —  einerlei,  ob  sie  es  weiß  oder  nicht  —  in 
einem  Zustand  sehnsüchtiger  Erwartung  befindet,  weil  sie 
der  Nichtigkeit  unterworfen  ist,  weil  sie  im  „Dienst  des 
Vergehens“  steht,  will  sagen:  weil  alle  ihre  Werke  und 
Unternehmungen,  ihr  ganzes  Leben  in  allen  seinen  Regun¬ 
gen  und  Bewegungen  immer  wieder  auf  Staub  und  Ver¬ 
gessenheit  hinauslaufen,  weil  alle  Erhaltung  der  Kraft 
und  des  Stoffes,  weil  alle  Kontinuität  ihrer  Entwicklung 
nichts  daran  ändert,  daß  alles  ihr  Werden  zu  keinem  Sein 
und  Bleiben,  sondern  nur  immer  aufs  neue  zum  Ver¬ 
gehen  und  Nichtsein  führen  kann.  Sehr  gegen  ihren  Wil- 


121 


len:  sie  möchte  ja  offenkundig  leben  und  nicht  sterben 
und  muß  nun  doch  mit  ihrem  ganzen  Leben  nur  immer 
aufs  neue  sterben.  In  diesem  ihrem  Widerwillen  gegen 
die  ihr  auferlegte  Notwendigkeit  des  Vergehens  ist  die 
Kreatur  —  nochmals:  ob  sie  es  weiß  oder  nicht  —  die 
sehnsüchtige ,  die  seufzende ,  nach  dem  Ausdruck  in  Vers 
22:  die  in  Geburtsschmerzen  sich  windende  Kreatur.  Was 
ist  es  mit  dieser  ihr  auferlegten  Notwendigkeit  des  Ver¬ 
gehens?  Wer  ist  der,  der  den  Menschen  und  mit  ihm  die 
ganze  Schöpfung  der  Nichtigkeit  unterworfen  hat  (v.  20)? 
Es  scheint  mir  kein  Zweifel  daran  möglich,  daß  Paulus 
auch  hier  sehr  einfach  an  Jesus  Christus  gedacht  hat,  der 
in  seinem  Tod,  wie  wir  immer  wieder  hörten,  dem  Men¬ 
schen  ein  Ende  gemacht,  das  Urteil  über  ihn  gesprochen 
und  vollzogen  hat.  Daran  leidet  mit  dem  Menschen  die 
ganze  Welt  des  Menschen,  daß  das  geschehen  ist.  Darum, 
weil  auf  Golgatha  das  Schlußwort  gesprochen  ist  über  den 
Menschen  und  seine  ganze  Welt,  darum  kann  und  wird 
es  für  ihn  und  in  seiner  Welt  zu  keinem  Sein  und  Blei¬ 
ben  mehr  kommen.  Darum  entsteht  und  besteht  jetzt  und 
hier  alles  nur  bis  auf  weiteres,  nur  auf  Abbruch.  Darum 
gibt  es,  soweit  das  Auge  reicht,  nur  sterbendes  Leben. 
Darum  kann  die  Kreatur  in  ihrer  ganzen  Herrlichkeit  jetzt 
und  hier  nichts  anderes  sein  als  eben  seufzende  Kreatur: 
„in  dem  Dienst  der  Eitelkeiten,  der  uns  noch  so  hart  be¬ 
drückt,  wenn  auch  unser  Geist  zu  Zeiten  sich  zu  etwas 
Bess’rem  schickt“.  Aber  eben  weil  Jesus  Christus  der  Un¬ 
terwerfende  ist,  handelt  es  sich  (v.  20)  um  eine  Unter¬ 
werfung  „auf  Hoffnung“.  In  der  Verheißung,  derer  die 
teilhaftig  sind,  die  in  Christus  Jesus  Gottes  Kinder  sind, 
wird  sichtbar,  nach  was  der  Mensch  und  mit  ihm  die 
ganze  Schöpfung  seufzt,  was  ihr  fehlt,  welches  die  ihrer 
Unterwerfung  unter  die  Nichtigkeit  entsprechende  Freiheit 
ist.  Es  gibt  ja  keine  andere  Unterwerfung  als  die  unter 
das  Gericht  Gottes  im  Tode  Jesu  Christi,  so  auch  keine 


122 


andere  Freiheit  als  die  Stoer  Herrlichkeit,  deren  Anwär¬ 
ter  als  Miterben  die  Kinder  w'ttes  sind.  Wo  und  wie  im¬ 
mer  nach  Freiheit  geseufzt  wird,  da  wird  nicht  vergeblich 
geseufzt.  Indem  jenes  Gericht  über  die  ganze  Welt  ergeht, 
ist  auch  der  ganzen  Welt  diese  Zukunft  gegeben,  ist  ihr 
diese  Erfüllung  ihres  Seufzens,  diese  Geburt  als  Frucht  ih¬ 
rer  Schmerzen  zugesagt:  „Sie  wird  befreit  werden  vom 
Dienst  des  Vergehens  zur  Freiheit  der  Herrlichkeit  der 
Kinder  Gottes<c  (v.  21).  Sie  wartet  also  mit  den  Kindern 
Gottes  darauf,  daß  die  Herrlichkeit  offenbar  werde:  es 
sind  die  Kinder  Gottes  mit  ihrer  Zukunft  die  Gewähr  für 
die  Zukunft,  der  alle  Menschen  und  alle  Dinge  entgegen- 
gchen  (v.  19).  Aber  wie  die  Welt  an  ihrer  Hoffnung,  so 
haben  auch  sie  Anteil  an  dem  durch  die  ganze  Welt  gehen¬ 
den  Seufzen  (v.  23):  nicht  obwohl,  sondern  gerade  weil 
sie  „die  Erstlingsgabe  des  Geistes“,  gerade  weil  sie  im 
Geist  den  gegenwärtigen  Anfang  der  künftigen  Herrlich¬ 
keit  schon  haben,  der  Segnung  des  Gesetzes  Gottes  als  des 
„Geistes  des  Lebens“  (v.  2)  schon  teilhaftig  sind.  Indem 
sie  Kinder  Gottes  schon  sind  laut  dessen,  was  der  Geist 
ihrem  Geist  bezeugt  (v.  16),  steht  doch  die  Offenbarung, 
die  Enthüllung  dessen,  was  sie  sind,  steht  das  Inkraft¬ 
treten  des  Rechtes  und  Besitzes  ihrer  Sohnschaft  noch  vor 
ihnen.  1.  Joh.  3,  1  f.  ist  hier  zu  vergleichen:  „Sehet, 
welch  eine  Liebe  hat  uns  der  Vater  damit  erwiesen,  daß 
wir  Kinder  Gottes  genannt  werden  und  sind . . .  Geliebte, 
wir  sind  jetzt  schon  Gottes  Kinder  und  es  ist  doch  noch 
nicht  erschienen,  was  wir  sein  werden.  Wir  wissen  aber, 
daß  wir,  wenn  es  offenbar  werden  wird,  ihm  gleich  sein 
werden.“  Ihm  gleich:  nämlich  in  der  „Erlösung  unseres 
Leibes“,  in  der  Wiederherstellung  des  „Ich“,  das  jetzt  und 
hier  nur  vergehen,  dem  das  Leben  des  Geistes,  der  ja 
der  Geist  Gottes  und  nicht  unser  eigener  Geist  ist,  jetzt 
und  hier  nur  als  ein  Anderes,  Fremdes  gegenüberstehen 
kann.  Angesichts  dieses  Vergehens  nehmen  auch  die  Kin- 


123 


der  Gottes  teil  an  der  sehnsüchtigen  Erwartung  der  gan¬ 
zen  Kreatur,  seufzen  auch  sie.  Sie  seufzen  nicht  unge- 
tröstet.  Wie  sollten  sie  ungetröstet  sein,  da  sie  ja  den  Geist 
jetzt  und  hier  schon  haben?  Aber  sie  seufzen.  Sie  kennen 
die  Vollendung,  aber  sie  haben  sie  noch  nicht.  „In  Hoff¬ 
nung  sind  wir  getröstet“  (v.  24).  Man  muß  beide  Worte 
gleich  stark  betonen.  Zu  unserer  in  Jesus  Christus  gesche¬ 
henen  Errettung  braucht  nichts  hinzuzukommen.  „Es  ist 
vollbracht“  (Joh.  19,  30).  Nur  daß  das  Vollbrachte,  sofern 
es  auch  unsere  Herrlichkeit  in  sich  schließt,  noch  ver¬ 
borgen ,  noch  nicht  sichtbar  ist.  Nur  in  seiner  Offen¬ 
barung  (v.  18  und  19)  besteht  die  erwartete  Vollendung. 
Eben  dieser  Offenbarung  gilt  nun  die  Hoffnung  —  gilt 
der  Glaube,  sofern  er  wie  der  Glaube  Abrahams  (Kap. 
4,  18  ff.)  Hoffnung  ist.  Hoffnung  ist  auf  die  Erfüllung  der 
göttlichen  Verheißung,  in  deren  Besitz  wir  jetzt  und  hier 
schon  leben  dürfen.  Der  Glaube  ist  Hoffnung,  sofern  er 
die  Verheißung  kennt  und  festhält,  obwohl  er  ihre  Er¬ 
füllung  noch  nicht  sehen  kann:  die  von  Gott  verheißene 
Zukunft  der  Erlösung  unseres  Leibes,  unseres  Seins  in 
der  Herrlichkeit  des  auferstandenen  Christus.  Der  Glaube 
ist  Hoffnung,  sofern  wir  die  Schwachheit,  das  Leiden,  die 
Anfechtung  des  erniedrigten  Gottessohnes  gerade  darum 
mit  ihm  teilen  dürfen,  weil  auch  seine  Zukunft  in  der 
Herrlichkeit  die  unsre  ist.  Der  Glaube  ist  Hoffnung,  so¬ 
fern  er  (v.  25)  in  der  Geduld  besteht,  in  der  Ausdauer 
und  Beharrlichkeit,  mit  der  wir,  seufzend  und  doch  ge¬ 
tröstet,  auf  die  Erfüllung  der  Verheißung  warten  dürfen. 
Diese  Geduld  ist  damit  notwendig,  damit  aber  auch  leicht 
gemacht,  daß  er  selbst,  Jesus  Christus,  unsere  Hoffnung 
ist,  daß  wir  auf  etwas  Anderes  als  auf  die  Offenbarung 
des  von  ihm  schon  Vollbrachten  nicht  mehr  zu  warten 
brauchen,  daß  schon  unser  Warten  als  solches  erfüllt  ist 
von  der  Gegenwart  des  Erwarteten.  Kraft  des  aufgerichte¬ 
ten  Gesetzes  Gottes  ist  uns  das  wirklich  leicht  gemacht. 


124 


Paulus  erklärt  sich  jetzt  (v.  26 — 27)  ganz  ähnlich  wie 
vorher  in  Vers  16:  Auf  ihre  eigene  Kraft,  geduldig  zu 
sein,  auf  den  Schwung  und  Enthusiasmus  ihres  Höffens 
sind  gerade  die,  die  in  Christus  Jesus  sind,  nicht  ange¬ 
wiesen.  Sondern  indem  sie  inmitten  und  gleich  der  ganzen 
übrigen  Welt  im  Dienst  des  Vergehens  stehen  und  darum 
mit  der  ganzen  Kreatur  zu  seufzen  nicht  unterlassen  kön¬ 
nen,  kommt  der  Geist  ihrer  Schwachheit  zu  Hilfe.  Wie 
das?  Es  wird  beim  Bleiben  in  Hoffnung,  bei  der  Geduld 
des  Wartens  offenbar  entscheidend  darum  gehen,  daß  wir 
bleiben  und  fortfahren  in  jenem  Werk  der  Anrufung,  in 
jenem  Schreien:  Abba,  Vater!  (v.  15),  in  welchem  die 
Gnade  als  Gnade  ergriffen  und  eben  damit  das  Gesetz 
erfüllt  wird.  Eben  zum  Tun  dieses  Werkes  kommt  der 
Geist  uns  zu  Hilfe,  ja  tritt  der  Geist  selbst  für  uns  ein. 
Denn  wie  sollten  wir  wissen,  was  rechtes  Beten  ist,  wie 
sollten  wir  gerade  das  Abba,  Vater!  als  das  eine  große 
rettende  Gebet  recht  zu  beten  in  der  Lage  sein?  Wie  hätten 
wir  verstanden,  daß  Gnade  Gnade  ist,  wenn  wir  gerade 
vor  diesem  Werk  nicht  erschreckt  zurückweichen  würden? 
Wer  kann  gerade  so  beten?  Wer  kann  so  mit  Gott  reden, 
um  mit  dieser  Rede  Gott  angenehm  zu  sein  und  von  ihm 
erhört  zu  werden?  Und  nun  sagt  Paulus,  daß  eben  in 
diesem  einen  entscheidenden  Werk  Gott  selbst  für  uns  ein- 
tritt,  sich  selbst  zu  unserem  Fürsprecher  bei  sich  macht, 
daß  er  den  für  uns  unaussprechlichen  Seufzer  seufzt,  um 
eben  darum  gewiß  auch  zu  hören,  was  wir  selber  ja  nicht 
zu  ihm  sagen  könnten,  um  dann  gewiß  auch  anzuneh¬ 
men,  was  er  selbst  darzubringen  hat.  Das  ist  es  zuhöchst 
und  zuletzt,  was  mit  der  Aufrichtung  des  Gesetzes  Gottes 
für  die,  die  in  Christus  Jesus  sind,  Wirklichkeit  wird.  Das 
ist  es,  was  sie  von  der  Hoffnung  nicht  weichen  läßt,  wenn 
sie  es  schon  wollten.  Das  ist  das  Geheimnis  ihrer  Geduld. 
Daß  Gott  in  ihren  freudlosen  und  kraftlosen  Seufzern 
die  Stimme  seines  eigenen  Sohnes  hört,  das  macht  dieses 


125 


ihr  Seufzen  zu  der  Anbetung,  die  ihm  wohlgefällig  ist, 
und  macht  es  für  sie  selbst  zu  dem  getrösteten  Seufzen,  in 
welchem  sie  aus  der  Hoffnung  nie  herausfallen  werden. 


Der  letzte  Abschnitt  von  Röm.  8,  Vers  28—39*)  be¬ 
schreibt  das  Leben  unter  dem  Gesetz  Gottes  als  das  Leben 
in  der  Unschuld.  Wir  entnehmen  diesen  Begriff  insbesondere 
den  Versen  31 — 39,  in  denen  in  aller  Form  eben  die  Frage 
aufgeworfen  wird:  wer  nun  etwa  gegen  die,  die  in  Chri¬ 
stus  Jesus  sind,  auftreten,  ihnen  etwas  Vorhalten,  sie  an- 
klagen  könnte  und  in  denen  auf  diese  Frage  in  aller 
Form  die  Antwort  gegeben  wird:  niemand  kann  das,  von 
nirgendswoher  kann  das  geschehen;  denn  gerade  der,  der 
gegen  sie  sein  und  reden,  gerade  der  Einzige,  der  sie  schul¬ 
dig  sprechen  könnte,  tut  das  Gegenteil;  gerade  er  ist  und 
redet  für  sie,  und  indem  er  das  tut  —  er,  der  Brunn¬ 
quell  und  das  Maß  aller  Gerechtigkeit,  er,  der  ewige  Rich¬ 
ter  —  sind  sie  eben  unschuldig. 

Wir  hörten  schon  in  Vers  26 — 27:  sie  haben  inmitten 
der  Welt,  die  im  Schatten  des  Kreuzes  Christi  nur  vergehen 
kann  und  als  deren  Angehörige  sie  auch  selbst  sterben 
müssen,  darin  die  Kraft  zu  der  Hoffnung,  die  nach  Kap. 
5,  5  nicht  zuschanden  werden  läßt:  daß  der  Geist  für 
sie  eintritt,  für  sie  redet,  so  daß  Gott  in  ihrem  schwachen 
und  gebrechlichen  Beten  die  Stimme  seines  eigenen  Soh¬ 
nes  vernimmt,  an  dem  er  Wohlgefallen  hat,  so  daß  dieses 
Wohlgefallen  auch  ihnen  zugute  kommt,  so  daß  er  sie  hört 
als  seine  Kinder,  wenn  sie  aus  großer  Tiefe  zu  ihm  rufen 
(v.  15):  Abba,  Vater!  Der  Geist  ist  die  in  ihrem  Glauben 
über  ihre  ganze  Gefangenschaft  unter  Sünde  und  Tod 
triumphierende  Gnade  Gottes.  Dieser  Geist  ist  der  An¬ 
walt,  der  sie  freispricht,  weil  ja  eben  er  auch  ihr  Gesetz 
und  ihr  Richter  ist.  Und  wir  hörten  schon  in  Vers  1 :  „So 

*)  Vgl.  dazu  KD  IV,  2,  S.  308  f. 


126 


gibt  es  nun  keine  Verurteilung  für  die,  die  in  Christus 
Jesus  sind“.  —  Das  ist  die  Botschaft,  die  nun,  am  Schluß 
des  Kapitels,  ausdrücklich  noch  einmal  aufgenommen  wird. 

Wenn  es  in  Vers  28  heißt,  daß  denen,  die  Gott  lieben, 
alle  Dinge  zum  Guten  mitwirken,  so  ist  bei  „allen  Dingen“ 
an  alles  das  zu  denken,  was,  sei  es  als  irdisdi-geschicht- 
liches  Widerfahrnis  (v.  35),  sei  es  als  geistlich-überwelt- 
licher  Einfluß  (v.  38),  die  Macht  haben  könnte,  den  Chri¬ 
sten,  die  da  solchen  Widerfahrnissen  und  Einflüssen  nicht 
entzogen  sind,  die  Freiheit  der  Unschuld,  in  der  sie  vor 
Gott  stehen  dürfen,  wieder  zu  nehmen.  Warum  haben  sie 
sie  faktisch  nicht?  Darum  nicht,  wird  es  in  Vers  35  und 
39  heißen,  weil  keine  von  diesen  Möglichkeiten  auch  nur 
von  ferne  so  groß  ist,  um  sie  von  der  nach  Kap.  5,  5  in 
ihre  Herzen  gegossenen  Liebe  Gottes  —  sie  heißt  in  Vers  35 
die  Liebe  Christi,  in  Vers  39  die  Liebe  Gottes  in  Christus 
Jesus,  unserm  Herrn  —  zu  trennen,  ihnen  diese  Liebe 
aus  dem  Herzen  zu  reißen,  so  daß  sie  wieder  lieblos  und 
damit  auf  sich  selbst  angewiesen  dastehen  müßten.  Es 
handelt  sich  um  die  Liebe,  die  uns  Gott  damit  erweist, 
daß  wir  ihn  um  seines  eigenen  Sohnes  willen  als  seine 
Kinder  wieder  lieben  dürfen.  Wo  diese  Liebe  ist  —  und 
sie  ist  in  denen,  die  in  Christus  Jesus  sind,  sie  bleibt  in 
ihnen  —  da  sind  alle  jene  Gefahren  keine  Gefahren,  son¬ 
dern  Hilfen  (v.  28),  da  kann  alle  Anfechtung,  die  von  jenen 
Möglichkeiten  her  drohen  kann,  nur  dazu  dienen,  den 
Menschen  im  Gehorsam  und  in  der  Hoffnung  und  damit 
in  jenem  Stand  der  Unschuld  und  also  in  der  Freiheit 
der  Kinder  Gottes  erst  recht  zu  bestätigen  und  zu  bestär¬ 
ken.  Das  ist  das  Gute,  zu  dem  ihnen  alle  Dinge  mitwirken 
müssen.  Ihnen,  die  Gott  lieben!  Paulus  macht  jetzt  noch 
einmal  klar,  daß  dieses  Lieben  im  Zusammenhang  des 
Evangeliums  nicht  etwa  bedeuten  kann,  daß  Menschen  es 
sich  selbst  gewählt,  bereitet  und  verschafft  hätten,  sich 
Gott  zuzuwenden  und  zu  übergeben,  daraufhin,  daß  sie 


127 


mit  Gott  etwas  anzufangen  wüßten,  für  Gott  von  sich 
aus  irgend  eine  Neigung  und  Fähigkeit  hätten.  Von  der 
lebendigen  Kraft  des  Geistes,  des  auf  Golgatha  aufgerich¬ 
teten  Lebensgesetzes  ist  ja  die  Rede.  Die  Gott  lieben,  sind 
die,  die  Gott  nach  seinem  freien  Willen  von  Ewigkeit  her 
zu  solchem  Lieben  bestimmt  und  dann  in  der  Zeit  dazu 
berufen  hat.  Er  hat  für  sie  und  an  ihnen  gehandelt 
(v.  29 — 30):  Er  wußte  um  sie,  er  gab  ihnen  damit,  daß  er 
um  sie  wußte  und  an  sie  dachte,  ihre  Bestimmung  —  bei¬ 
des  im  voraus,  d.  h.  bei  sich  selber,  in  der  Kraft  der  all¬ 
mächtigen  Barmherzigkeit,  welche  war,  ehe  sie  waren,  ja 
ehe  die  Welt  war  (Eph.  1,4)  —  und  daraufhin,  da  sie 
noch  taub  waren,  berief  er  sie  durch  sein  Wort,  darauf¬ 
hin,  da  sie  noch  Gottlose  waren,  sprach  er  zu  ihnen  vor 
den  Ohren  der  ganzen  himmlischen  und  irdisdien  Schöp¬ 
fung:  daß  sie  gerecht  seien,  daraufhin,  da  sic  noch  mit¬ 
ten  in  der  Anfechtung  standen,  bekleidete  er  sie  mit  seiner 
eigenen  Herrlichkeit.  Man  bemerke,  wie  Paulus  das  alles 
in  der  Vergangenheitsform,  als  ein  historisches,  ja  vor¬ 
historisches  ewiges  Faktum  beschreibt.  Mag  es  mit  dieser 
Gefangenschaft  unter  Sünde  und  Tod  stehen,  wie  es  will! 
Mag  die  Angst,  in  der  sie,  dem  Gesetz  der  Sünde  und  des 
Todes  unterworfen,  am  Genügen  der  göttlichen  Gnade 
zweifeln,  und  mag  der  Hochmut,  der  an  Stelle  der  Gnade 
immer  wieder  das  eigene  Werk  setzen  möchte,  noch  so 
groß  sein!  Von  diesem  Faktum  kommen  sie  her,  von  ihm 
her  existieren  sie  als  von  der  neuen,  eigentlichen  Geburt 
her,  die  ihnen  durch  Gottes  Wort  und  Willen  widerfahren 
ist.  Das  ist  die  Macht  des  Gesetzes  Gottes  über  sie,  daß 
sie  von  diesem  Faktum  herkommen,  daß  sie  diese  von 
neuem  Geborenen  sind.  Weil  es  darum,  weil  es  um  das  Ge¬ 
schehen  des  Werkes  des  Heiligen  Geistes  geht,  wenn  sie 
Gott  lieben,  weil  dieses  Lieben  ohne  sie  und  gegen  sie, 
und  damit  für  sie  und  damit  dann  auch  echt  und  recht 
mit  ihnen  geschieht  und  so  ihr  eigenes,  in  ihre  Herzen 


128 


ausgegossenes  Lieben,  das  Lieben  ihres  eigenen  Herzens 
ist,  darum  kann  es  nachher  heißen,  daß  niemand  und 
nichts  sie  davon  zu  trennen  vermag.  Es  geht  um  die  Über¬ 
macht  der  Liebe  Gottes  selbst,  wenn  Menschen,  die  ihn  lie¬ 
ben  und  damit  solche  sind,  denen  auch  alle  Anfechtung 
nur  helfen  kann,  erst  recht  unschuldig  vor  ihm  dazustehen 
und  zu  wandeln.  Das  hat  Paulus  in  Vers  29  konkret 
anschaulich  gemacht,  daß  er  die  ewige  Vorherbestimmung, 
die  Praedestination,  in  deren  Vollzug  es  in  der  Zeit  zur 
Berufung,  zur  Rechtfertigung,  zur  Verherrlichung  des 
Menschen  kommt,  dahin  beschreibt:  Gott  hat  sie  von  Ewig¬ 
keit  her  gleichgestaltet  seinem  eigenen  Bilde,  d.  h.  aber 
—  denn  das  ist  das  Bild  Gottes  (Kol.  1,15)  —  der  Gestalt 
seines  eigenen  Sohnes.  Er  hat  ihrer  von  Ewigkeit  her  so 
gedacht,  wie  er  von  Ewigkeit  her  seines  eigenen  Sohnes 
gedachte,  und  damit  hat  er  ihnen  ihre  Bestimmung  für 
ihre  zeitliche  Existenz  gegeben.  Sie  sind  durch  die  Liebe, 
in  der  Gott  seinen  eigenen  Sohn  liebt,  dazu  bestimmt, 
seine  Kinder  zu  sein  und  also  ihn  wieder  zu  lieben.  Dar¬ 
um  hat  diese  Liebe  Übermacht:  ohne  sie,  gegen  sie  und  so 
für  sie,  so  in  ihnen.  Darum  ist  es  unmöglich,  sie  von  dieser 
Liebe  zu  scheiden.  Darum  kann  ihnen  alle  Anfechtung  nur 
Hilfe  sein. 

Und  eben  darum  —  wir  kommen  zu  der  Hauptstelle  in 
Vers  31  ff.  —  stehen  sie  nun  auch  unklagbar  da  vor  Gott: 
unklagbar,  soviel  Klage  sich  immer  gegen  sie  erheben 
mag.  „Ist  Gott  für  uns,  wer  mag  wider  uns  sein?“  Es  wäre 
eigenmächtiger  Trotz,  wenn  die,  die  in  Christus  Jesus  sind, 
dabei  verharren  wollten,  daß  irgend  jemand  und  irgend 
etwas  gegen  sie  sein,  daß  ihre  Unschuld  nicht  feststehen 
sollte,  und  daß  sie  sich  darum  aufs  neue  in  die  Angst 
und  in  den  Hochmut  flüchten  müßten.  Indem  sie  Gott 
lieben,  steht  es  fest,  wo  sie  herkommen  und  damit  auch, 
wo  sie  hingehen.  Gott  ist  für  sie.  Das  ist  ja  nach  Vers  29 
und  Vers  30  das  Geheimnis  ihrer  Liebe.  Gott  ist  für  sie. 


129 


Hat  er  doch  seines  eigenen  Sohnes  —  desselben,  um  des¬ 
willen  er  ihrer  von  Ewigkeit  her  gedachte  als  seiner  lieben 
Kinder  —  hat  er  doch  in  ihm  seiner  selbst  nicht  verschont, 
sich  selbst  nicht  für  zu  kostbar  gehalten,  sondern  in  ihm 
—  damit  ihre  ewige  Praedestination  vollzogen  und  er¬ 
füllt  werde!  —  sich  selbst  dahin  gegeben.  Dahin  gegeben  — 
der  Ausdruck  ist  derselbe,  den  Paulus  im  ersten  Kapitel 
(v.  24.  26.  28)  für  die  göttliche  Dahingabe  der  Menschen 
an  ihr  selbstgewähltes  Verderben  verwendet  —  in  die 
Schande  der  menschlichen  Sünde  und  des  menschlichen 
Todes  hineingegeben:  für  sie,  damit  diese  Schande  von 
ihnen  genommen  werde  und  also  die  ihrige  nicht  mehr 
sei.  Unter  dem  Gesetz  dieses  Ereignisses  stehen  und  leben 
sie  ja.  Wie  sollten  sie  da  nicht  unschuldig  sein?  Wie  sollte 
ihnen  da  nicht  alles  geschenkt  sein  und  immer  wieder  ge¬ 
schenkt  werden,  was  ihre  Unschuld  erweisen  und  beweisen 
kann?  Denn  (v.  34):  Wer  will,  wer  kann,  wer  wird  sie 
anklagen  —  sie,  die  von  daher  kommen,  sie  die  Erwähl¬ 
ten  Gottes,  sie,  deren  ewige  Erwählung  in  der  Mitte  der 
Zeit  auf  Golgatha  zum  Vollzug  gekommen  ist  für  alle 
Zeiten,  sie,  die  den  zum  Richer  haben,  der  sie  schon  ge¬ 
recht  gesprochen  hat,  und  als  dessen  endgültiges  Wort  sie 
immer  wieder  diesen  Richterspruch  hören  dürfen?  Wer  ver¬ 
dammt,  wer  verurteilt,  wer  verwirft  diese  Menschen? 
Paulus  bestreitet  nicht  —  wie  sollte  er?  — ,  daß  es  solche 
Verdammnis,  solche  Verurteilung,  solche  Verwerfung  des 
Menschen  —  auch  dieser  Menschen  —  tatsächlich  gibt,  daß 
sie  sie  tausendmal  verdient  haben  und  daß  sie  ihr  ret¬ 
tungslos  verfallen  sind.  Aber  wer  vollzieht  sie?  Antwort: 
Jesus  Christus  vollzieht  sie,  hat  sie  ein  für  allemal  voll¬ 
zogen  für  uns  und  damit  auch  an  uns  —  damit  nämlich, 
daß  er  selber  sie  getragen  und  als  ihr  Träger  gestorben 
ist  —  eben  er,  der  auch  auferstanden,  der  zur  Rechten 
Gottes  ist,  durch  den  Gott  die  ganze  Welt  regiert  und 
richtet,  der  —  Paulus  braucht  denselben  Ausdruck,  den 


130 


er  in  Vers  27  vom  Geiste  brauchte  —  für  uns  eintritt, 
in  welchem  Gott  selbst  also  nicht  gegen,  sondern  für  uns 
ist,  um  deswillen  wir  unsere  gerechte  Verdammnis,  Ver¬ 
urteilung  und  Verwerfung  hinter  uns  und  nicht  mehr 
vor  uns  haben.  Weil  dem  so  ist,  darum  wäre  es  eigen¬ 
mächtiger  Trotz,  wenn  die,  die  in  ihm  sind,  an  ihre  eigene 
Unschuld,  an  ihre  Freiheit  als  Kinder  Gottes  nicht  glau¬ 
ben,  wenn  sie  mit  diesem  Geschenk  nicht  vollen  Ernst 
machen  würden.  Sie  würden  nicht  an  Gott  glauben,  wenn 
sie  nicht  an  diese  ihre  Freiheit  glauben  würden. 

Sie,  die  Gott  lieben!  Noch  einmal  kommt  Paulus  zum 
Schluß  in  Vers  35  ff.  auf  diese  ihre  Bestimmung  zurück, 
um  jetzt  eben  das  zu  unterstreichen:  sie  ist  unverlierbar. 
Sie  gehört  nicht  zu  den  Bestimmungen  des  Menschen,  die, 
weil  sie  geschöpflich  sind,  mit  dem  Vergehen  des  Geschöpfs, 
kraft  der  Anfeditung,  die  auch  dem  Christen  von  der 
Erde  wie  vom  Himmel  her  täglich  widerfahren  kann  und 
tatsächlich  widerfährt,  auch  wieder  dahinfallen  könnten 
und  irgend  einmal  dahinfallen.  Es  gibt  niemand  und 
nichts,  was  sie  von  der  Liebe  Christi  scheiden  könnte.  Die 
Verse  35 — 37  erinnern  zunädist  —  es  ist  das  einzige  Mal 
im  Römerbrief,  daß  das  geschieht  —  daran,  daß  die  Chri¬ 
sten,  mit  denen  Paulus  es  zu  tun  hat,  offenbar  auch  die 
Christen  in  Rom,  in  der  Verfolgung  leben.  Das  ist  der  In¬ 
begriff  der  irdischen  Anfechtung.  In  der  Verfolgung  als 
dem  handgreiflichen  Ausdruck  ihres  Mißerfolges  in  der 
Welt  und  ihrer  eigenen  Teilnahme  an  deren  Verderblich¬ 
keit  (v.  19  f.)  laufen  sie  Gefahr,  ihrer  Unsdiuld  verlustig 
zu  gehen,  das  Gesetz  des  Lebens,  unter  dem  sie  stehen,  aus 
den  Augen  und  Ohren  zu  verlieren,  der  natürlichen  Angst 
und  auch  dem  natürlichen  Hochmut  einen  Raum  zu  ge¬ 
ben,  der  ihnen  nicht  zukommen  kann.  Die  Verfolgung 
könnte  sie  von  Jesus  Christus  wegtreiben,  könnte  sie  des 
Geistes  berauben,  könnte  ihnen  die  Liebe  zu  Gott  nehmen 
wollen.  Paulus  sagt  dazu  nicht,  daß  dies  nicht  geschehen 


131 


darf  und  daß  sie  sich  davor  hüten  sollen,  sondern  er  sagt, 
daß  das  nicht  geschehen  kann.  Ein  Beweis  dafür  ist  nun 
nicht  mehr  nötig,  oder  wenn  man  einen  sucht,  liegt  er  in 
dem  Zitat  aus  Ps.  44:  „Um  deinetwillen  werden  wir  ge¬ 
tötet  den  ganzen  Tag,  sind  wir  geachtet  wie  Schlacht¬ 
schafe“.  Um  deinetwillen:  also  gerade  in  ihrer  Verbindung 
und  Einheit  mit  Jesus  Christus,  gerade  weil  sie  unter 
Gottes  Gesetz,  wie  es  auf  Golgatha  aufgerichtet  wurde, 
leben,  leiden  sie  Verfolgung,  wie  ja  heimlich  alles  Leiden 
der  ganzen  Schöpfung  die  Ausstrahlung  des  Leidens  des 
Sohnes  Gottes,  eben  darum  aber  auch  ein  Leiden  auf 
Hoffnung  ist.  Anfechtung  in  der  Verbindung  und  Einheit 
mit  der  Anfechtung,  die  Jesus  Christus  selber  erlitten  und 
ertragen  hat,  kann  aber  von  ihm  nicht  wegführen,  kann 
diese  Verbindung  und  Einheit,  kann  also  auch  die  Liebe 
nur  stärker  machen.  „In  diesem  allem  überwinden  wir 
weit“  —  nicht  kraft  unseres  Mutes  und  unserer  Aus¬ 
dauer,  aber  „um  deswillen,  der  uns  liebte“,  mit  jener 
ewigen  und  in  der  Mitte  derZeit  verwirklichten  und  offen¬ 
barten  Liebe,  die  die  Verfolgten  im  Stande  ihrer  Unschuld 
unmöglich  erschüttern,  sondern  eben  nur  bestätigen  und 
bestärken  kann,  durch  die  alle  absteigende  Angst  und 
aller  aufsteigende  Hochmut  immer  schon  im  voraus  in 
ihre  Schranken  gewiesen  sind.  Hinter  und  über  der  irdi¬ 
schen  Anfechtung  und  in  dieser  verhüllt  droht  nun  frei¬ 
lich  die  größere  und  gefährlichere  durch  die  unsichtbaren, 
die  himmlischen  Mächte  dieser  Welt.  Von  ihnen  ist  inVers 
38 — 39  die  Rede:  Tod,  Leben,  Engel,  Gewalten,  Gegen¬ 
wart,  Zukunft,  Kräfte,  Höhe,  Tiefe.  Man  muß  damit 
rechnen,  daß  Paulus  hier  einen  ganzen  Aufruhr  geistiger 
Wirklichkeiten,  einen  ganzen  bewegten  Ozean  verborgenen 
und  in  der,  den  Christen  zuteil  werdenden  Verfolgung  nur 
zu  Tage  tretenden  höheren  Widerstandes  gar  nicht  ab¬ 
strakt,  sondern  in  höchst  persönlichen  Gestalten  vor  sich 
gesehen  hat,  jene  „viele  Götter  und  viele  Herren“  (1.  Kor. 


132 


/ 

8,  5),  jene  „Herrscher  dieser  Welt“  (1.  Kor.  2,  6  ff.),  die 
es  letztlich  und  im  Grunde  waren,  die  den  Herrn  der 
Herrlichkeit  gekreuzigt  haben,  weil  sie  die  Weisheit  Got¬ 
tes  nicht  erkannten.  Sie  werden  uns  von  der  Liebe  Gottes 
nicht  trennen  können,  sagt  Paulus  auch  von  ihnen.  Schon 
darum  nicht,  weil  sie  —  wir  hören  das  in  Vers  39  ganz 
beiläufig  —  allesamt  und  in  ihrer  ganzen  Macht  mit  allen 
ihren  Möglichkeiten  nur  Geschöpfe,  nur  „sogen.  Götter“ 
(1.  Kor.  8,  5)  sind,  weil  auch  ihr  Aufruhr  die  Christen 
nur  noch  mehr  mit  dem  verbinden  kann,  dem  er  eigentlich 
gilt,  weil  er  durch  den,  dem  er  eigentlich  gilt,  längst  ge¬ 
stillt  und  überwunden  ist,  weil  alles,  was  ihnen  von  dort 
her  widerfahren  kann,  nur  noch  die  Nachwehen  dessen 
sind,  was  sie  ihm  gegenüber  längst  und  zwar  vergeblich 
auszurichten  versucht  haben,  weil  sie  gerade  in  diesem  ih¬ 
rem  frevelhaftesten  Werk  gar  nicht  als  Götter  und  Herren 
eigenen  Rechtes,  sondern  im  Ergebnis  nur  als  Diener  des¬ 
sen  handeln  konnten,  der  an  dem  von  ihnen  aufgerichte¬ 
ten  Kreuz  die  Unschuld  derer,  die  an  ihn  glauben,  so  an 
den  Tag  gebracht  hat,  daß  jene  zu  spät  kommen,  wenn  sie 
sie  ihnen  heute  noch  nehmen  wollen.  Es  bleibt  also  bei 
Vers  1:  So  gibt  es  denn  keine  Verurteilung  derer,  die  in 
Christus  Jesus  sind!  Keine  Verurteilung!  —  das  ist  das 
endgültig  Frohe  der  frohen  Botschaft  des  Evangeliums. 


133 


9,  1  —  11,  36 


Das  Evangelium  unter  den  Juden"’) 


Es  ist  deutlich,  daß  wir  es  in  diesen  Kapiteln  mit  einem 
zweiten,  verhältnismäßig  selbständigen  Teil  des  Briefes 
zu  tun  bekommen.  Um  eine  weitere  Erklärung  des  Satzes 
1,16  vom  Evangelium  als  dem  allmächtigen  Rettungswerk 
Gottes  für  jeden  Glaubenden  und  also  um  eine  einfache 
Fortsetzung  des  Gedankenganges  1,  18  —  8,  39  kann  es 
sich  hier  nicht  mehr  handeln.  Hier  nicht  und  so  auch  nicht 
in  dem  auf  diesen  Teil  in  Kapitel  12 — 16  folgenden 
Schlußteil  des  Ganzen.  Über  jenes  Rettungswerk,  über  das 
dem  durch  seinen  Glauben  Gerechten  im  Evangelium  zu¬ 
gesagte  Leben  ist  im  Bisherigen  alles  gesagt,  was  zu  sagen 
ist.  Was  wir  jetzt  noch  vor  uns  haben,  ist  die  Antwort 
auf  die  Frage:  Was  bedeutet  es,  wenn  das  so  beschriebene 
Evangelium  —  also  das  Evangelium  als  die  göttliche  Ver¬ 
urteilung  des  Menschen,  als  die  göttliche  Gerechtsprechung 
des  Glaubenden,  als  des  Menschen  Versöhnung  mit  Gott, 
als  seine  Heiligung  und  Befreiung,  als  die  Aufrichtung  des 
göttlichen  Gesetzes  —  auf  Ungehorsam  und  was  bedeutet 
es,  wenn  es  auf  Gehorsam  stößt? 

Wie  das  ist,  wenn  das  Evangelium  auf  Gehorsam  stößt, 
das  wird  Paulus  Kap.  12 — 15  nicht  in  Form  einer  Theorie, 
sondern  bemerkenswerter  Weise  —  wie  sollte  von  Ge¬ 
horsam  anders  gesprochen  werden  können?  —  in  Form 
einer  Reihe  von  bestimmten  Ermahnungen  und  Weisungen 
zur  Darstellung  bringen.  Aber  nun  ist  es  ebenso  bemer- 

*)  Vgl.  zu  diesen  drei  Kapiteln  KD  II  2,  S.  222  f,  235  f,  264  f,  294  f. 


134 


kenswert,  daß  das  Problem  des  Ungehorsams  dem  Evan¬ 
gelium  gegenüber  nicht  etwa  in  Form  einer  entsprechenden 
Reihe  von  Anklagen  und  Beschuldigungen,  nicht  in  Form 
einer  Büßpredigt,  sondern  nun  gerade  —  im  besten  Sinn 
des  Wortes  —  in  Form  einer  Theorie,  d.  h.  in  Form  einer 
anbetenden  und  lobpreisenden  Betrachtung  des  auch  dem 
Ungehorsam  gegenüber  sich  bewährenden  und  letztlich 
triumphierenden  Werkes  und  Weges  Gottes  —  eben  des 
Gottes,  von  dem  das  Evangelium  redet  —  zur  Darstel¬ 
lung  bringt.  Wenn  man  sich  darüber  verwundern  möchte, 
so  mag  man  sich  fragen,  ob  von  dem,  der  das  Evangelium 
selbst  und  als  solches  so  verstanden  und  ausgelegt  hat,  wie 
es  gerade  zuletzt  im  achten  Kapitel  geschehen  ist,  etwas 
Anderes  zu  erwarten  ist,  als  daß  er  gerade  angesichts  des 
Ungehorsams  diesem  Evangelium  gegenüber  das  Werk 
und  den  Weg  Gottes  sein  einziges  Thema  sein  lassen,  den 
Ungehorsam  selbst  und  als  solchen  zum  vornherein  und 
zuletzt  endgültig  von  diesem  Thema  her  überhöht  und  in 
den  Schatten  gestellt  sehen  und  verstehen  wird.  Daß  die, 
die  in  Christus  Jesus  sind,  von  der  Liebe  Gottes  nicht  zu 
scheiden  sind,  das  war  ja  das  Letzte,  was  wir  gehört 
haben.  Wie  sollte  Einer,  der  das  von  sich  selber  zu  sagen 
gewagt  hat,  die  Wahrheit  dieser  Aussage  nicht  damit 
beweisen  müssen,  daß  auch  der  Blick  auf  den  dem  Evan¬ 
gelium  begegnenden  Ungehorsam  ihn  in  seiner  Liebe  zu 
Gott  nicht  irre  machen,  sondern  nur  erst  recht  zur  An¬ 
betung  und  zum  Lobpreis  Gottes  anspornen  kann.  Er 
wird  die  Wahrheit  jener  Aussage  damit  beweisen,  daß 
er  auch  und  gerade  die  Behandlung  dieses  Problems  nicht 
zu  einer  Beschwerde  über  die  menschliche  Unart,  sondern 
zu  einer  Verherrlichung  Gottes  und  seiner  Art  gestaltet. 
Das  ist  es,  was  Paulus  in  diesen  Kapiteln  getan  hat.  Man 
vergewissere  sich  angesichts  des  Schlusses  von  Kap.  11, 
auf  was  er  in  dieser  Sache  hinaus  will.  „Gott  hat  Alle 
verschlossen  unter  den  Ungehorsam,  auf  daß  er  sich  Aller 


135 


erbarme“  (11,32).  „Von  ihm  und  durch  ihn  und  zu  ihm 
sind  alle  Dinge“  (11,  36).  Daß  er  dort  das  Problem  des 
Ungehorsams  nicht  ernst  nehme,  wird  man  angesichts  von 
allem,  was  vorangeht,  bestimmt  nicht  sagen  können.  Er 
nimmt  es  aber  dort  und  in  diesen  ganzen  Kapiteln  damit 
ernst,  daß  er  Gott  —  eben  den  Gott,  von  dem  das 
Evangelium  redet  —  ernst  nimmt  und  ihm  und  also  nicht 
dem  ungehorsamen  Menschen  die  Ehre  des  ersten  und 
letzten  Wortes  gibt. 

Man  kann,  wenn  man  genau  zusieht,  schon  der  Ein¬ 
leitung  zu  Kap.  9,  1 — 5  entnehmen,  in  welcher  Gesinnung 
und  mit  welchem  Ergebnis  Paulus  sich  in  diesen  Kapiteln 
mit  dem  Problem  des  Ungehorsams  dem  Evangelium  ge¬ 
genüber  auseinandersetzen  wird.  Wir  lernen  aus  diesen 
Versen  folgendes: 

1)  Dieses  Problem  ist  für  Paulus  ohne  weiteres  iden¬ 
tisch  mit  dem  Problem  des  Ungehorsams  Israels:  der  gro¬ 
ßen  Mehrheit  Israels  nämlich,  die  sich  auch  nach  der  Auf¬ 
erstehung  Jesu  Christi,  auch  nach  der  Ausgießung  des 
heiligen  Geistes  dem  Evangelium  verweigert.  Warum  ge¬ 
rade  Israel?  Darum  Israel,  lesen  wir  in  Vers  4—5,  weil 
Israel  und  das  Evangelium  gewissermaßen  natürlich  und 
von  Hause  aus  zusammengehören  —  weil  Israel  als  sol¬ 
ches  von  Gott  schon  angenommen  ist  an  Sohnes  Statt,  weil 
die  Herrlichkeit  Gottes  in  seiner  Mitte  wohnt,  weil  der 
Bund  Gottes  mit  ihm  geschlossen  und  immer  wieder  be¬ 
stätigt  wurde,  weil  es  das  Gesetz  hat,  den  Opferdienst, 
die  Verheißungen  und  die  Väter  von  seinen  Anfängen  und 
bis  auf  diesen  Tag  und  in  dem  Allem  Jesus  Christus 
selber,  der  ja  nach  dem  Fleische  eben  aus  ihm  hervor¬ 
gehen  sollte  und  hervorgegangen  ist:  er,  der  zugleich 
Gott  selber  ist,  der  Gott,  der  über  allem  und  allen  ist 
und  herrscht.  Darum,  weil  das  Heil  zu  den  Juden  und 
von  den  Juden  in  die  Welt  gekommen  ist,  darum,  weil  die 


136 


Gnade  Gottes,  die  den  Juden,  und  nur  durch  die  Juden 
audi  den  Heiden  zugewendete  Gnade  ist  —  darum  entschei¬ 
det  es  sich  hier,  was  es  mit  dem  Ungehorsam  dem  Evan¬ 
gelium  gegenüber  auf  sich  hat.  Es  braucht  die  volle  ur¬ 
sprüngliche  Gegenwart  eben  der  Gnade  Gottes,  zu  der  Wirk¬ 
lichkeit  und  zu  der  Offenbarung  des  menschlichen  Unge¬ 
horsams. 

2)  Dieser  Ungehorsam  kann  für  den,  der  selber  zum 
Gehorsam  gegen  das  Evangelium  gekommen  ist,  für  den 
Apostel  also  und  mit  ihm  für  die  aus  vielen  Heiden  und 
aus  so  merkwürdig  wenig  Juden  bestehende  Kirche  nicht 
ein  Gegenstand  der  Entrüstung  und  der  Anklage  sein.  Die¬ 
ser  Ungehorsam  bedeutet  ja  für  die  Ungehorsamen  Aus¬ 
schluß  von  der  ganzen  Wohltat  des  Evangeliums  und 
damit  Ausschluß  von  dem,  was  Gott  durch  das  Evan¬ 
gelium  will  mit  dem  Menschen:  Ausschluß  von  der  Teil¬ 
nahme  an  seiner  Verherrlichung  in  der  Welt.  Die  Un¬ 
gehorsamen  sind  also  geschlagen  und  bestraft  mit  ihrem 
Ungehorsam:  doppelt  gestraft,  da  er  in  ihrem  schlechthin 
unbegreiflichen  Versagen  gerade  gegenüber  der  ihnen  zu¬ 
gewendeten  Gnade  Gottes  besteht.  Nicht  anzuklagen,  son¬ 
dern  zu  beklagen  sind  sie.  Daß  er  —  nicht  als  israeliti¬ 
scher  Patriot,  sondern  als  Apostel  „große  Traurigkeit  und 
unablässigen  Schmerz“  um  sie  habe,  das  ist  es,  was  Paulus 
in  Vers  2  in  dieser  Sache  als  seine  Stellungnahme  zu  be¬ 
kennen  hat. 

3)  Paulus  hat  diesen  seinen  Schmerz  nach  Vers  1  in 
der  feierlichsten  Weise  zum  Gegenstand  seiner  Verkündi¬ 
gung  gemacht.  Er  redet  in  dieser  Sache  „die  Wahrheit  in 
Christus“;  er  beruft  sich  gerade  für  das,  was  er  hier  zu 
sagen  hat,  auf  das  Zeugnis  des  Heiligen  Geistes.  Er  hält  es 
für  der  Mühe  wert  und  für  notwendig,  die  römische  Ge¬ 
meinde,  die  sich  in  ihrer  Mehrzahl  aus  Heiden  zusammen¬ 
setzte,  diese  Gläubigen,  diese  Gehorsamen,  drei  Kapitel  lang 
mit  dem  Problem  des  Ungehorsams,  dem  Problem  Israels 


137 


zu  beschäftigen  und  zwar  in  diesem  Sinn  zu  beschäftigen: 
sie  zur  Teilnahme  an  seinem  Schmerz  aufzurufen.  Aber 
er  sagt  ihnen  ja  noch  mehr  als  das.  Er  wagt  in  Vers  3 
das  Wort:  daß  er  zum  Besten  seiner  ungehorsamen  Brü¬ 
der  aus  Israel  von  Christus  weg  verflucht  zu  werden 
wünschte.  Wenn  das  keine  verwegene  Übertreibung  ist, 
dann  ist  mit  diesem  Wort  gesagt:  er,  der  gehorsam  Ge¬ 
wordene,  er,  der  Apostel  Jesu  Christi,  kann  sich  auf  kei¬ 
nen  Fall  und  in  keiner  Weise  mit  der  Tatsache  des  Un¬ 
gehorsams  und  des  Ausschlusses  Israels  abfinden.  Er  steht 
und  fällt  gerade  als  Gehorsamer  damit,  daß  die  Unge¬ 
horsamen  nicht  ungehorsam  bleiben.  Würden  sie  es  blei¬ 
ben,  dann  wollte  und  würde  auch  er  vom  Evangelium, 
von  seiner  Herrlichkeit  und  von  dem  Dienst  der  Verherr¬ 
lichung  Gottes  ausgeschlossen  sein.  Nochmals:  nicht  irgend 
eine  menschliche  Treue  führt  hier  das  Wort.  Die  Sache 
selbst,  das  Evangelium  verlangt  die  volle  vorbehaltlose 
Solidarität  der  Gehorsamen  mit  den  Ungehorsamen.  Denn 
das  ist  nicht  des  Paulus  Privatsache,  sondern  das  ver¬ 
kündigt  er  den  römischen  Christen  als  „Wahrheit  in  Chri¬ 
stus“,  die  für  sie  ebenso  gilt  wie  für  ihn. 

Und  nun  sind  es  drei  Gedankenreihen,  in  denen  Paulus 
seine  Stellungnahme  bzw.  die  vom  Evangelium  her  ge¬ 
botene  Stellungnahme  der  christlichen  Kirche  dem  in  Is¬ 
rael  verkörperten  Ungehorsam  diesem  Evangelium  gegen¬ 
über  sichtbar  macht.  Sie  haben  alle  drei  das  Gemeinsame, 
daß  sie  zeigen,  auch  dieser  Ungehorsam  steht  in  seiner 
ganzen  Furchtbarkeit  im  Licht  —  wirklich  im  Licht!  — 
des  Evangeliums,  gegen  das  er  sich  richtet.  Alle  drei  Ge¬ 
dankenreihen  sagen:  nicht  daß  es  eine  diesem  Ungehor¬ 
sam  entsprechende  Verdammnis  gibt,  sondern  daß  dieser 
Ungehorsam  samt  der  ihm  entsprechenden  Verdammnis 
umschlossen  ist  von  Gottes  Weg  und  Werk:  von  dem  Weg 
und  Werk  seiner  Barmherzigkeit  —  derselben  göttlichen 


138 


Barmherzigkeit,  deren  eben  die,  die  in  Christus  Jesus  sind, 
eben  die  dem  Evangelium  Gehorsamen,  sich  jetzt  schon 
rühmen  dürfen.  Wie  könnten  sie  das  tun,  wenn  sie  ihr 
nicht  auch  im  Blick  auf  die  Ungehorsamen  das  erste  und 
das  letzte  Wort  geben  und  lassen  würden? 

Paulus  sagt  9,  6 — 29:  daß  auch  das  furchtbare  Ereignis 
des  Ungehorsams  sich  darin  als  eingeschlossen  in  das  Werk 
der  göttlichen  Barmherzigkeit  verrät,  daß  es  sichtbar 
macht:  die  Menschen  wählen  nicht,  was  sie  für  gut  halten, 
sondern  sie  wählen  den  souveränen  Willen  Gottes,  wenn 
sie  dem  Evangelium  gehorsam  werden.  Sie  sind  erwählt, 
indem  sie  das  tun!  So  können  wir  keinen  letzten  Anstoß 
daran  nehmen,  wenn  wir  Viele,  die  Ungehorsamen,  sehen, 
die  eben  das  nicht  tun.  Paulus  sagt  in  Kap.  9,  30  —  10, 
21:  Was  diese  mit  ihrem  Ungehorsam  tun,  ist  darum  un¬ 
entschuldbar,  ist  aber  auch  gerade  darum  nicht  hoffnungs¬ 
los,  weil  ja  eben  der  Gott,  an  welchem  sie  sich  damit  ver¬ 
sündigen,  der  Gott  ist,  der  mit  seiner  Gerechtigkeit  auch 
für  ihre  Ungerechtigkeit  einzustehen  beschlossen  hat  und 
bereit  ist  und  der  den  Glauben  an  ihn  auch  ihnen  so 
nahe  gelegt  hat,  daß  es  ihnen  objektiv  unmöglich  gemacht 
ist,  ihn  zu  verfehlen.  Und  Paulus  sagt  in  Kap.  11,  1 — 36, 
daß  Gott  auch  unter  den  Ungehorsamen  immer  wieder  Ge¬ 
horsam  erweckt,  daß  umgekehrt  die  Gehorsamen  ange¬ 
sichts  der  Ungehorsamen  nur  dazu  Anlaß  haben,  der 
ihnen  widerfahrenen  Barmherzigkeit  um  so  dankbarer  zu 
sein  in  erneuertem  Gehorsam  und  daß  gerade  sie  die  Ver¬ 
heißung,  von  der  sie  selber  leben,  notwendig  auch  auf  die 
Ungehorsamen  beziehen  werden.  —  Das  ist  in  Kürze  die 
paulinische  Anwendung  des  Evangeliums  auf  das  Pro¬ 
blem  des  Ungehorsams  diesem  Evangelium  gegenüber. 

Der  Zusammenhang  in  Kap.  9,  6 — 29  steht  unter  dem 
Zeichen  von  Vers  6a:  daß  Gottes  Wort,  das  auch  Israel 


139 


und  ursprünglich  und  zuerst  gerade  Israel  gegebene 
Evangelium  durch  Israels  Ungehorsam  ihm  gegenüber 
nicht  hinfällig,  nicht  suspendiert,  nicht  mattgesetzt  ist,  daß 
es  sich  vielmehr  in  seiner  Weise  auch  in  der  Existenz 
dieser  Ungehorsamen  seine  Bestätigung  verschafft.  Unge¬ 
horsam  bedeutet  —  das  ist  die  Voraussetzung  dieses  ersten 
Gedankengangs  und  daran  ist  ja  Paulus  nach  Vers  1 — 5 
vor  allem  interessiert  —  den  Ausschluß  der  Ungehorsa¬ 
men  wie  von  Gottes  Wohltat  im  Evangelium  so  auch  von 
der  dem  Menschen  mit  dem  Evangelium  zugewiesenen 
aktiven  Teilnahme  an  Gottes  Verherrlichung.  Solches  Aus¬ 
schließen  gehört  aber  zur  Erfüllung  des  Wortes  Gottes, 
zum  Werk  des  Evangeliums.  Es  schließt  den  Menschen, 
wie  wir  in  Kap.  1 — 8  wahrhaftig  deutlich  genug  gehört 
haben,  auf  der  ganzen  Linie  von  Gott  aus,  d.  h.  es  kenn¬ 
zeichnet  ihn  auf  der  ganzen  Linie  als  Ungehorsamen,  um 
ihn  dann  als  solchen  einzuschließen  und  zu  bejahen,  um 
ihm  als  solchem  Gottes  Gabe  und  Aufgabe  zuzuweisen. 
Daß  er  in  Jesus  Christus  getötet  und  nur  in  ihm  aufer¬ 
weckt  ist  von  den  Toten,  das  ist  der  Inhalt  des  Wortes 
Gottes  an  jeden  Menschen.  Sehen  wir  Ausgeschlossene, 
dann  sollen  wir  sie  unter  allen  Umständen  nicht  als  vom 
Evangelium,  sondern  als  durch  das  Evangelium  selbst 
Ausgeschlossene  ansehen.  Sehen  wir  die  durch  ihren  Un¬ 
glauben  ausgeschlossene  Synagoge,  dann  sollen  wir  weder 
am  Evangelium  noch  auch  an  den  dort  in  der  Finsternis 
versammelten  Menschen  verzweifeln,  dann  sollen  wir  uns 
vielmehr  klar  machen,  daß  eben  durch  das  Evangelium  ge¬ 
rade  dort,  wo  es  herkommt,  gerade  dort,  wo  es  zuhause 
war,  immer  dieses  Ausschließen  vollzogen  wurde:  nicht 
um  des  Ausschließens,  sondern  um  des  Einschließens  wil¬ 
len:  aber  dieses  Ausschließen.  „Nicht  alle,  die  aus  Israel 
sind,  sind  Israel.  Und  wenn  sie  Nachkommen  Abrahams 
sind,  sind  sie  darum  nicht  alle  seine  Kinder“  (v.  6  f.).  Es 
geht  ja  in  Israel  nicht  um  Israel,  sondern  um  den  Israel 


140 


verheißenen  Christus  und  nur  um  seinetwillen  dann  auch 
um  Israel.  Israel  muß  mit  ihm  sterben,  um  mit  ihm  zu 
leben.  Und  Gottes  souveräner  Wille  verfügt  über  Beides. 
Das  ist  es,  was  sich  in  Israels  Geschichte  von  Anfang  an 
ankündigt  in  jenem  Ausschließen:  darin,  daß  dem  gött¬ 
lichen  Erwählen  immer  auch  ein  Nichterwählen,  seinem 
Annehmen  immer  auch  ein  Verwerfen  zur  Seite  geht. 
Nicht  irgend  ein  Sohn  Abrahams,  nicht  Ismael,  sondern 
Isaak  wird  durch  Gottes  Verheißung  selbst  zum  Stamm¬ 
vater  Christi  und  damit  zum  Träger  der  Hoffnung  für 
ganz  Israel  gemacht  (v.  8 — 9).  Und  wiederum  unter  den 
Zwillingssöhnen  der  Rebekka  nicht  der  Ältere,  Esau,  son¬ 
dern  der  Jüngere,  Jakob  (v.  10 — 13).  Wer  schließt  jenen 
aus  und  diesen  ein?  Nicht  der  gute  oder  böse  Wille  des 
Einen  oder  des  Anderen,  sondern  das  tötende  und  leben¬ 
digmachende  Wort  Gottes,  das  Wort  seines  Hasses  und 
seiner  Liebe  (v.  13),  das  Israels  Hoffnung,  aber  eben  dar¬ 
um  auch  Israels  Richter  ist  von  Anfang  an.  Dieses  Wort 
verfügt  nach  beiden  Seiten  souverän.  Dieses  Wort  ist  das 
persönliche  Wort  der  freien  Barmherzigkeit  Gottes.  Und 
darum  bestimmt  es  selbst,  wo  es  wohnen  und  wo  es  nicht 
wohnen,  wo  es  seinen  Ursprung  in  der  Geschichte  nehmen 
und  wo  es  das  nicht  tun  will.  Darum  das  doppelte  Zei¬ 
chen  des  Annehmens  und  Verwerfens  schon  in  der  Väter¬ 
geschichte.  Es  ist  dasselbe  Wort  und  was  da  geschieht,  ist 
die  Bestätigung  desselben  Wortes  nach  beiden  Seiten. 

Die  Frage  in  Vers  14  ist  naheliegend:  ob  diese  durch  das 
Evangelium  selbst  vollzogene  Ausschließung  nicht  be¬ 
deute,  daß  Gott  den  Ausgeschlossenen,  deren  guter  oder 
böser  Wille  nach  Vers  10 — 13  gar  nicht  in  Betracht  gezogen 
wird,  Unrecht  tue?  Wenn  Paulus  darauf  mit  jenem  ent¬ 
setzten  Unmöglich!  antwortet,  so  ist  zu  beachten,  daß  das 
nicht  etwa  damit  begründet  wird,  daß  Gott  vermöge  seiner 
Souveränität  das  Recht  habe,  es  in  jeder  Sache  und  so 
auch  jedem  Menschen  gegenüber  so  zu  halten,  wie  es  aus 


141 


einem  nur  ihm  bekannten  Grunde  sein  Belieben  ist.  So  hat 
man  freilich  in  der  späteren  kirchlichen  Prädestinations¬ 
lehre  auf  die  Frage  nach  der  Gerechtigkeit  der  göttlichen 
Erwählung  geantwortet.  Paulus  aber  antwortet  in  Vers  15 
mit  der  Anführung  dessen,  was  zu  Mose  gesagt  wurde: 
„Wessen  ich  mich  erbarme,  dessen  erbarme  ich  mich  und 
wem  ich  barmherzig  bin,  dem  bin  ich  barmherzig!“  Das 
bedeutet  aber:  die  Gerechtigkeit  der  göttlichen  Erwäh¬ 
lung,  nach  der  man  auf  den  ersten  Blick  fragen  möchte, 
besteht  darin,  daß  sie  die  Gerechtigkeit  der  göttlichen 
Barmherzigkeit  ist.  Was  Gott  tut  —  und  gerade  das  was 
er  an  den  Söhnen  Abrahams  und  dann  wieder  an  den  Söh¬ 
nen  Isaaks  tut  mit  jenem  Annehmen  und  Verwerfen  — , 
das  ist  das  Werk  seines  Erbarmens,  dessen  Grund  wieder 
nichts  anderes  als  eben  sein  Erbarmen  ist.  Eine  nackte 
Souveränität  würde  den  erwählenden  Gott  von  einem 
tyrannischen  Dämon  allerdings  nicht  unterscheiden.  Sein 
Erbarmen  aber  —  und  darum  handelt  es  sich  in  der  Ge¬ 
schichte  Israels  —  erweist  ihn  als  Gott,  der  gerecht  ist. 
Denn  eben  Barmherzigkeit  und  ihre  Ausübung  ist  Gottes 
Recht.  Das  ist  es,  was  nun  auch  in  der  Aussage  in  Vers 
16  das  Entscheidende  ist.  Daß  es  bei  dem  wählenden 
Willen  Gottes  aller  Willkür  des  Menschen  gegenüber  sein 
Bewenden  haben  müsse,  hieß  es  schon  in  Vers  11.  Und 
das  wird  nun  allerdings  wiederholt:  Es  gibt  dem  Willen 
Gottes  gegenüber  kein  Recht  und  keinen  Anspruch  mensch¬ 
lichen  Wollens  und  Laufens,  menschlichen  Beschließens 
und  Leistens.  Dem  barmherzigen  Gott  können  Isaak  und 
Ismael,  können  Jakob  und  Esau  mit  allem,  was  sie  sind 
und  werden,  nur  zur  Verfügung  stehen.  Wo  er  offenbar 
wird  und  handelt,  wie  es  in  Israel  von  Anfang  an  ge¬ 
schehen  ist,  da  kann  kein  Mensch  ihm  zuvorkommen,  da 
kann  jeder  Mensch  nur  zu  seinem  Dienst  bereit  sein:  an¬ 
spruchslos  der  angenommene  und  anspruchslos  auch  der 
verworfene  Mensch.  Beide  darum  anspruchslos,  weil  beide 


142 


in  ihrer  Weise  dem  guten  Willen  Gottes  dienen  dürfen, 
weil  er  in  ihrer  Weise  beide  braucht,  beider  sich  bedienen 
will.  Auch  der  gehaßte  Esau! 

Das  ist  es,  was  nun  —  immer  im  Gedanken  an  die 
durch  ihren  Ungehorsam  ausgeschlossene  Synagoge  der 
Gegenwart  —  an  der  Gestalt  des  schlimmsten  Verfolgers 
und  Feindes  Israels,  des  Pharao  des  Auszugs,  klar  ge¬ 
macht  wird.  Die  Nennung  dieses  Namens  —  sie  ist  in 
Parallele  zu  der  widerspenstigen  Synagoge  der  Gegen¬ 
wart  vernichtend  für  diese!  —  zeigt:  die  Ausgeschlossenen 
sind  die  Ungehorsamen.  Man  beachte  aber,  daß  der 
Satz  nicht  mit  einem  „Dagegen“,  sondern  mit  einem 
„Denn“  beginnt  und  also  nicht  als  Gegensatz  zum  Voran¬ 
gehenden,  sondern  als  dessen  Fortsetzung  und  Erklärung 
zu  verstehen  ist.  Die  Existenz  des  Pharao  bzw.  das 
an  ihn  gerichtete  Wort  entspricht  der  Gerechtigkeit  des 
göttlidien  Erbarmens  ebenso  wie  Gottes  Entscheidung  dem 
Mose  gegenüber.  Gott  hat  auch  ihn  „erwedtt,  damit  ich 
durch  dich  meine  Macht  erweise  und  damit  mein  Name 
verkündigt  werde  auf  der  ganzen  Erde“.  Also:  auch  der 
Pharao  dient  der  „Macht  Gottes“,  die  in  Röm.  1,  16  das 
Evangelium,  in  1.  Kor.  1,  18  das  Kreuz  Christi,  1.  Kor. 
1,  24  Jesus  Christus  selber  heißt,  der  Verkündigung  des 
Namens,  d.  h.  der  in  seiner  Offenbarung  stattfindenden 
Vergegenwärtigung  Gottes  selber.  Er  steht  gut  neben 
Mose.  An  der  Vollstreckung  desselben  barmherzigen  Wil¬ 
lens  Gottes  wie  dieser  hat  audi  er  Anteil.  Er  macht  in 
seinem  Gegensatz  zu  Mose  und  in  dieser  Gemeinschaft 
mit  ihm  klar,  daß  dieser  Wille  Gottes  tatsächlich  nicht  an 
das  Beschließen  und  Vollbringen  irgend  eines  Menschen, 
daß  alles,  auch  das  böse  menschliche  Beschließen,  an  ihn 
gebunden  ist.  Will  Gott,  indem  er  sich  dem  Mose  zuwendet, 
sein  Erbarmen  als  solches,  als  die  Macht  lebendig  zu  ma¬ 
chen,  offenbaren,  so,  indem  er  sich  von  dem  Pharao  ab¬ 
wendet,  ihn  verhärtet,  verstockt  und  verschließt  gegen  sich 


143 


selber,  das  Andere,  daß  es  sein  Erbarmen  ist,  das  er  nie¬ 
mandem  schuldig  ist  —  so  an  ihm  das  Töten  des  Men¬ 
schen,  ohne  welches  es  nicht  sein  und  darum  auch  nicht 
wirkliches  Erbarmen  wäre  (V.  18).  So  wie  dort  den  Pharao 
will  Gott  heute  die  ungehorsame  Synagoge.  So  wie  Pha¬ 
rao  muß  und  wird  auch  sie  sich  als  ein  Werk  der  gött¬ 
lichen  Barmherzigkeit  verraten,  das  in  seiner  Weise  nicht 
geringer  ist  als  die  gehorsame  Kirche. 

Sollte  sie  wirklich  Lust  haben, darauf  zu  antworten,  wie 
in  Vers  1 9  angegeben:  „Was  hat  Gott  uns  dann  vorzuhalten? 
Wer  widersteht  dann  eigentlich  dem  Willen  Gottes?“  Sollte 
ihr  Ungehorsam  darum,  weil  auch  er  der  Barmherzigkeit 
Gottes  dienen  muß,  Gehorsam  sein?  Die  Frage  wäre  unbe¬ 
antwortbar  oder  sie  müßte  geradezu  bejaht  werden,  wenn 
Paulus  in  Vers  15  f.  an  die  formale  Freiheit,  an  das  Recht 
der  Gewalt  Gottes  appelliert  hätte.  Das  hat  er  aber  nicht 
getan.  Er  hat  von  dem  Recht  seiner  Barmherzigkeit  ge¬ 
sprochen  und  darum  stehen  die  Dinge  nun  so,  wie  mit  der 
Gegenfrage  in  Vers  20  ausgesprochen  ist:  „Oh,  Mensch, 
wer  bist  du,  daß  du  mit  Gott  rechten  willst?“  Du  bist  ja 
dodi  der  Mensch,  will  Paulus  sagen,  der  als  Gegenstand 
der  göttlichen  Barmherzigkeit  gar  nicht  die  Möglichkeit, 
gar  keine  Stimme  und  gar  kein  Wort  hat,  um  an  Gott 
auch  nur  die  Frage  zu  richten:  ob  er  ihm  etwas  vorzu¬ 
halten  habe?  Du  bist  der  Mensch,  der  vor  dem  Gott  steht, 
der  (Kap.  8,  32)  seines  eigenen  Sohnes  nicht  verschont 
hat,  sondern  hat  ihn  für  uns  alle  —  auch  für  dich  — 
dahingegeben.  Du  bist  der  Mensch,  dem  Gott  darum  in 
der  Tat  nichts  vorzuhalten  hat,  weil  er  alles,  was  ihm  vor¬ 
zuhalten  ist,  seinem  eigenen  Sohne  vorgehalten  hat,  dem 
Gott  nun  nur  nodi  seine  eigene  Güte  vorhält.  Jawohl,  du 
kannst  ihm  nicht  widerstehen,  wenn  er  dich  und  deinen 
Widerstand  brauchen  will,  wie  er  den  Pharao  gebraucht. 
Wie  aber  kannst  du  damit  deinen  Widerstand  entschuldi¬ 
gen  oder  gar  rechtfertigen?  Du  vor  diesem  Gott?!  Daß  sie 


144 


aus  dem  Schild,  mit  welchem  Gott  uns  schützt,  einen 
Schild  machen  will,  um  uns  selbst  vor  Gott,  vor  der  Güte 
Gottes  zu  schützen,  das  ist  das  zutiefst  Unsinnige  der  Frage 
inVers  19.  Das  Gleichnis  vom  Töpfer,  das  nun  (v.  20b — 21) 
folgt,  wiederholt  und  bestätigt  den  Inhalt  von  Vers  18: 
der  Gott,  der  in  Jesus  Christus  als  dem  Ursprung  und  Ziel 
aller  seiner  Wege  dem  Menschen  nichts  als  seine  Güte 
entgegenzuhalten  hat,  ist  frei  und  ist  berechtigt,  auf  die¬ 
sen  seinen  Wegen,  wie  sie  in  der  Geschichte  Israels  wirk¬ 
lich  und  offenbar  sind,  Gefäße  zur  Ehre  und  Gefäße  zur 
Unehre  zu  schaffen  und  zu  gebrauchen,  d.  h.  Zeugen  der 
Erfüllung  seines  göttlichen  Vorsatzes  und  Zeugen  der 
menschlichen  Ohnmacht  diesem  Vorsatz  gegenüber  zu  er¬ 
wecken  und  auf  den  Plan  zu  führen.  Der  Töpfer  von 
Jer.  18,  auf  den  Paulus  hier  anspielt,  ist  nun  einmal  nicht 
irgend  ein  allmächtiger  Gott,  der  als  solcher  tun  kann, 
was  ihm  beliebt,  sondern  der  Gott  Israels,  welcher  als  sol¬ 
cher  mit  seinem  Annehmen  und  Verwerfen,  mit  den  Ge¬ 
fäßen  beider  Art,  tut,  was  recht  ist,  weil  es  der  Verwirk¬ 
lichung  und  Offenbarung  seiner  Barmherzigkeit  dient, 
und  welcher  in  dieser  Absicht  nicht  aus  einer  indifferenten 
Mitte  heraus  dieses  und  jenes  nebeneinander  tut,  dem  es 
nicht  dasselbe  ist,  Zeugen  seines  Lichtes  und  Zeugen  der 
menschlichen  Finsternis  auf  den  Plan  zu  führen.  Weil  die¬ 
ser  Gott  die  Einen  und  die  Anderen  in  so  ganz  verschie¬ 
dener  Weise  will  und  erweckt,  weil  (Ps.  30,  6)  sein  Zorn 
einen  Augenblick  währt,  seine  Huld  aber  lebenslang,  dar¬ 
um  kann  das  Gebilde  den  Bildner  nicht  fragen:  Warum 
machtest  du  mich  so?  Darum  hat  Gott  als  der  Töpfer  die 
Macht  nicht  nur,  sondern  das  Recht  zum  Vollzug  seines 
Willens,  seinem  Handeln  hier  diese,  dort  jene  Gestalt  zu 
geben.  Daß  Einer  wie  der  Pharao  jetzt  nur  Zeuge  der 
Ohnmacht  aller  Menschen  ist,  das  zwingt  ihn  nicht,  das 
legitimiert  ihn  nicht,  dies  zu  sein  und  zu  bleiben,  das  er¬ 
laubt  ihm  nicht,  das  göttliche  Nein,  unter  dem  er  steht, 


145 


gegen  das  göttliche  Ja  auszuspielen,  das  ihm  ja  gleich¬ 
zeitig  in  der  Existenz  der  positiven  Zeugen  der  göttlichen 
Güte  —  das  etwa  dem  Pharao  bis  zuletzt  durch  Mose  ent¬ 
gegengehalten  wird.  Nur  um  des  göttlichen  Erbarmens 
willen  hat  ja  ein  solcher  negativer  Zeuge  die  menschliche 
Ohnmacht  zu  bezeugen.  Wie  sollte  er,  gerade  als  das  „Ge¬ 
fäß  der  Unehre“,  das  er  ist,  seine  Bestimmung  anders  er¬ 
füllen,  als  indem  er  mit  den  „Gefäßen  zur  Ehre“  zusam¬ 
men  das  göttliche  Erbarmen  preist,  statt  es  anzuklagen 
und  sich  selbst  zu  rechtfertigen. 

Daß  diese  Erklärung  von  Vers  19 — 21  nicht  nur 
möglich,  sondern  die  allein  mögliche  ist,  zeigt  die  in 
Vers  22 — 24  folgende  paulinische  Erklärung  des  Töpfer¬ 
gleichnisses.  Die  Verse  sind  folgendermaßen  zu  um¬ 
schreiben  und  zu  übersetzen:  „Wie  aber  wenn  (es  sich  mit 
dem  rechten  Verständnis  dieses  Gleichnisses  so  verhielte, 
daß)  Gott,  indem  er  seinen  Zorn  erweisen  und  seine  Macht 
offenbaren  wollte,  die  Gefäße  des  Zornes,  bereitet  zum 
Untergang,  in  großer  Langmut  ertragen  hat,  zur  Offen¬ 
barung  nämlich  des  Reichtums  seiner  Herrlichkeit  an  den 
Gefäßen  seines  Erbarmens,  die  er  zur  Herrlichkeit  vorbe¬ 
reitete  —  als  welche  er  auch  uns  berufen  hat:  nicht  nur 
aus  den  Juden,  sondern  auch  aus  den  Heiden?“  Man  be¬ 
merke,  daß  die  Reihenfolge  von  „Erbarmen“  und  „Ver- 
stocken“  (v.  18)  von  „zur  Ehre“  und  „zur  Unehre“  (v.  21  b) 
jetzt  umgekehrt  und  daß  beide  jetzt  ganz  ausdrücklich 
miteinander  in  Beziehung  gebracht,  daß  es  jetzt  deutlich 
wird:  es  handelt  sich  um  den  einen  Weg  Gottes,  auf  dem 
er  in  Erfüllung  seiner  einen  Absicht  jenes  Doppelte  will. 
Nicht  daß  es  Gefäße  des  Erbarmens  gibt,  ist  nach  Vers  23 
das  Ziel  des  einen  göttlichen  Weges,  sondern  dies:  daß 
Gott  den  Reichtum  seiner  Herrlichkeit  an  ihnen  offenbaren 
will.  Um  dieser  Offenbarung  willen  bedarf  es  ihrer,  bedarf 
es  der  Gefäße  des  Erbarmens!  Und  so  sagt  Vers  22  nicht, 
daß  es  Gefäße  des  Zornes  gibt,  daß  Gott  sie  zu  solchen 


146 


und  damit  zum  Untergang  bereitet  habe,  und  nicht  ein¬ 
mal  das,  daß  er  das  zum  Erweis  seines  Zornes  getan  habe, 
sondern  das  sagt  er  in  Vers  22:  daß  Gott  diese  Gefäße 
seines  Zornes,  als  solche  zubereitet,  in  großer  Langmut 
getragen  habe.  Und  das  sagen  die  Verse  22 — 23  in  ihrem 
Zusammenhang:  Gott  trug  die  Einen,  um  durch  die  Ande¬ 
ren  den  Reichtum  seiner  Herrlichkeit  zu  offenbaren.  Wohl 
hat  sein  Wille  auch  den  Charakter  des  Zornes.  Wie  sollte 
er  sich  erbarmen  über  den  Menschen,  ohne  seiner  Ver¬ 
kehrtheit  zu  zürnen?  Wie  sollte  er  ihm  gnädig  sein,  ohne 
ihn  zu  richten?  Aber  eben  mittels  des  Gerichts,  in  allen 
jenen  Gefäßen  des  Zornes  angekündigt  und  auf  Golgatha 
vollzogen,  will  und  wird  Gott  den  Menschen  retten.  Die 
Ankündigung  dieses  rettenden  Gerichtes  ist  die  Geschichte 
Israels.  Darum  die  lange  Reihe  der  „Gefäße  des  Zornes, 
bereitet  zum  Untergang“  im  Lauf  dieser  Geschichte.  Israel 
wäre  nicht  Gottes,  um  seines  Christus  willen  erwähltes 
Volk,  wenn  es  in  seinem  Bereich  nicht  dauernd  zu  solcher 
Ausscheidung  und  Bestimmung  zum  Verderben  käme, 
wenn  es  nicht  immer  wieder  solche  „Gefäße  des  Zornes“ 
in  seiner  Mitte  hätte  und  schließlich  laut  der  prophetischen 
Botschaft  zu  einem  einzigen  Gefäß  des  Zornes  werden 
müßte.  Man  darf  aber  über  dem  allem  das  Ziel  dieses 
göttlichen  Gerichtes  nicht  aus  den  Augen  verlieren:  Gott 
wird  an  dessen  Ziel,  verhüllt  unter  dem  furchtbarsten 
Nein  zu  dessen  Opfer  er  in  seinem  Sohne  sich  selbst  ma¬ 
chen  wird,  nicht  Nein,  sondern  Ja  sagen  zu  Israel  und  in 
Israel  zu  allen  Menschen.  Von  diesem  Ziel  her  gesehen 
muß  die  entscheidende  Aussage  auch  über  jene  „Gefäße 
des  Zornes“  eben  dahin  lauten,  daß  Gott  sie  in  großer 
Langmut  getragen,  sie  in  den  Plan  seines  barmherzigen 
Wollens  und  Waltens  aufgenommen  und  einbezogen  hat. 
Um  des  Künftigen  willen,  den  Gott  hindurchtrug  durch 
die  Schmerzen  der  gerade  ihn  treffenden  Verwerfung,  trägt 
er  alle  Verworfenen,  trägt  er  auch  den  Pharao.  Er  trägt 


147 


sie  ihm,  diesem  Künftigen,  entgegen.  In  diesem  Sinn  dul¬ 
det  er  sie  nicht  nur,  sondern  will  er  sie,  so  gewiß  eben 
Gottes  Geduld  kein  bloßes  Zulassen,  sondern  eine  Gestalt 
seines  schöpferischen  mächtigen  Willens  ist.  Das  ist  die 
Rechtfertigung  seiner  Langmut  gegenüber  den  Ungehor¬ 
samen.  Jenseits  dieses  Zieles  seiner  Langmut  steht  aber  die 
Offenbarung  des  Reichtums  seiner  Herrlichkeit  an  den 
Anderen,  an  den  zur  Herrlichkeit  zubereiteten  „Gefäßen 
des  Erbarmens“,  welche  in  Vers  24  ausdrücklich  mit  der 
aus  Juden  und  Heiden  versammelten  Gemeinde  der  dem 
Evangelium  Gehorsamen  gleichgesetzt  werden  —  der  Ge¬ 
meinde,  die  doch  praeexistent  schon  in  allen  Erwählten 
des  alten  Bundes  versammelt  ist.  Der  die  Kirche  berufen 
hat,  ist  kein  Anderer  als  jener  Töpfer,  der  Gott  Israels, 
der  auch  die  Gefäße  des  Zornes  nur  dazu  schafft,  weil 
er  Gefäße  des  Erbarmens  schaffen  will:  damit  diese  nichts 
anderes  seien  als  eben  Gefäße  des  Erbarmens,  damit  unter 
ihnen  allein  die  Herrlichkeit  Gottes  und  kein  Mensch  ge¬ 
rühmt  werde.  Gerade  in  der  Existenz  der  Kirche  recht¬ 
fertigt  also  Gott  jene  Doppeltheit  seines  Handelns,  recht¬ 
fertigt  er  es,  daß  er  der  Gott  auch  der  Gottlosen  ist. 

Der  Sinn  von  Vers  24  ist  dieser:  Wie  Gott  es  in  Israel 
immer  gehalten  hatte,  so  hält  er  es  auch  heute.  Er  hat 
uns,  die  Gemeinde  Jesu  Christi,  zum  Gehorsam  erwählt 
und  berufen,  wie  einst  Isaak,  wie  Jakob,  wie  Mose:  offen¬ 
kundig  in  seinem  Erbarmen  und  also  nicht  in  seinem  Zorn. 
Aber  wie  ist  es,  wenn  man  näher  zusieht,  gerade  bei  uns? 
Sind  gerade  unter  uns,  die  wir  heute  Gegenstand  des  gött¬ 
lichen  Erbarmens  sein  dürfen,  nur  solche,  die  als  Kinder 
Abrahams,  als  Juden  dazu  prädestiniert  und  befähigt 
waren?  Oder  hat  nicht  gerade  unter  uns  das  Geheimnis 
der  göttlichen  Prädestination  und  Befähigung  sich  wun¬ 
derbar  eröffnet,  so  daß  nun  Heiden  mit  uns  gehorsam, 
mit  uns  des  Erbarmens  Gottes  teilhaftig,  mit  uns  zur 
Herrlichkeit  bestimmt  sind:  Heiden,  d.  h.  Menschen  aus 


148 


dem  großen  Bereich  der  Sünde,  des  Abfalls  und  des  Un¬ 
gehorsams,  aus  dem  Bereich  der  Moabiter  und  Philister, 
der  Ägypter  und  Assyrer,  aus  eben  dem  Bereich,  in  den 
Gott  den  Ismael,  den  Esau  und  so  viele  andere  in  Israel 
bis  hin  zu  der  ungläubigen  Synagoge  der  Gegenwart 
scheinbar  so  grausam,  so  ungerecht  zurückgestoßen  hat? 
Die  Existenz  der  Kirche,  in  der  Juden  und  Heiden  im 
Gehorsam  beieinander  sind,  zeigt,  daß  auch  jener  Bereich 
dort  draußen  dem  Erbarmen  Gottes  nicht  verschlossen  ist, 
und  so  beweist  die  Kirche  Gottes  Gerechtigkeit,  so  beweist 
sie,  wie  Gott  es  auch  in  Israel  mit  seinem  Erwählen  der 
Einen  und  seinem  Verwerfen  der  Anderen  immer  gemeint 
hatte:  er  wollte  wirklich  durch  dieses  Volk  in  seiner  Ge¬ 
samtheit,  mit  Inbegriff  der  Verworfenen,  indem  es  end¬ 
lich  und  zuletzt  in  der  Hervorbringung  Jesu  Christi  seine 
Bestimmung  erfüllt,  seine  Barmherzigkeit  gegen  die  ganze 
Welt  offenbar  machen.  Durch  dieses  Volk  gegen  die  ganze 
Welt  —  und  so  offenbar  auch  gegen  dieses  Volk  selber: 
Paulus  hat  im  Blick  auf  die  wunderbar  zur  Kirche  ver¬ 
sammelten  Gläubigen  aus  den  Heiden  in  Vers  25 — 26  die 
Worte  des  Hosea  von  dem  Volk  Gottes,  von  den  Söhnen  des 
lebendigen  Gottes  angeführt,  die  einst  „Nicht-mein-Volk 
hießen,  von  der  Geliebten,  die  einst  die  Nicht-Geliebte 
war.  Wem  galten  diese  Worte  ursprünglich?  Dem  von 
Gott  verworfenen  und  nun  doch  solcher  Verheißung  teil¬ 
haftigen  Israel  der  Könige  von  Samarien.  Gerade  indem 
diese  Worte  heute  in  der  Berufung  der  Heiden  zur  Kirche 
Jesu  Christi  erfüllt  sind,  reden  sie  offenbar  mit  neuer 
Kraft  auch  in  ihrem  ursprünglichen  Sinn:  auch  von  dem 
verworfenen,  ungehorsamen  Israel.  Wie  sollte  Gottes  Zu¬ 
sage,  nachdem  er  sie  überreichlich  an  den  Verworfenen  da 
draußen  erfüllt  hat,  nicht  gelten  auch  für  die  Verworfe¬ 
nen  da  drinnen,  an  die  er  sie  einst  gerichtet  hat?  Und 
Paulus  hat  in  Vers  27 — 29  im  Blick  darauf,  daß  nach  Vers 
24  doch  auch  gläubige  Juden  zur  Kirche  versammelt  sind, 


149 


zwei  Jesaja-Worte  angeführt.  Sie  reden  von  einem  wun¬ 
derbar  erretteten  „Rest“  des  von  Gott  abgefallenen  und 
seinem  Gericht  verfallenen  Israel.  Es  lag  in  den  Tagen 
des  Jesaja  an  Gottes  Erbarmen  ganz  allein,  wenn  es  einen 
solchen  Rest  gab,  wenn  das  Schicksal  von  Sodom  und  Go¬ 
morrha  nicht  auch  das  Schicksal  von  ganz  Israel  wurde. 
Aber  eben  dieses  Erbarmen  Gottes  war  auf  dem  Plan 
und  so  gab  es  damals  diesen  Rest!  So  ist  es  zu  ver¬ 
stehen,  wenn  heute  auch  Juden  zur  Kirche  versammelt 
sind.  Gottes  Gnade  und  nicht  ihr  Verdienst  hat  das  ge¬ 
schafft.  Gottes  Gnade  wird  durch  ihre  Existenz  in  der 
Kirche  den  Anderen,  den  Gläubigen  aus  den  Heiden  ver¬ 
kündigt.  Wie  sollte,  was  ihnen  gilt,  daß  sie  allein  durch 
Gottes  Gnade  errettet  sind,  nicht  noch  viel  mehr  von  die¬ 
sen  Anderen,  den  Heiden,  gelten?  Aus  welchem  Feuer 
sind  erst  diese  herausgerissen!  So  ist  das  Ende  und  Ziel 
der  Wege  Gottes  wirklich  durch  ganz  Israel:  durch  die 
Verworfenen  wie  durch  die  Erwählten  —  und  darum 
auch  für  beide  gültig!  —  in  der  Kirche  Jesu  Christi  als 
Gottes  Erbarmen  offenbar  geworden.  Und  eben  damit  als 
die  Gerechtigkeit  aller  seiner  Wege  mit  diesem  ganzen 
Volke!  Diese  offenbare  Gerechtigkeit  Gottes  verbietet  es 
uns  jedenfalls,  gegenüber  dem  Phänomen  des  Ungehorsams 
gegen  das  Evangelium  die  Trotzfragen  von  Vers  14,  19 
und  20  fernerhin  geltend  zu  machen. 

In  dem  zweiten  Zusammenhang  Kap.  9,  30  — 10,  21 
kommt  nun  dasselbe  Phänomen  unter  dem  Gesichtspunkt 
zur  Sprache,  daß  es  sich  dabei  tatsächlich  und  offenkun¬ 
dig  um  menschliche  Widersetzlichkeit  gerade  gegen  die  in 
Jesus  Christus  erschienene  Gnade  Gottes  handelt,  die  doch 
schon  das  Geheimnis  der  ganzen  Geschichte  Israels  gewesen 
war.  Wie  furchtbar  und  wie  tröstlich  das  ist,  davon  wird 
jetzt  die  Rede  sein.  Indem  Gott  sich  offenbart  als  der 
Herr,  der  sich  des  Menschen  annimmt  in  Barmherzigkeit 


150 


um  seiner  selbst  willen  aus  freier  Güte,  wird  es  offenbar, 
wer  der  Mensch  ist,  was  es  ist  um  die  menschliche  Schuld, 
Unfähigkeit  und  Unwürdigkeit  Gott  gegenüber.  Das  ist 
das  Furchtbare  und  zugleich  das  Tröstliche  des  Phänomens 
des  Ungehorsams  dem  Evangelium  gegenüber.  Daß  des 
Menschen  eigenes  Wollen  und  Laufen  (v.  16)  ihn  nur 
verdammen,  daß  er  für  seine  Errettung  nie  sich  selbst, 
sondern  nur  Gott  preisen  kann,  nun  aber  Gott  wirklich 
preisen  darf,  das  sollen  die  Gehorsamen  lernen  an  dem 
Phänomen  des  Ungehorsams,  das  lerne  die  Kirche  aus 
dem  Anblick  der  renitenten,  Jesus  Christus  bis  auf  diesen 
Tag  verwerfenden  Synagoge. 

In  Vers  30  wird  offenbar  die  Frage  von  Vers  14 
wieder  aufgenommen  und  nun  richtig  beantwortet.  Wir 
sollen  Gottes  Gerechtigkeit  nicht  in  Zweifel  ziehen  — 
wir  haben  nach  dem  bisher  Gesagten  keinen  Anlaß 
dazu  — ,  sondern  wir  sollen  uns  an  das  halten,  was  in 
der  Kirche  Jesu  Christi  Ereignis  geworden  ist:  Da  sind 
Heiden,  die  diese  Gerechtigkeit  Gottes,  seinen  barm¬ 
herzigen  Willen  faktisch  begriffen  und  ergriffen  haben, 
ohne  daß  ihr  Wollen  und  Laufen  sie  dahin  geführt 
hätte.  Es  geschah  einfach.  Es  war  eine  Totenerweckung: 
sie  glaubten  an  sie  und  damit  ist  sie  ihnen  zugute  ge¬ 
kommen.  Das  ist  der  Gehorsam  der  Gehorsamen.  Dem  steht 
(v.  31)  gegenüber  Israels  bis  heute  fortgesetzter  Versuch, 
das  Gesetz  der  Gerechtigkeit,  d.  h.  die  Israel  als  dem  Volk 
der  Verheißung  und  des  Bundes  gegebene  Lebensordnung, 
durch  sein  Wollen  und  Laufen,  kraft  seiner  Entschlüsse 
und  Leistungen  zu  erfüllen:  mit  dem  Resultat,  daß  es 
eben  damit  nicht  nur  Gottes  Gerechtigkeit  nicht  ergriff  und 
begriff,  sondern  auch  das  Gesetz,  die  ihm  gegebene  Lebens¬ 
ordnung  faktisch  nicht  erfüllte.  Ihm  fehlt  alles  das  nicht, 
was  jenen  Heiden  fehlte.  Ihm  fehlt  aber  nach  Vers  32  a 
dieses  und  damit  das  Entscheidende,  daß  es  wollte  und 
lief,  um  dem  Gesetz  durch  eigene  Erfüllung  seiner  Werke 


151 


Genüge  zu  tun,  statt  im  Glauben  an  die  ihm  gegebene 
Verheißung,  die  der  Sinn  des  Gesetzes  ist,  das  Werk  aller 
Werke  zu  leisten,  nämlich  zu  glauben  an  das,  was  Gott 
mit  ihm  wollte.  Indem  ihm  dies  fehlte,  hat  es  das  Gesetz 
übertreten,  gerade  indem  es  das  Gesetz  erfüllen  wollte. 
Es  stolperte  nach  Vers  32  b — 33  an  dem  Stein,  es  zer¬ 
schellte  an  dem  Felsen,  auf  dem  es  stehen  sollte,  an  Gottes 
Erbarmungswillen,  der  ihm  damit,  daß  es  ihm  nicht  Glau¬ 
ben  schenkte  und  so  Gehorsam  bewies,  zum  Verderben 
werden  mußte.  Es  wurde  gerade  an  dem  ihm  von  Gott 
zubereiteten  Heil  zu  Schanden.  Das  ist  es,  was  das  mensch¬ 
liche  Wollen  und  Laufen  als  solches,  auch  unter  den 
besten  von  Gott  selbst  vorgegebenen  Bedingungen,  ja  ge¬ 
rade  dann  fertig  bringt:  sein  Werk  ist  das  verderbliche 
Werk  des  Unglaubens.  Gottes  im  Glauben  ergriffenes  Er¬ 
barmen  allein  könnte  Gott  und  Menschen  Zusammen¬ 
halten  und  so  die  Menschen  retten.  So  steht  das  Erbar¬ 
men  Gottes  ganz  allein  den  Menschen  gegenüber:  ihre 
Anklage,  aber  auch  ihre  Hoffnung,  so  gewiß  es  eben  die 
Gerechtigkeit  seines  Richters  ist. 

Wie  wenig  Paulus  daran  denkt,  das  in  seinem  Un¬ 
glauben  ungehorsame  Israel  fallen  zu  lassen,  zeigt 
Kap.  10,  1,  wo  er  die  Erklärung  von  Kap.  9,  1 — 5 
wiederholt:  daß  er  auch  und  gerade  als  Apostel  der 
Kirche  der  mit  seinem  ganzen  Wünschen  und  Beten 
diesen  Ungehorsamen  zugewendete  Prophet  Israels  ist 
und  bleiben  will.  Paulus  würde  das  nicht  tun,  wenn 
er  sich  nicht  bewußt  wäre,  eben  damit  das  dem  Ratschluß 
und  Willen  Gottes  selbst  (v.  22!)  Entsprechende  zu  tun. 
Und  nun  bemerke  man,  daß  Paulus  diesen  Ungehorsamen 
(v.  2)  durchaus  zubilligt,  daß  sie  den  „Eifer  um  Gott“ 
haben,  daß  er  ihren  Ungehorsam  also  nicht  etwa  als  eine 
„falsche  Willensrichtung“  und  dergleichen,  daß  er  ihren 
Eifer  nicht  als  gegenstandslos  und  nichtig,  sondern  als 
Eifer  um  den  wahren  Gott  ansicht  und  beurteilt,  daß  er 


152 


also  auch  die  Ungehorsamen  als  solche  sieht,  welche  in 
ihrer  Weise  die  ihnen  gegebene  Verheißung  bzw.  den  in 
Jesus  Christus  erfüllten  Bund  Gottes  bestätigen  müssen. 
Ihr  Eifer  ist  aber  darin  ungehorsam,  daß  er  eben  Gottes 
Verheißung  nicht  als  solche  erkennt  und  nicht  dementspre¬ 
chend  mit  ihr  umgeht.  Gerade  auf  Gott  gerichtet,  gerade 
im  Widerspruch  zu  diesem  seinem  Gegenstand,  ist  ihr  Wille 
(v.  3)  ein  verdrehter  und  verkehrter,  ein  dummer  Wille. 
Sie  erkennen  nämlich  Gottes  Gerechtigkeit  nicht:  nicht  als 
die  Gerechtigkeit  seines  Erbarmens.  Sie  erkennen  Gott 
nicht  als  den  für  sie  Wollenden  und  Handelnden.  Sie  sind 
unwillig,  sich  das  Eintreten  Gottes  für  sie  gefallen  zu  las¬ 
sen.  Sie  suchen  statt  dessen  „ihre  eigene  Gerechtigkeit 
aufzurichten“,  d.  h.  sich  selbst  als  solche  zu  betätigen  und 
zu  bewähren,  die  der  Verheißung  würdig  sind,  die  also 
auf  deren  Erfüllung  Anspruch  haben.  Eben  das  ist  ihre 
Rebellion,  ihr  Ungehorsam  gegen  Gottes  Gerechtigkeit. 
Denn  die  ihnen  gegebene  und  bekannte  Verheißung  des 
Gottes  Abrahams,  Isaaks  und  Jakobs  wartet  auf  ihren 
Glauben.  Fehlt  der  Glaube,  dann  ist  auch  sein  Gesetz  ge¬ 
brochen  bei  allem  Eifer  um  dessen  Erfüllung  und  gerade 
durch  diesen  Eifer.  Indem  sie,  die  die  Verheißung  haben, 
nicht  glauben,  wird,  was  Sünde  ist,  gerade  an  ihnen  offen¬ 
bar.  Es  braucht  Gottes  Erwählung  und  Berufung,  es 
braucht  die  ganze,  gerade  Israel  zugewendete  Gnade  Got¬ 
tes,  dazu,  damit  dies  geschehe,  damit  es  zu  diesem  echten, 
rechten,  eigentlichen  Ungehorsam  komme. 

Der  Beweis  dafür  wird  in  Vers  4 — 13  zunächst  in  der 
Weise  geführt,  daß  gezeigt  wird:  Israel  ist  das  Volk,  dessen 
Verheißung  von  Anfang  an  Jesus  Christus  war,  so  daß  die 
Ordnung,  das  Gesetz,  unter  der  es  lebte,  von  Anfang  an  nur 
das  Gesetz  des  Glaubens  („Das  Gesetz  des  Geistes  des  Le¬ 
bens“  von  Kap.  8,  2!)  sein  konnte.  Indem  es  statt  zu  glau¬ 
ben,  seine  eigene  Gerechtigkeit  aufzurichten  strebte,  mußte 
es  Jesus  Christus  verwerfen.  Und  indem  es  Jesus  Christus 


153 


verwarf,  mußte  es  offenbar  machen,  daß  es  in  seinem  Stre¬ 
ben  nach  der  Aufrichtung  eigener  Gerechtigkeit  den  Glau¬ 
ben  verfehlt  und  damit  das  ihm  gegebene  Gesetz  ge¬ 
brochen  hat,  muß  gerade  es  den  Menschen  als  Rebellen 
gegen  Gottes  Gerechtigkeit  und  damit  seine  völlige  Be¬ 
dürftigkeit  dieser  Gerechtigkeit  und  also  dem  Erbarmen 
Gottes  gegenüber  offenbar  machen.  Es  heißt  nämlich  in 
Vers  4  nicht,  daß  Christus  das  „Ende“,  sondern  daß  er  das 
Ziel“,  Inhalt,  die  Substanz,  die  Summe  des  Gesetzes,  sein 
Sinn  und  zugleich  der  Weg  zu  seiner  Erfüllung  sei.  Paulus 
hat  sich  schon  im  bisherigen  Römerbrief  (Kap.  3,  31;  7, 
12)  im  Einklang  mit  Matth.  5,  17  deutlich  genug  darüber 
erklärt,  daß  er  das  Gesetz  des  Alten  Testamentes  durch 
Jesus  Christus  wahrhaftig  nicht  für  antiquiert  und  ab¬ 
geschafft,  sondern  eben  für  erfüllt  angesehen  hat.  Er  wird 
auch  gleich  nachher  mit  keinem  Wort  gegen  das  Gesetz  — 
als  wäre  es  zu  Ende  — ,  sondern  aus  und  mit  dem  Gesetz 
argumentieren,  dessen  Inhalt  und  ewige  Gültigkeit  in 
Jesus  Christus  erst  recht  offenbar  geworden  ist,  nachdem 
er  von  Anfang  an  sein  Inhalt  und  seine  Kraft  gewesen 
war.  An  Christus  glauben,  heißt  dem  Gesetz  Gottes  ge¬ 
horsam  sein.  Und  hier  sagt  Paulus  nun  in  der  umge¬ 
kehrten  Richtung:  unter  dem  Gesetz  Gottes  stehen,  wie 
es  Israels  besonderer  Fall  ist,  dem  Gesetz  gehorchen,  wie 
es  gerade  von  ihm  erwartet  ist,  heißt  an  Christus  glauben 
als  an  das  Ein  und  Alles  des  Gesetzes  als  an  dessen 
Sinn  und  Erfüllung.  Eben  darin  hat  Israel  versagt  und 
eben  daran,  an  dem  gerade  ihm  von  Anfang  an  gegebenen 
Worte  Gottes,  an  dem  in  Zion  selbst  gelegten  Eckstein 
(Kap.  9,  32  f.)  ist  es  zuschanden  geworden.  Eben  darum 
ist  sein  Mangel  an  Erkenntnis  (v.  2 — 3),  ist  seine  Dumm¬ 
heit  Sünde,  Ungehorsam.  Der  Mensch,  von  dem  Mose 
(v.  5)  sagt,  daß  er  in  Erfüllung  des  Gesetzes  leben  wird, 
der  Mensch  also,  den  das  Gesetz  meint  und  will,  ist  eben 
Christus:  er  wird  das  Gesetz  in  seinem  Tode  erfüllen 


154 


und  von  den  Toten  auferweckt,  leben.  Und  darum  ist  Vers 
6  nicht  als  Protest  gegen  den  Inhalt  von  Vers  5  oder  als 
dessen  Widerlegung  zu  verstehen.  Denn  die  „Gerechtigkeit 
des  Glaubens“,  die  da  wie  eine  Person  redend  eingeführt 
wird,  ist  noch  einmal  Christus:  seine  Stimme  hört  der, 
der  Mose  recht  hört;  wer  ihn  aber  hört,  hört  unweiger¬ 
lich  den  Ruf  zum  Glauben  an  ihn,  um  in  diesem  Glau¬ 
ben  an  seiner  Erfüllung  des  Gesetzes  und  so  auch  an 
seinem  Leben,  an  seinem  Tod  und  an  seiner  Auferstehung 
als  an  dem  Werk  der  göttlichen  Barmherzigkeit  Anteil  zu 
bekommen.  Alles,  was  in  Vers  6  f.  zu  lesen  ist,  ist  eine 
einzige  Aufforderung  nicht  zur  Mißachtung,  sondern  zu 
dieser  Teilnahme  an  der  Erfüllung  des  Gesetzes.  Eben 
darum  hat  Paulus  hier  in  lauter  Mose-Worten  weiter¬ 
geredet.  Es  ist  Israel  durch  sein  Gesetz,  nämlich  durch 
den,  der  seines  Gesetzes  Sinn  und  Erfüllung  ist,  durch  die 
unüberhörbare  Stimme  der  Glaubensgerechtigkeit  in  sei¬ 
nem  Gesetz,  verboten,  die  Erfüllung  der  ihm  gegebenen 
Verheißung:  seinen  Messias  und  seine  Errettung  durch 
eigenes  Bemühen  aus  dem  Himmel  herunter  oder  aus  der 
Unterwelt  heraufholen  zu  wollen.  Solches  himmel-  und 
höllenstürmende  Denken  und  Tun  ist  durch  das  Gesetz  als 
Sünde  verworfen  und  unmöglich  gemacht.  Gerade  die 
wirkliche  Erfüllung  der  Israel  gegebenen  Verheißung 
kann  durch  solches  Denken  und  Tun  nur  verkannt  und 
versäumt  werden,  wie  es  Jesus  Christus  durch  das  in  die¬ 
sem  Denken  und  Tun  begriffene  Israel  tatsächlich  wider¬ 
fahren  ist.  Indem  jene  Stimme  redet,  indem  Jesus  Chri¬ 
stus  sich  selbst  in  Israels  Gesetz  anzeigt,  ergibt  sich  als  die 
eine  von  ihm  zu  erfüllende  Forderung  dies:  es  soll  das 
tun,  was  sich  nachträglich  daraus  ergibt,  daß  ihm  (v.  8a) 
das  Wort,  indem  es  sein  eigenes  Gesetz,  das  Gesetz  des 
Mose,  liest,  nahe,  daß  es  schon  in  seinem  Mund,  schon  in 
seinem  Herzen  ist.  Welches  Wort?  Eben  das  „Wort  des 
Glaubens“  (v.  8b),  eben  das  Evangelium,  das  wir,  die 


155 


Apostel,  die  ganze  Kirche  jetzt  der  Welt  und  so  auch 
Israel  verkündigen.  Und  was  ist  dieses  Nachträgliche,  das 
zu  tun  ist?  Wir  hören  es  in  Vers  9:  es  geht  darum,  daß 
der  Mund  bekenne,  was  das  Herz  glaube.  Was  bekenne 
und  glaube?  Eben  das,  was  im  Gesetz  zu  lesen  ist,  eben 
den,  der  aus  dem  Gesetz  zu  seinen  Lesern  redet,  eben  ihn, 
den  Inhalt  des  christlichen  Tauf-  und  Glaubensbekennt¬ 
nisses:  eben  seine  Erfüllung  des  Gesetzes  und  eben  sein  Le¬ 
ben  als  das  Leben  dessen,  den  Gott  von  den  Toten  erweckt 
hat.  Zur  Erfüllung  dieser  einen  Forderung  wollen  alle 
Gebote  des  Gesetzes  seines  Leser  anlciten,  dazu  ihnen 
helfen  und  dienlich  sein.  Das  wollen  die  Zehn  Gebote 
von  ihnen,  das  das  ganze  Heiligkeits-  und  Opfergesetz. 
Daran  hängt  alles,  was  es  dem  Menschen  verheißt  als  seine 
Errettung,  als  seine  Befreiung  von  der  Schande  unter  der 
Bedingung,  daß  er  ihm  gehorsam  sei.  (v  10 — 11).  Der 
Gehorsam  ist  der  Glaube.  Indem  Israel  nicht  glaubt,  eben 
an  den  nicht  glaubt,  der  doch  im  Gesetz  sich  selber  an¬ 
zeigt,  der  dem  Leser  des  Gesetzes  das  Bekenntnis  zu  ihm 
in  den  Mund  und  den  Glauben  an  ihn  ins  Herz  legt  — 
indem  es  das  unterläßt,  ja  empört  von  sich  weist,  ist  es 
dem  Gesetz,  ist  es  seinem  Gott  ungehorsam,  ist  es  ein 
sündiges  Volk.  Wenn  die  Synagoge  heute  aus  dem  Munde 
der  Kirche  jenes  Tauf-  und  Glaubensbekenntnis  ver¬ 
nimmt,  dann  sollte  sie  sich  gerade  nicht  auf  ihr  Gesetz 
berufen,  das  ihr  verbiete,  in  einem  Geschöpf  den  Schöpfer, 
in  einem  Menschen  den  Herrn  über  Alle  und  Alles  an¬ 
zurufen  und  anzubeten.  „Es  ist  hier  kein  Unterschied  zwi¬ 
schen  den  Juden  und  den  Hellenen“.  Was  der  Jude  jetzt 
aus  dem  Munde  so  manches  Hellenen  vernimmt,  das  geht 
auch  ihn,  ja  das  geht  ihn  zuerst  an,  das  müßte,  wäre 
er  gerade  dem  ihm  besonders  gegebenen  Gesetz  wirklich 
gehorsam,  gerade  sein  Glaube  und  sein  Bekenntnis  sein: 
Ein  Herr  ist  wirklich  über  Allem  und  Allen  und  eben  der 
Mensch  Jesus  ist  dieser  Herr  —  als  Vollstrecker  der 


156 


Barmherzigkeit  und  so  der  Gerechtigkeit  Gottes  reich  über 
Allen  und  für  Alle,  die  ihn  als  solchen  anrufen.  Und  ihm 
gegenüber  sind  Alle  arm,  auf  seinen  Reichtum  sind  Alle 
angewiesen:  die  Heiden  nicht  weniger  als  die  Juden,  aber 
auch  die  Juden  nicht  weniger  als  die  Heiden.  Es  besteht 
die  Ehrung  des  Schöpfers  durch  das  Geschöpf,  es  besteht 
aber  auch  die  Errettung  des  Geschöpfes  durch  seinen 
Schöpfer  für  alle  Welt  darin,  daß  Jesus  als  der  Herr  an¬ 
gerufen  wird.  Der  Jude  müßte  das  nicht  nur  auch  wissen 
daraufhin,  daß  es  ihm  wie  den  Heiden  durch  das  christ¬ 
liche  Bekenntnis  verkündigt  wird.  Er  müßte  es  zuerst  wis¬ 
sen.  Er  müßte  es  als  Jude  sozusagen  von  Haus  aus  und 
von  sich  aus  wissen.  So  hat  sich  die  Anklage  gegen  den  jü¬ 
dischen  Ungehorsam  dem  Evangelium  gegenüber,  Vers 
9 — 13,  ohne  daß  sie  besonders  wiederholt  wird,  verschärft. 
„Jeder,  der  an  ihn  glaubt,  wird  nicht  zuschanden  wer¬ 
den“  (v.  11),  „Jeder,  der  den  Namen  des  Herrn  anrufen 
wird,  wird  gerettet  werden“  (v.  13).  Das  sagt  die  Schrift 
gerade  dem  Juden,  gerade  der  Synagoge,  in  der  sie  so  eif¬ 
rig  gelesen  wird.  Sie  sagt  eben  damit,  daß  Jeder,  der  nicht 
glaubt,  zuschanden  wird,  daß  Jeder,  der  diese  Anrufung 
versäumt,  verloren  geht. 

Aber  noch  hat  Paulus  die  Schlußfolgerung  nicht  aus¬ 
drücklich  gezogen.  Er  antwortet  in  Vers  14  f.  auf  eine 
Frage,  die  man  von  Kap.  9,  30  ab  als  in  der  Luft  liegend 
empfinden  kann:  ob  denn  die  behauptete,  notwendige 
Verpflichtung  der  Juden  zum  Glauben  und  zum  Be¬ 
kenntnis  Jesus  Christus  gegenüber  und  damit  die  Un¬ 
entschuldbarkeit  ihres  Ungehorsams  wirklich  feststehe? 
„Wie  sollen  sie  den  anrufen  (zu  dem  sich  als  Herrn 
bekennen),  dem  gegenüber  sie  nicht  zum  Glauben  ge¬ 
kommen  sind?“  (v.  14a).  Daß  die  Leser  des  Mose  zu 
diesem  Glauben  und  von  da  zu  diesem  Bekenntnis  kom¬ 
men  können,  das  hängt  daran,  daß  sie  den,  von  dem 
Mose  redet,  hören  können:  „Wie  sollen  sie  an  den  glau- 


157 


ben,  den  sie  nicht  gehört  haben?“  (v.  14b).  Haben  sie  ihn 
denn  gehört,  indem  sie  Mose  gelesen  haben?  War  da  seine 
Stimme  wirklich  laut?  War  da  Erklärung,  Auslegung, 
Verkündigung?  „Wie  sollten  sie  ihn  hören  ohne  Verkün¬ 
diger?“  (v.  14c).  Ist  ihnen  das  Geschriebene  wirklich  zum 
Geredeten,  zur  Botschaft  geworden?  So  daß  sie  selbst  zu 
Hörern,  zu  wirklichen  Hörern  und  also,  außerstande  sich 
dem  Gehörten  zu  entziehen,  gehorsam  werden  mußten? 
Soll  es  aber  gelten,  daß  das  Alles  der  Fall  ist  bei  den 
Juden,  daß  sie  also  nach  Vers  4 — 13  dabei  zu  behaften 
sind,  daß  sie  glauben  und  bekennen  müßten,  dann  mußte 
die  Verkündigung,  die  ihnen  tatsächlich  widerfahren,  statt¬ 
gefunden  haben  im  Auftrag,  in  der  Sendung  und  in  der 
Vollmacht  dessen,  der  der  Herr  der  Schrift  ist  und  als 
solcher  durch  die  Schrift  verpflichtend  mit  ihnen  reden 
will.  „Wie  sollte  ihn  verkündigen,  wer  dazu  nicht  gesendet 
wäre?“  (v.  15a).  Scheinbar  fragt  Paulus  nur  in  Vers 
14 — 15a.  Es  klingt  wie  eine  Entschuldigung  des  Synagogen¬ 
juden.  Ist  dieser  wirklich  verpflichtet  zum  Glauben  und 
zum  Bekenntnis,  ist  er  wirklich  unentschuldbar  ungehor¬ 
sam,  weil  alle  jene  Bedingungen  zum  Gehorsam  erfüllt 
sind?  In  Wirklichkeit  hat  Paulus  mit  jener  ganzen  Reihe 
von  Fragen  doch  auch  schon  Antwort  gegeben:  Ja,  ist  seine 
Meinung,  jene  Bedingungen  sind  erfüllt  und  so  ist  der 
Jude  verpflichtet,  so  wirklich  unentschuldbar  ungehorsam. 
Daß  er  es  so  meint,  zeigt  in  Vers  15b  das  Zitat  aus  Jesaia 
52:  „Wie  lieblich  sind  die  Füße  derer,  die  das  Evangelium 
als  das  Gute  verkündigen!“  Eben  die  Schrift  selbst,  der 
Prophet  Jesaia  jetzt,  weissagt  wie  die  Notwendigkeit  des 
Glaubens  (v.  11)  und  des  Bekenntnisses  (v.  13)  so  auch 
die  Wirklichkeit  vollmächtiger  Botschaft,  die  die  Schrift 
erklärt,  die  sie  laut  zur  Sprache  und  bindend  zu  Gehör 
bringt.  Die  Juden  mußten  auch  von  dieser  Wirklichkeit 
schon  als  Juden  und  insofern  von  Haus  aus  wissen.  Vers 
15b  ist  also  kein  erbauliches  Ornament,  sondern  gerade 


158 


hier  hat  Paulus  das  Entscheidende  gesagt.  Er  hat  näm¬ 
lich  in  diesem  unentbehrlichen  Glied  seines  in  Vers  14  be¬ 
gonnenen  Gedankens  vom  Apostolat  der  Kirche,  und  also 
von  seinem  eigenen  Amt  geredet.  Er  beweist  das,  was  er 
von  der  Verpflichtung  und  Unentschuldbarkeit  der  Juden 
sagen  will,  in  diesem  letzten  Glied  seines  Beweises  mit 
seiner  eigenen  Existenz  als  Vertreter  der  auf  Sendung  be¬ 
ruhenden,  von  dem  auferstandenen  Jesus  Christus  her¬ 
kommenden,  befohlenen,  ins  Leben  gerufenen,  autorisier¬ 
ten  und  legitimierten  Verkündigung.  Er  beweist  die  Er¬ 
füllung  dieses  letzten  Teiles  der  alttestamentlichen  Weis¬ 
sagung,  indem  er  ihr  entsprechend  da  ist  und  handelt. 
Er  ist  in  seiner  Person  oder  vielmehr  als  Träger  seines 
Amtes  die  positive  Antwort  auf  die  Frage,  ob  die  Juden 
glauben  und  bekennen  können.  Sie  können  es,  sie  sind 
also  dazu  verpflichtet,  so  gewiß  sie  nicht  leugnen  können, 
der  Erfüllung  jener  Verheißung  von  den  Boten,  die  das 
Evangelium  als  das  Gute  verkündigen,  ansichtig  zu  sein. 
Da  steht  er  selber,  ein  Jude  wie  sie,  die  lebendige  Er¬ 
füllung  jener  Verheißung.  Und  nun  können  sie  nicht  mehr 
sagen,  daß  jene  Bedingungen  nicht  sämtlich  erfüllt  seien. 
So  ist  nun  der  Weg  frei  zu  dem  Satz,  der  gewissermaßen 
die  nüchterne  Tatsadie  ausspricht,  um  die  diese  ganzen 
drei  Kapitel  kreisen:  „Aber  nicht  alle  gehorchten  dem 
Evangelium“  (v.  16a).  Daß  sie  dem  Wort  der  Schrift  und 
damit  Gott  in  unentschuldbarer  Weise  nicht  gehorchen,  das 
ist  darin  furchtbare  Wirklichkeit,  daß  sie  —  indem  sie  sich 
ausnehmen  von  den  „Allen“  in  Vers  11  und  Vers  13  — 
dem  Evangelium  nidit  gehordien.  Das  Evangelium  ist 
auch  zu  ihnen,  gerade  zu  ihnen  gekommen,  nicht  nur 
gesdirieben  in  der  Schrift,  sondern  geredet  und  von  ihnen 
gehört,  nicht  nur  in  Worten,  sondern  in  Kraft,  als  Ver¬ 
kündigung,  getragen  und  ausgewiesen  durch  die  Sendung 
seiner  Verkündiger.  Der  Vorwand,  daß  man  nicht  glauben 
und  bekennen  könne,  ist  unmöglich  gemacht.  So  ist  ihre 


159 


Verweigerung  des  Glaubens  und  des  Bekenntnisses  kein 
Mißgeschick,  kein  Schicksal,  sondern  eben:  Gesetzesüber¬ 
tretung,  Ungehorsam.  Aber  Paulus  will  auch  diese  Fest¬ 
stellung  nicht  anders  gemacht  haben  als  so,  daß  der  Syna¬ 
gogenjude  sie  von  seinen  eigenen  Voraussetzungen  aus 
als  legitim  anerkennen  muß.  Darum  in  Vers  16b — 17  das 
Jesaiazitat  und  dessen  Erklärung.  Auch  jene  Schlußfolge¬ 
rung  in  Vers  16a  ist  von  der  Schrift  selbst  schon  gezogen. 
Es  ist  auch  das  Weissagung,  daß  eben  die  Boten,  die  die 
gute  Nachricht  von  der  Erfüllung  aller  Weissagung  brin¬ 
gen,  auf  Unglauben  stoßen  werden.  Es  war  schon  einmal 
so,  daß  eben  der  autorisierte  und  legitimierte  Bringer  der 
Botschaft  von  dem  für  seine  Brüder  leidenden  Gottes¬ 
knecht  sich  endlich  und  zuletzt  nur  Gott  zuwenden 
konnte,  der  ihn  gesandt,  um  ihn  zu  fragen:  Wozu 
hast  du  mich  eigentlich  gesandt?  „Herr,  wer  hat  unserer 
Kunde  Glauben  geschenkt?<c  Es  war  schon  einmal  so, 
daß  der  Prophet  und  nicht  nur  der  Prophet,  sondern 
Gott  selbst  und  seine  Sache  ganz  einsam  war  seinem 
Volk  gegenüber.  „Der  Glaube  kommt  aus  der  Kunde,  so 
gewiß  die  Kunde  geschieht  durch  das  Evangelium“  (v.  17). 
Was  der  Prophet  und  was  heute  der  Apostel  verkündigt, 
das  hat  (wie  die  Worte  des  Mose)  seine  Macht  von  seinem 
Gegenstände  her;  sie  ist  die  Macht  seines  Auftraggebers 
und  Ursprungs,  des  Gottesknechtes  selber,  und  darum  ist 
sie  notwendig  bewegender  Grund  zum  Glauben.  Darum 
ist  der  Unglaube  ihm  gegenüber  unmöglich,  darum  ist  die 
Haltung  der  ungläubigen  Hörer  seines  Wortes  das  in  sich 
Unmögliche,  der  Ungehorsam,  der  sich  nicht  dem  Propheten, 
nicht  dem  Apostel,  sondern  der  sich  Gott  selbst  widersetzt. 
Zu  dem,  was  in  dieser  Haltung  geschieht,  kann  also  nur 
Gott  selbst  das  lösende  Wort  sagen.  Sein  erbarmendes  Ein¬ 
greifen  hat  in  dieser  Situation  schon  der  Prophet  mit  jener 
Klage  angerufen.  Wer  glaubt?  Vom  Menschen  her  ge¬ 
sehen  und  gesagt:  Niemand!  Der  wird  glauben,  den 


160 


Gottes  Erbarmen  aus  dem  allgemeinen  Unglauben  auf- 
rufen  und  erwecken  wird  —  keiner  vorher  und  keiner 
sonst.  Auch  das,  daß  der  Apostel  jetzt  wieder  so  klagen 
muß  wie  einst  der  Prophet,  muß  so  sein,  wenn  die  Schrift 
erfüllt,  wenn  der  Apostolat  wirklich  als  die  Erfüllung 
der  prophetischen  Weissagung  sich  erweisen  soll.  Es  gehört 
also  auch  die  offenkundige  Schuld  der  in  der  Synagoge 
gegen  die  Kirche  streitenden  Judenschaft  in  ihrer  Weise 
zur  Erfüllung  der  Weissagung,  aber  damit  in  ihrer  gan¬ 
zen  Furchtbarkeit  auch  zur  Bestätigung  der  Erwählung 
des  ganzen  Israel.  Eben  dieses  dem  Evangelium  ungehor¬ 
same  Volk  ist  Gottes  erwähltes,  zur  Hervorbringung  Jesu 
Christi,  des  Herrn  über  Alle  und  Alles,  bestimmtes  Volk. 
„Aber,  sage  ich,  haben  sie  etwa  nicht  gehört?“  (v.  18).  Das 
ist  keine  bloße  Wiederholung,  obwohl  diese  Frage  schon 
in  Vers  14 — 15  gestellt  und  beantwortet  scheint.  Die  Ant¬ 
wort  in  Vers  18  zeigt  doch,  daß  unter  „Hören“  hier  noch 
etwas  Anderes  verstanden  ist  als  dort.  Die  Frage  lautet 
hier:  ob  sich  eine  Entschuldigung  des  jüdischen  Ungehor¬ 
sams  vielleicht  in  letzter  Stunde  aus  dem  Umstand  er¬ 
geben  sollte,  daß  die  lebendige  Auslegung  des  Gesetzes 
durch  den,  von  dem  das  Gesetz  redet,  sie  rein  praktisch 
und  äußerlich  nicht  erreicht  habe.  Die  mit  dem  Zitat  aus 
Ps.  19  gegebene  Antwort  zeigt  zunächst,  daß  es  nicht  nur 
möglich,  sondern  notwendig  ist,  bei  der  Erklärung  des  Be¬ 
griffs  der  Sendung  (v.  15)  nicht  nur  im  allgemeinen  an 
den  Apostolat  der  Kirche,  sondern  im  besonderen  an  das 
Apostelamt  des  Paulus  zu  denken.  Denn  die  Antwort  in 
Vers  18  redet  ja  nicht  etwa  davon,  daß  es,  wie  Gal.  2  es 
ausdrückt,  einen  besonderen  „Apostolat  der  Beschneidung“, 
die  dem  Petrus  und  den  anderen  Uraposteln  übertragene 
„Judenmission“  gab,  durch  welche  den  Juden  das  Evan¬ 
gelium  nahegebracht  wurde,  so  daß  sie  es  sehr  wohl  hören 
könnten.  Sonder  das  sagt  Paulus  mit  dem  Psalmwort 
von  dem  über  die  ganze  Erde  ausgegangenen  Schall:  daß, 


161 


was  alle  gehört  haben,  die  Juden  auch  gehört  haben  müs¬ 
sen.  Er  bezieht  sich  also  gerade  auf  sein  besonderes  Amt 
als  Heidenapostel,  in  welchem  er  trotz  jener  Arbeitsteilung 
die  eigentliche  Beziehung  zwischen  dem  auferstandenen 
Christus  und  der  Welt  und  in  welchem  er  die  Verkündi¬ 
gung  an  die  Juden  eingeschlossen  gesehen  hat:  als  die 
notwendige  und  praktisch  sogar  erste  Rückwirkung  des 
Vollzugs  jener  Beziehung.  Und  man  wird  hier  weiter  dar¬ 
an  denken  müssen,  daß  für  Paulus  alle  Mission  nur  die 
menschliche  und  gewissermaßen  indirekte  Anzeige  dessen 
war,  was  am  Kreuz  auf  Golgatha  allererst  objektiv  für 
die  ganze  Welt  geschehen  und  durch  Jesu  Auferstehung 
von  den  Toten  allererst  objektiv  der  ganzen  Welt  bekannt 
gemacht  ist.  Von  der  Souveränität  des  in  Vers  17  erwähn¬ 
ten  Wortes  Christi  her  weiß  er,  daß  die  ganze  Welt  es  ver¬ 
nommen  hat  und  sagt  er  nun  auch  der  Judenschaft  auf 
den  Kopf  zu,  daß  auch  sie  es  tatsächlich  gehört  hat,  weil 
sie  mit  dem  ganzen  übrigen  Kosmos  objektiv  damit  kon¬ 
frontiert  worden  ist. 

In  Vers  19 — 20  wird  eine  zweite  Ergänzungsfrage 
gestellt  und  beantwortet.  Sie  kommt  in  der  Reihe  Vers 
14 — 15  nicht  vor  und  lautet:  „Aber,  sage  ich,  hat 
Israel  etwa  nicht  verstanden?“  Wir  denken  an  Vers 
2 — 3.  Was  ist  es  mit  jenem  Nichterkennen  der  Gerechtig¬ 
keit  Gottes?  Was  dort  gesagt  wird,  wird  hier  nicht  zurück¬ 
genommen.  Sondern  das  hören  wir  hier:  sie  haben  ver¬ 
stehend  nicht  verstanden,  wie  sie  nach  Vers  18  hörend 
nicht  gehört  haben.  Beweis:  das,  was  unterdessen  im  Zu¬ 
sammenhang  mit  der  Verkündigung  des  Evangeliums  in 
der  Heidenwelt  vor  sich  gegangen  ist.  Man  bemerke,  daß 
Paulus  nicht  etwa  darüber  diskutiert,  ob  das  Evangelium 
eine  verständliche  Sache  sei.  Die  Antwort  von  Vers  19 — 20 
setzt  vielmehr  voraus,  daß  das  Evangelium  dem  Menschen 
gar  keine  verständliche  Sache  ist.  Sondern  von  einem  un- 


162 


verständigen,  Gott  nicht  suchenden,  nach  ihm  nicht  fragen¬ 
den  Volk  ist  ja  in  dieser  Antwort  die  Rede:  von  einem 
Volk,  durch  das  Gott  sich  kraft  des  durch  den  ganzen 
Kosmos  gehenden  Schall  seines  Wortes  finden  ließ  und 
mit  dessen  Existenz  er  darum  Israel  Anlaß  zur  Eifersucht 
geboten  hat.  Unverständige  verstehen!  Gott  nicht  Suchende 
finden  ihn,  das  ist  es,  was  in  der  Berufung  und  Bekeh¬ 
rung  der  Heiden  zur  Kirche  Ereignis  geworden  ist.  Ihr 
Glaube,  ihre  Existenz  in  der  Kirche  ist  der  Beweis  dafür, 
daß  sie  verstanden  haben.  Können  nun  die  Juden  noch 
geltend  machen,  daß  sie  nicht  verstehen  können?  Sind  die 
Juden  nicht  erwählt  und  bestimmt  dazu,  das  verständige, 
das  Gott  suchende  und  nach  ihm  fragende  Volk  zu  sein? 
Geschieht  das  nicht,  so  kann  das  gerade  bei  ihnen  nicht 
daran  liegen,  daß  sie  das  nicht  können.  Sie  könnten  wohl, 
aber  sie  wollen  und  tun  es  nicht.  Man  beachte,  wie  hier 
wieder  die  apostolische  Arbeit,  das  Leben  des  im  Auftrag 
seines  Herrn  in  die  Heidenwelt  hinausgesandtenBoten  der 
Ort  ist,  von  dem  aus  argumentiert,  wie  aber  eben  dieses 
Argument  auch  hier  in  der  Form  des  Schriftbeweises  und 
nicht  etwa  in  der  naheliegenden  Form  des  Berichtes  von 
allerhand  paulinischen  Missionserfahrungen  vorgebracht 
wird.  Das  ist  keine  Schrulle  schriftgelehrter  Gesetzlichkeit, 
sondern  das  geschieht  darum,  weil  Paulus  mit  Allem,  was 
er  in  diesem  Kapitel  gesagt  hat  und  so  auch  mit  diesem 
letzten  die  Erwählung  und  Berufung  von  ganz  Israel 
nicht  bestreiten,  sondern  angesichts  seins  Ungehorsams  be¬ 
haupten  will:  seine  Erwählung  und  Berufung  durch  den 
Gott,  der  sein,  dieses  ungehorsamen  Volkes  Erbarmer  ist. 
Gerade  um  dieses  Ziel  aller  seiner  Gedanken  festzuhalten, 
durfte  Paulus  das  Geländer  des  Schriftwortes  keinen 
Augenblick  loslassen.  Es  ist  also  gerade  der  scheinbare 
Rabbinismus  dieses  Kapitels,  der  ihm,  dem  furchtbaren 
Satz,  den  er  ausspricht,  zum  Trotz,  seinen  besonders 
evangelischen  Charakter  gibt. 


163 


Vers  21  setzt  in  diesem  Sinn  den  Schlußstrich  unter  das 
Ganze.  Nicht  das  schuldhafte  Nichthören  und  Nichtver¬ 
stehen  und  also  nicht  der  Ungehorsam  der  Juden  ist  das 
Faktum,  an  das  die  Kirche  sich  endlich  und  zuletzt  halten 
soll,  sondern  das,  was  Gott  den  Juden  gegenüber  von  jeher 
„den  ganzen  Tag  lang“  getan  hat:  eben  nach  diesem  Volk 
hat  er  nämlich  seine  Hände  ausgestreckt,  eben  ihm  gegen¬ 
über  wurde  er  nicht  müde,  sich  ihm  zuzuwenden,  sich  zu 
ihm  herniederzulassen,  sich  selbst  ihm  anzubieten.  Deut¬ 
licher  und  schärfer  kann  seine  Schuld  nicht  festgestellt  und 
deutlicher  und  tröstlicher  kann  nicht  von  dem  geredet  wer¬ 
den,  an  dem  es  schuldig  geworden  ist  und  der  es  zum  Ge¬ 
genstand  seines  Erbarmens  gemacht  —  der  es  als  solches 
nicht  fallen  gelassen  hat,  weil  sein  Erbarmen  größer  ist  als 
seine  und  als  alle  menschliche  Schuld. 

Der  dritte  Zusammenhang:  Kap.  11,  1 — 36  steht  unter 
dem  Zeichen  der  Frage  in  Vers  1  „Hat  Gott  sein  Volk 
verstoßen?“  und  ihrer  kategorischen  Beantwortung  in 
Vers  2  „Gott  hat  sein  Volk,  das  er  zuvor  ersehen  hat, 
nicht  verstoßen“.  Man  kann  die  Frage  in  Vers  1  als  eine 
Fortsetzung  der  Fragenreihe  in  Kap.  10,  18  und  19  auf¬ 
fassen:  Sollte  der  Grund  der  Verweigerung  des  Glaubens 
und  des  Bekenntnisses  durch  die  Juden  darin  zu  suchen 
sein,  daß  Gott  auf  die  Kreuzigung  Jesu  Christi  damit 
geantwortet  hat,  daß  er  seinen  Willen  dem  Volk  Israel 
gegenüber  verändert,  seine  ihm  gegebene  Verheißung  zu¬ 
rückgezogen  und  sich  nun  ausschließlich  den  Heiden  zu¬ 
gewendet  hat,  denen  ja  Jesus  Christus  von  den  Juden 
selbst  damals  ausgeliefert  worden  ist?  Sind  sie  darum 
ungehorsam,  weil  Gott  gar  keinen  Gehorsam  mehr  von 
ihnen  fordert,  weil  sie  bei  Gott  überhaupt  keine  Zukunft 
mehr  haben?  Die  Frage  ist  sicher  schon  in  Kap.  10,  21 
indirekt  mit  aller  Entschiedenheit  dahin  beantwortet  wor¬ 
den,  daß  das  nicht  in  Betracht  komme.  Aber  eben  das  soll 


164 


nun  im  elften  Kapitel  auch  noch  direkt  und  ausdrücklich 
gesagt  und  begründet  werden. 

Paulus  antwortet  zunächst  mit  dem  Hinweis  auf  sich 
selber:  „Auch  ich  bin  ein  Israelit,  aus  dem  Samen  Abrahams, 
vom  Stamme  Benjamin“  —  also  wie  Jeremia  gerade  von 
diesem  nach  Rieht.  20 — 21  einst  beinahe  der  Vernichtung 
verfallenen  und  dann  doch  davor  bewahrten  Stamme:  dem 
Stamme  des  von  Gott  verworfenen  Königs  Saul  —  gerade 
er,  der  sich  als  Verfolger  der  Gemeinde  an  der  Kreuzigung 
Christi  nachträglich  bewußt  und  in  eigener  Person  mit¬ 
schuldig  gemacht  hatte  —  gerade  er,  der  an  dem  in  Kap.  10 
beschriebenen  Ungehorsam  Israels  vollsten  Anteil  hatte: 
gerade  er  erwies  sich,  berufen  durch  den  auferstandenen 
Jesus  Christus  selber,  nun  dennoch  als  erwählt:  als  erwählt 
zum  Träger  des  Apostelamtes,  zum  Heidenapostel.  Wie 
könnte  er  zugeben,  daß  Gott  sein  Volk  Israel  verstoßen 
habe?  Ist  er  nicht  der  lebendige  Gegenbeweis,  der  Beweis 
für  die  Treue  des  göttlichen  Erbarmens  diesem  Volke  ge¬ 
genüber?  Ist  er  nicht  selber  eine  Erfüllung  des  Wortes  in 
Ps.  94,  14:  „Gott  hat  sein  Volk  nicht  verstoßen“?  Wie 
sollte  gerade  er  die  Erfüllung  dieses  Wortes  nicht  auch 
im  Blick  auf  die  anderen  Ungehorsamen  dieses  Volkes 
allen  Ernstes  erwarten?  Oder  sollte  die  Existenz  eines  Ein¬ 
zelnen  für  das  Ganze  dieses  Volkes  nicht  beweisend  sein? 
Auf  diese  Frage  wird  offenbar  in  Vers  2b — 4  geantwortet 
mit  der  Erinnerung  an  Elia,  den  Propheten  des  abgefalle¬ 
nen  nördlichen  Israel  in  den  schlimmsten  Tagen  (den  Ta¬ 
gen  des  Ahab  und  der  Isebeel!)  —  an  die  Klage,  mit  der 
jener  Einsame  (ganz  ähnlich  wie  der  in  Kap.  10,  16  er¬ 
wähnte  Prophet)  sich  an  Gott  wandte,  aber  auch  an  den 
Gottesspruch,  der  ihm  zur  Antwort  wurde,  der  die  Klage 
und  Anklage  des  Propheten  wohl  bestätigte  und  der  ihm 
nun  dodi  auf  die  7000  Nicht-Gleichgeschalteten  aufmerk¬ 
sam  machte,  welche  keine  irrevelante  Minderheit,  sondern 


165 


gerade  im  Gegensatz  zu  der  Mehrheit  des  damaligen 
Israel  in  Gottes  Augen  das  ganze  Israel,  Israel  als  solches 
waren:  von  Gott  für  sich  selbst  bewahrt,  inmitten  des  all¬ 
gemeinen  Abfalls.  Wie  dort  Elia  keine  die  Regel  bestä¬ 
tigende  Ausnahme  ist,  keine  Schwalbe,  die  noch  keinen 
Sommer  macht,  so  ist  es  auch  Paulus  nicht!  So  ist  auch 
jetzt  ein  durch  die  Wahl  der  Gnade  ausgesonderter  Rest 
vorhanden:  „Wenn  aber  durch  Gnade,  dann  nicht  auf 
Grund  der  Werke,  sonst  wäre  ja  die  Gnade  nicht  Gnade“ 
(v.  5 — 6).  Das  ist  die  Anwendung  des  Gottesspruches  auf 
die  Gegenwart:  Paulus  denkt  an  die  mit  ihm  aus  Israel 
hervorgegangenen  anderen  Apostel,  an  die  3000  vom 
Pfingsttag  in  Jerusalem  und  an  die  Tausende,  die  später 
mit  ihnen  zum  Glauben  kamen.  Er  denkt  an  alle  die  aus 
den  Synagogen  der  anderen  Mittelmeerländer,  denen  er 
selbst  das  Evangelium  nicht  umsonst  verkündigt  hatte. 
Die  Worte,  in  denen  Paulus  diese  Anwendung  vollzieht, 
unterstreichen  nun  aber  in  jenem  Gottesspruch  dies,  daß 
es  sich  bei  jenen  7000  nicht  um  ein  löbliches  Fähnlein 
der  7  Aufrechten,  sondern  um  Gottes  Erwählte,  um  die 
von  Gott  für  sich  übrig  Behaltenen  und  so  um  das  ganze 
Israel  gehandelt  habe.  Indem  ganz  Israel  als  solches  durch 
Gottes  freie  Gnade  erwählt  war  und  in  Bestätigung  die¬ 
ser  ewigen  Grundbestimmung  Israels  kam  und  kommt  es 
nun  auch  in  der  Zeit,  nun  auch  innerhalb  Israels  immer 
wieder  zu  solcher  freien  Gnadenwahl:  ihr  Werk  ist  die 
Existenz  der  7000  Aufrechten,  an  denen  es  in  diesem 
Volke  auch  in  seinem  tiefsten  Abfall  und  unter  den 
schwersten  Gottesgerichten,  die  es  deshalb  trafen,  nie  ge¬ 
fehlt  hat  und  in  denen,  um  derentwillen  ganz  Israel  als 
das  erwählte  Volk  trotz  allem  weiter  leben  durfte.  Nicht 
ihre  Standfestigkeit  und  Wehrhaftigkeit  macht  sie  der 
Gnadenwahl  Gottes  würdig,  sondern  Gottes  Gnadenwahl 
macht  sie  dessen  würdig,  standfest  und  wehrhaft,  das  er¬ 
wählte  Israel  in  seiner  Gesamtheit  darzustellen.  So  erwidert 


166 


Gott  nicht  Gunst  mit  Gunst,  indem  er  sie  für  sich  übrig 
behält,  sondern  er  handelt  an  ihnen  wie  einst  an  Abra¬ 
ham.  Und  das  eben  ist  das  Köstliche,  dessen  sie,  dessen 
der  „Rest“  —  und  dessen  im  Blick  auf  ihn  alle  Israeli¬ 
ten  sich  rühmen  dürfen:  der  Rest  als  solcher  ist  der  Beweis 
dafür,  daß  Gott  nicht  aufgehört  hat,  so  an  Israel  zu  han¬ 
deln,  wie  er  es  von  Anfang  an  getan  hat:  auf  Grund  und 
nach  Maßgabe  seines  Erbarmens  und  nicht  im  Blick  auf 
die  menschlichen  Werke  —  auf  Grund  seiner  ganz  freien 
und  eben  darum  ganz  mächtigen  Gnade.  Indem  Gott  im¬ 
mer  wieder  so  an  ihm  handelt,  ist  Jesus  Christus  als  der, 
für  den  das  ganze  Israel  bestimmt  ist,  dem  ganzen  Israel 
immer  wieder  gegenwärtig  und  sichtbar.  Indem  Gott  so  an 
Israel  handelt,  gibt  es  immer  —  gab  es  damals  und  gibt 
es  heute  —  Kirche  auch  aus  und  in  Israel  und  eben  in 
ihr  lebte  heimlich  immer  —  lebte  damals  und  lebt  heute 
—  das  ganze  Israel.  Der  durch  Gnadenwahl  bewahrte 
Rest  Israels  ist  vor  Gott  als  solcher,  wie  groß  oder  klein 
er  sein  möge,  das  ganze  Israel.  Indem  die  Eliageschichte 
wie  die  Geschichte  des  Paulus  selbst  diese  göttliche  Gna¬ 
denwahl  bezeugen,  bezeugen  sie  die  Beständigkeit  Gottes 
in  der  Erwählung  seines  Volkes,  sind  sie  die  Widerlegung 
der  antisemitischen  Frage  von  Vers  1:  Sollte  Gott  sein 
Volk  verstoßen  haben?  Die  Frage  „Was  nun?“  in  Vers  7 
bedeutet:  Was  ist  der  Gehalt  des  eben  Gesagten  und  die 
daraus  zu  ziehende  Folgerung?  Die  Antwort  lautet  zu¬ 
nächst  (v.  7a):  „Was  Israel  sucht,  hat  es  nicht  erreicht, 
die  Wahl  aber  hat  es  erreicht“.  Israel  sucht  nach  Kap. 
9,  31  und  10,  3  durch  Erfüllung  des  Gesetzes  seine  eigene 
Gerechtigkeit  zu  erlangen,  aus  und  durch  sich  selbst  seine 
Bestimmung  zu  erfüllen,  Israel,  der  Gotteskämpfer  zu 
sein.  Das  erreicht  es,  wie  in  Kap.  10  gezeigt  wurde,  und 
nun  nicht  mehr  zu  zeigen  ist,  nicht,  sondern  es  erreicht 
das  Gegenteil.  Aber  wie  es  in  Kap.  9,  30  hieß,  daß  die 
Heiden  die  Gerechtigkeit,  der  sie  nicht  nachgejagt,  fak- 


167 


tisch  empfingen  und  in  Kap.  10,  20:  daß  Gott  sich  fin¬ 
den  ließ  von  denen,  die  ihn  nicht  suchten,  so  kann  nun 
auch  das  in  Vers  7a  von  Israel  Gesagte  das  letzte  Wort 
nicht  sein.  Was  Israel  im  allgemeinen  nicht  erreichte,  das 
hat  „die  Wahl“,  d.  h.  das  haben  die  7000,  das  hat  jener 
durch  Gottes  Gnadenwahl  begründete  Rest  in  alter  und 
neuer  Zeit  —  das  hat  Gott  selbst  als  der  nach  seiner 
Gnade  Erwählende  tatsächlich  erreicht:  die  7000  erreich¬ 
ten,  indem  Gott  sie  suchte  und  fand  wie  jene  Heiden, 
die  Gerechtigkeit  vor  Gott,  d.  h.  aber  den  Stand  vor  Gott, 
der  Israels  Bestimmung  zum  Gotteskämpfer  entspricht 
und  Genüge  tut.  In  ihnen  wird  sichtbar,  daß  Gott  Israel 
liebte  und  zu  lieben  nicht  aufgehört  hat,  daß  jene  Be¬ 
rufung  der  Heiden  nur  als  Offenbarung  der  Tiefe  und 
Weite  der  Berufung  gerade  Israels  zu  verstehen  ist.  Israel 
bekommt  Recht  in  diesen  7000:  wohlgemerkt,  gerade 
Israel  genau  so  und  nicht  anders  wie  jene  Heiden  —  als 
das  Volk,  dem  Gott  offenbar  geworden,  ohne  daß  es  nach 
ihm  gefragt  hätte,  als  das  Volk  der  göttlichen  Gnaden¬ 
wahl.  Weil  Paulus  eben  daran  alles  liegt  —  weil  eben 
das  allein  die  Hoffnung  für  ganz  Israel  ist!  —  darum 
fährt  er  jetzt  in  scharfem  Kontrast  fort:  „Die  Übrigen 
aber  wurden  verstockt“  (v.  7b).  Nach  Vers  11  und 
allem,  was  dort  folgt,  kann  das  bestimmt  nicht  heißen: 
die  Übrigen  wurden  von  Gott  fallengelassen.  Es  heißt 
allerdings,  daß  es  in  und  unter  der  Geschichte  Israels,  die 
als  solche  eine  Heilsgeschichte  ist,  auch  immer  eine  Un¬ 
heilsgeschichte  gab  und  noch  gibt:  ein  göttliches  Ver¬ 
schließen  der  Menschen  für  Gottes  Verheißungen  und 
Wohltaten.  Wie  Gott  es  dem  ganzen  Israel  nicht  schuldig 
war,  gerade  es  zu  erwählen,  so  ist  er  es  auch  keinem 
Israeliten  schuldig,  ihn  zu  den  7000  zu  rufen  und  zu 
versammeln.  Kein  einziger  Israelit  hat  das  verdient.  In¬ 
dem  Gott  die  7000  ruft  und  sammelt,  beweist  er  seine 
Gnade  und  eben  damit  den  Grund  und  die  letzte  Ge- 


168 


wißheit  der  Erwählung  Israels,  zu  dem  auch  die  gehören, 
die  nicht  unter  den  7000  sind,  eben  damit  auch  ihre  Hoff¬ 
nung.  Er  beweist  es  aber  eben  damit,  daß  es  Unzählige 
gibt,  die  nicht  unter  den  7000  sind,  an  denen  er  die  Frei¬ 
heit  seiner  Gnade  damit  offenbart,  daß  er  sie  zu  jenem 
besonderen  Zeugnis  nicht  beruft.  Das  ist  das  „Verstocken“, 
von  dem  in  Vers  7b  die  Rede  ist.  Die  drei  in  Vers  8 — 10 
angeführten  Worte  des  Jesaia,  des  Mose  und  des  David 
sollen  nun  dazu  dienen,  deutlich  zu  machen,  wie  Paulus 
diesen  letzten  Satz  von  Vers  7  versteht  und  verstanden 
wissen  will:  „so  wie  geschrieben  steht“,  so  und  nicht 
anders!  Im  Licht  der  Schrift,  die  in  allen  ihren  Aussagen 
Weissagung  auf  Jesus  Christus  ist,  kann  der  Satz  von 
dem  göttlichen  Verstocken  dem  in  Vers  2  angeführten 
Psalmwort  offenbar  nicht  widersprechen,  beweist  vielmehr 
auch  er,  daß  Gott  sein  Volk  nicht  verstoßen  hat  und  be¬ 
weist  er  das  auch  zu  Gunsten  der  Übrigen  in  diesem 
Volk,  der  Verstockten,  der  disqualifizierten  Mehrheit  der 
Israeliten.  Denn  eben  das  sagen  doch  jene  alttestament- 
lichen  Worte  so  nachdrücklich,  daß  Gott,  der  Gott  Is¬ 
raels,  auch  an  diesen  Verstockten  handelt  —  sei  es  denn 
so,  sei  es  denn,  indem  er  ihnen  einen  „Geist  des  Tief¬ 
schlafs“  gibt  —  und  daß  er  als  dieser  Gott  auch  an  ihnen 
zu  handeln  nicht  aufhört.  Gottes  Tisch  (der  Inbegriff  aller 
göttlichen  Wohltaten!)  ist  und  bleibt  —  sei  es  denn,  wie 
jener  Felsen  in  Zion  Kap.  95  33  ihnen  zum  Verderben  — 
auch  in  ihrer  Mitte  aufgerichtet.  Gerade  davon  steht  in 
Vers  7 — 10  nichts  zu  lesen,  daß  Gott,  indem  er  hart  mit 
diesen  Übrigen  umgeht,  aufhören  würde,  jedenfalls  auch 
mit  ihnen  umzugehen!  Daß  Gott  verstocken  kann  und 
tatsächlich  verstockt,  das  sagen  freilich  alle  jene  alttesta- 
mentlichen  Texte.  Man  muß  sie  aber  nur  in  den  Zu¬ 
sammenhängen  lesen,  denen  sie  hier  entnommen  sind,  um 
sich  zu  überzeugen:  sie  sagen  es  alle  so,  daß  wie  der 
Ernst  so  auch  die  Grenzen,  so  auch  das  Ende  jener  Un- 


169 


heilsgeschichte  sichtbar  wird.  Kein  aufmerksamer  Leser 
des  Alten  Testamentes  —  und  an  solche  wendete  sich 
Paulus  —  konnte  gerade  bei  diesen  alttestamentlichen 
Sprüchen  im  Zweifel  darüber  sein,  daß  das  letzte  Wort 
über  die  von  Gott  Verstockten  damit,  daß  sie  Verstockte 
sind,  noch  nicht  gesagt  ist. 

Eben  das  wird  ja  nun  mit  der  Frage  in  Vers  11a:  „Sind 
sie  dazu  gestrauchelt,  damit  sie  zu  Falle  kämen?“  —  um  von 
Gott  fallengelassen  zu  werden?  —  und  mit  dem  Nein!,  mit 
dem  Paulus  darauf  antwortet,  unzweideutig  ausgesprochen. 
Hat  Paulus  in  Vers  7  von  den  Übrigen  gesagt,  daß  sie  ver¬ 
stockt  wurden,  so  hat  er  das  eben  so  gesagt,  „wie  geschrieben 
steht“,  wie  die  Schrift  es  sagt.  Er  will  damit,  das  erklärt 
er  jetzt,  unter  keinen  Umständen  gesagt  haben,  daß  Gott 
auch  nur  diese  „Übrigen“  seines  Volkes  verstoßen  hat. 
Was  wollte  und  was  will  er  mit  ihnen?  Es  sollte  (v.  11b) 
durch  ihre  Verfehlung  das  Heil  zu  den  Heiden  kommen. 
Nicht  die  7000  Erwählten,  sondern  gerade  die  Überzahl 
der  Verworfenen  in  Israel  haben  ja,  indem  sie  Jesus 
Christus  den  Heiden  auslieferten  zur  Kreuzigung,  die 
Türe  zu  den  Heiden  aufgestoßen,  die  Solidarität  der  Sün¬ 
de  aber  auch  die  der  Gnade  hergestellt  zwischen  Israel 
und  der  Heidenwelt.  Wie  denn  auch  Paulus  selbst  regel¬ 
mäßig  durch  seine  Abweisung  seitens  der  Synagoge  zu 
den  Heiden  geführt  wurde.  So  gehört  die  Unheilsgeschichte 
dieser  Ungehorsamen  in  einer  gerade  für  die  Heiden  ent¬ 
scheidenden  Weise  hinein  in  die  Heilsgeschichte.  Was  aber 
soll  mit  diesen  Ungehorsamen  selbst  geschehen?  Paulus 
antwortet:  Sie  sollen  eben  damit,  daß  das  Heil  zu  den 
Heiden  kommt,  zur  Eifersucht  gereizt  werden,  d.  h.  sie 
sollen  an  Gottes  eben  den  Unwissenden  und  Verlorenen 
da  daraußen  erwiesenem  Erbarmen  erkennen  lernen,  wer 
ihr  eigener  Gott  und  was  er  auch  und  zuerst  gerade  für 
sie  ist.  So  hat  Gott  es,  indem  er  sie  verstockte,  zuletzt 
gerade  auf  sie  abgesehen! 


170 


Man  lese  die  nun  folgenden  Verse,  um  sie  zu  verstehen, 
in  der  Reihenfolge:  Vers  13,  14,  12,  15!  Die  Christen  in 
Rom  kennen  Paulus  als  den  Heidenapostel  und  er  bekennt 
sich  gerade  hier  ausdrücklich  zu  diesem  seinem  besonderen 
Auftrag.  Aber  gerade  als  Heidenapostel  kann  er  „sein 
Fleisch<c  (d.  h.  seine  Verwandten  nach  dem  Fleisch  Kap.  9, 3), 
jene  Überzahl  der  dem  Evangelium  Widerstehenden  in  Is¬ 
rael,  unmöglich  links  liegen  lassen.  Gerade  die  Herrlichkeit 
seines  Amtes  als  Heidenapostel  besteht  vielmehr  darin, 
seine  Mitjuden  zur  Buße  zu  rufen.  Muß  er  das  Heil  zunächst 
von  jenen  weg  und  zu  den  Heiden  tragen,  so  kann  doch 
eben  das  letztlich  nur  bedeuten,  daß  er  es  den  Juden 
erst  recht  entgegenträgt.  Der  von  ihm  als  Heiland  der 
Welt  Verkündigte  ist  ja  als  solcher  nur  der  offenbarte 
Messias  Israels.  Dieser  Offenbarung  und  also  Israel  dient 
die  Heidenmission  (v.  13 — 14).  So  sind  die  Heiden  in  der 
Kirche  bloß  Mittel  zu  diesem  Zweck?  Nein,  das  auch 
nicht!  Denn  die  ganze  Kirche  Jesu  Christi  braucht  ja 
umgekehrt  die  Juden;  sie  braucht  ihren  Fehltritt:  eben 
er  ist  zum  Reichtum  für  die  Welt  geworden;  sie  braucht 
ihr  Fernbleiben:  eben  es  hat  die  Heiden  reich  gemacht 
(v.  12),  sie  braucht  ihre  Verwerfung:  eben  sie  war  das 
Mittel  zur  Versöhnung  der  Welt  (v.  15)  —  sie  braucht 
aber  noch  viel  mehr  ihr  vollzähliges  Eingehen  zum 
Glauben  an  ihren  Messias  (v.  12),  ihre  Hinzunahme  zu 
den  jetzt  schon  an  ihn  glaubenden  Heiden  und  Juden 
(v.  15).  Denn  dann,  wenn  es  dazu  kommt,  wird  das 
jetzt  auch  der  Kirche  noch  Verborgene  offenbar,  wird 
der  ihr  jetzt  erst  verheißene  größere  Reichtum  in 
ihre  Hände  gelegt  werden:  Dann  werden  die  Toten 
auferstehen  (v.  15),  dann  wird  es  sichtbar  und  greif¬ 
bar  werden,  daß  im  Tod  und  in  der  Auferstehung  Jesu 
Christi  das  Ende  und  der  Neuanfang  aller  Dinge  schon 
stattgefunden  hat,  das  Reich  Gottes  auf  einer  neuen 
Erde  und  unter  einem  neuen  Himmel  heimlich  schon  an- 


171 


gebrochen  ist.  Was  Israel  nach  Hesek.  37  verheißen  ist, 
das  wird  dann  an  der  Kirche,  ja  an  der  ganzen  Welt 
in  Erfüllung  gehen.  Aber  eben:  was  Israel  verheißen  ist 
—  und  darum  nicht  ohne  Israel  selbst,  nicht  ohne  sein  „voll¬ 
zähliges  Eingehen“  (v.  12),  nicht  ohne  die  Hinzunahme 
der  jetzt  Ungehorsamen  (v.  15).  Auf  dieses  Dann  wartet 
also  die  ganze  Kirche  und  kann  darum  nicht  unwillig 
sein,  ihrerseits  ganz  und  gar  dazu  dienen  zu  müssen:  die 
Juden  „eifersüchtig“  zu  machen,  nicht  unwillig,  in  ihrer 
Existenz  ein  einziger  Akt  von  Judenmission  zu  sein.  Ihre 
eigene  Hoffnung  steht  und  fällt  mit  der  Hoffnung  auf 
ganz  Israel.  Wie  sollte  sie  da  jener  Meinung  (v.  11)  sein 
können,  daß  Gott  die  Mehrzahl  der  Juden  dazu  verstockt 
habe,  um  sie  fallen  zu  lassen? 

Gegen  dieselbe  Meinung  wird  nun  in  Vers  16 — 18  der 
zweite  Grund  geltend  gemacht:  auch  diese  Juden  gehören 
nun  einmal  zu  dem  ursprünglichen  Werk  und  Eigentum 
Gottes,  aus  dem  die  ganze  Kirche  hervorgegangen  ist,  ohne 
das  es  auch  keine  Heiden  in  der  Kirche,  ohne  das  es  über¬ 
haupt  keine  Kirche  gäbe.  „Da  die  Wurzel  heilig  ist,  sind  es 
auch  die  Zweige“  (v.  16)  —  auch  diese  Zweige!  „Wenn  du 
dich  rühmen  willst,  so  bedenke,  daß  du  nicht  die  Wurzel 
trägst,  sondern  die  Wurzel  dich!“  (v.  18).  Die  Wurzel 
(das  Erstlingsbrot  v.  16)  ist  die  dem  Abraham  gegebene 
Verheißung  eines  Nachkommen,  durch  den  alle  Völker 
gesegnet  werden  sollen  und  die  in  Jesus  Christus  ge¬ 
schehene  Erfüllung  dieser  Verheißung.  Als  Vorfahren 
oder  Verwandte  dieses  Samens  Abrahams  sind  nun  alle 
Juden  als  solche  Zweige  aus  dieser  Wurzel  und  dar¬ 
um  heilig,  zum  Dienste  Gottes  bestimmt  wie  diese  Wur¬ 
zel  selber:  alle,  auch  die  verstockten,  auch  die  ungläu¬ 
bigen  Juden!  So  überhebe  sich  der  Heidenchrist  auf  kei¬ 
nen  Fall  seiner  Zugehörigkeit  zur  Kirche  zu  Ungunsten 
auch  nur  Eines  von  denen,  die  zu  Israel  gehören,  und 
wenn  dieser  Eine  Judas  Ischarioth  hieße!  Denn  immer 


172 


und  trotz  allem  ist  und  bleibt  jeder  Jude  als  solcher,  ist 
auch  Judas  Ischarioth  der  Heiligkeit  teilhaftig,  die  die 
keines  anderen  Volkes  sein  kann:  der  Heiligkeit  der  na¬ 
türlichen  Wurzel,  aus  der  Jesus  Christus  und  mit  ihm 
die  Kirche  hervorgegangen  ist.  Wohl  gibt  es  (v.  17)  abge¬ 
hauene  Zweige  aus  jener  Wurzel,  die  an  ihrem  Leben 
keinen  Anteil  mehr  haben:  das  sind  eben  jene  vielen 
Verstockten  aus  Israel  —  und  gibt  es  andererseits  lebende 
Zweige,  die,  einst  an  einem  wilden  Ölbaum  wachsend, 
dem  edlen  Ölbaum  Israel  jetzt  auf  gepfropft  wurden:  ein 
unmögliches  Gleichnis  für  den  in  der  Tat  unbegreiflichen 
Vorgang,  daß  jetzt  Heiden  an  die  Stelle  jener  Ungehor¬ 
samen,  in  den  vollen  Besitz  des  gerade  Israel  zugedachten 
Heils  getreten  sind.  Unbegreiflich  ist  beides:  die  Entfer¬ 
nung  jener  heiligen  und  die  Einpflanzung  dieser  unheili¬ 
gen  und  nun  durch  diese  Einpflanzung  geheiligten  Zwei¬ 
ge.  Was  haben  die  gläubigen  Heiden  vor  den  ungläubi¬ 
gen  Juden  voraus?  Nur  dies,  daß  die  heilige  Wurzel  nun 
eben  sie  trägt.  Sie  ist  und  bleibt  aber  die  Wurzel  Israels. 
Wie  könnten  die  Heidenchristen  gerade  das  haben  und 
vor  den  ungläubigen  Juden  voraus  haben,  ohne  die  Hei¬ 
ligkeit  der  sie  tragenden  Wurzel  auch  in  jenen  wieder  zu 
erkennen,  wie  David  auch  in  Saul  den  Erwählten  und 
Gesalbten  des  Herrn  zu  erkennen  und  zu  ehren  nicht 
aufgehört  hat?  Wer  Jesus  im  Glauben  hat,  der  kann  die 
Juden  nicht  nicht  haben  wollen.  Sonst  kann  er  auch  den 
Juden  Jesus  nicht  haben! 

Und  nun  wird  die  Feststellung  dieses  zweiten  Grun¬ 
des  gegen  alle  Überhebung  der  Gehorsamen  über  die 
Ungehorsamen  (v.  19 — 22)  ganz  von  selbst  zur  Mah¬ 
nung  an  die  Gehorsamen,  an  die  der  großen  Menge 
Israels  jetzt  so  wunderbar  vorgezogenen  Heiden  in  der 
Kirche.  Was  meint  ihr  eigentlich?  „Jene  Zweige  wurden 
abgehauen,  damit  ich  eingepfropft  werde“  (v.  19),  so 
redet  der  christliche  Antisemitismus  bis  auf  diesen  Tag: 


173 


die  Juden  haben  Christus  gekreuzigt;  so  sind  sie  nun 
Gottes  Volk  nicht  mehr;  so  sind  nun  wir  Christen  an 
ihre  Stelle  getreten.  „Sehr  schön!“  antwortet  Paulus 
in  Vers  20.  Er  hat  ja  in  Vers  17  scheinbar  ganz  das¬ 
selbe  gesagt.  Aber  gerade  antisemitisch  kann  das  unmög¬ 
lich  gesagt  werden.  Denn  eingepflanzt  werden  zur  Le¬ 
bensgemeinschaft  mit  jener  heiligen  Wurzel  heißt  glau¬ 
ben  und  glauben  heißt  an  den  auferstandenen  Jesus 
Christus  glauben,  in  welchem  sich  Gott  gegen  Israel  ge¬ 
rade  zu  Israel  bekannt  hat.  Daran  scheitern  die  Ungehor¬ 
samen,  die  Juden,  daß  sie  nicht  glauben.  Daran  müßten 
aber  sofort  und  erst  recht  auch  die  Gehorsamen,  auch  die 
Christen,  scheitern,  wenn  sie  etwa  nicht  mehr  glauben, 
an  den  auferstandenen  Jesus  Christus  glauben  würden. 
In  der  Auferstehung  Jesu  Christi  hat  Gott  nun  einmal 
wie  mit  der  Verwerfung  Jesu  Christi  durch  die  Juden,  so 
auch  mit  seiner  Verwerfung  der  Juden  Schluß  gemacht. 
Er  hat  dort  mit  der  jüdischen,  aber  eben  damit  mit  aller, 
auch  mit  jeder  christlidien  Überheblichkeit  zum  vornher¬ 
ein  aufgeräumt.  Wer  glaubt,  der  fürchtet  Gott  und  fügt 
sich  seiner  Entscheidung  (v.  21).  Wollten  die  Heiden¬ 
christen  sich  dem  ewigen  Juden  gegenüber  „versteigen  in 
ihren  Gedanken“,  dann  würden  sie  seinem  Schicksal  sofort 
selber  verfallen.  Sie  wären  dann  schlimmer  dran  als  er, 
weil  sie,  wenn  sie  nicht  glauben  und  also  wieder  ab¬ 
gehauen  würden,  im  Unterschied  zu  den  Juden  sofort 
alles  und  jedes  verlieren  würden.  Und  (v.  22)  Gott  hat 
dort  —  in  der  Auferstehung  Jesu  Christi  —  mit  seiner 
Strenge  ja  zugleich  seine  Güte  offenbart  und  Menschen 
aus  den  Heiden  haben  sie  sehen,  erkennen,  glauben  dür¬ 
fen  vor  den  Meisten  aus  Israel.  Gottes  Güte:  die  Güte 
des  Gottes  Israels!  Was  folgt  daraus?  Was  ist  damit  eben 
von  ihnen  verlangtPDaß  sie  bei  der  ihnen  offenbarten  Güte 
Gottes  bleiben.  Das  ist  ihr  Glaube.  Wie  sollten  sie  in 
diesem  Glauben  und  von  ihm  aus  zu  dem  Urteil  kom- 


174 


men,  daß  Gott  sein  Volk  Israel  verstoßen  und  fallen  ge¬ 
lassen  habe?  Sie  müßten  den  Glauben  verloren  haben. 
Sie  müßten  selbst  wieder  abgehauen  worden  sein,  wenn 
dieses  Urteil  das  ihrige  wäre.  Antisemitismus  ist  die  Sün¬ 
de  gegen  den  Heiligen  Geist:  das  ist  es,  was  Paulus  in 
Vers  19 — 22  faktisch  gesagt  hat.  Die  Gehorsamen  mögen 
Zusehen,  daß  sie  sidi  nicht  dieser  potenziertesten  Gestalt 
dieses  Ungehorsams  schuldig  machen! 

Und  nun  fängt  (v.  23)  mitten  in  der  fortgesetzten  An¬ 
wendung  des  Gleichnisses  vom  Ölbaum  und  seinen  Zweigen 
und  mitten  in  der  fortgehenden  Mahnung  an  die  Christen 
insofern  ein  neuer  und  letzter  Gedankengang  an,  als  Paulus 
jetzt  zum  erstenmal  positiv  ausspricht,  was  offenbar  durch 
dieses  ganze  Kapitel  hindurch  das  Ziel  seiner  Aussagen 
war:  „Auch  jene,  (die  Übrigen  in  Israel,  die  von  Gott 
Verstockten)  werden,  wenn  sie  nicht  im  Unglauben  ver¬ 
harren,  wieder  eingepropft  werdend  Wie  die  Güte  Gottes 
den  Vorbehalt  bedeutet  gegenüber  den  Gehorsamen,  so 
bedeutet  sie  die  Verheißung  den  Ungehorsamen  gegen¬ 
über:  sie  hat  die  Macht,  auch  sie  zu  öffnen,  wie  sie  sie 
verschlossen  hat.  Es  vermag  der  Ungehorsam  des  Men¬ 
schen  nicht,  Gott  gegenüber  ein  ewiges  Faktum  zu  schaf¬ 
fen.  Gott  bleibt  den  Ungehorsamen  gegenüber  frei,  wie 
er  auch  den  Gehorsamen  gegenüber  frei  bleibt.  Indem 
Paulus  denkt  an  das,  was  den  jetzt  zur  Kirche  versam¬ 
melten  Heiden  widerfahren  ist,  ist  es  ihm  unmöglich  ge¬ 
macht,  an  eine  ewige  Beharrungskraft  des  jüdischen  Un¬ 
glaubens  zu  glauben.  Wider  die  Natur  des  wilden  und 
des  edlen  Ölbaumes  ist  es  (v.  24)  dazu  gekommen,  daß 
Heiden  ihrer  hoffnungslosen  Entfremdung  dem  wahren 
Gott  gegenüber  entrissen  und  zum  Glauben  an  ihn,  den 
Gott  Israels,  berufen  wurden.  Schöpfung  hat  da  statt¬ 
gefunden.  Gnade  hat  da  gewaltet.  Indem  Paulus  Zeuge 
dieses  größeren  Wunders  ist,  ist  ihm  das  kleinere  selbst¬ 
verständlich:  daß  auch  das  von  Natur  dorthin  gehörige 


175 


Israel  dorthin  kommen  wird.  Man  vergesse  nicht,  daß 
Paulus  dabei  in  der  Gestalt  des  Synagogen-Juden  den 
wirklich  sündigen  und  verlorenen  Menschen  vor  Augen 
hat,  und  daß  ihm  nur  im  Glauben  an  die  in  der  Auf¬ 
erstehung  Jesu  Christi  offenbar  gewordene  allmächtige 
Güte  des  Gottes  Israels  solches  selbstverständlich  ist  im 
Blick  auf  diese  Menschen.  In  diesem  Glauben  ist  es  ihm 
nun  allerdings  selbstverständlich  und  will  er  es  auch  der 
auf  ihn  hörenden  Kirche  selbstverständlich  machen.  Das 
„Geheimnis<c,  von  dem  Paulus  in  Vers  25  redet,  besteht 
nach  der  klaren  Aussage  dieses  Verses  nicht  darin,  daß 
dieses  Selbstverständliche  einmal  geschehen  wird,  sondern 
darin,  daß  es  noch  nicht  geschehen  ist,  daß  Paulus  und 
mit  ihm  die  Kirche  noch  immer  mit  dem  Rätsel  zu  ringen 
hat,  daß  es  dem  Evangelium  gegenüber  auch  Ungehor¬ 
sam  gibt,  daß  gerade  der  potenzierte  Ungehorsam  der 
Juden  immer  noch  Wirklichkeit  ist.  Diesem  Geheimnis  ge¬ 
genüber  sollen  sich  die  Christen  nicht  für  weise  halten, 
indem  sie  das  allzu  nahe  liegende  Urteil  wagen,  daß  das 
ungehorsame  Israel  von  Gott  verstoßen  sei.  Was  sie  vor 
Augen  haben:  die  Verstockung  eines  großen  Teils  von 
Israel  ist  über  diesen  gekommen,  weil  zuerst ,  vor  diesen 
Israeliten,  die  Fülle  der  in  Jesus  Christus  erwählten,  zu 
Gliedern  an  seinem  Leib  bestimmten  Heiden  „eingehen“, 
d.  h.  zum  Glauben  und  in  die  Kirche  berufen  werden 
und  kommen,  weil  die  Letzten  die  Ersten,  die  Ersten  die 
Letzten  sein  sollten.  Was  sie  vor  Augen  haben,  ist  also 
kein  skandalöser  Zufall,  sondern  Gottes  Ordnung.  „So 
(auf  diesem  Wege)  wird  ganz  Israel  gerettet  werden“ 
(v.  26a),  weil  diese  Errettung  so  und  nur  so  als  Akt  des 
göttlichen  Erbarmens  stattfinden  kann,  durch  den  die 
Niedrigen  erhöht  und  die  Hohen  erniedrigt  werden.  Dies, 
sagt  Vers  27  nach  Jer.  31,  ist  seine  (Gottes)  letztwillige 
Verfügung  über  sie  (Gottes  Volk),  die  bei  der  Vergebung 
der  Sünden  in  Anwendung  kommt  —  dies  nämlich 


176 


(v.  26b):  „Es  wird  aus  Zion  ein  Erretter  kommen  und 
wird  die  Gottlosigkeiten  von  Jakob  wegnehmen“.  Die 
Letzten  werden  die  Ersten  sein,  weil  der  Erretter  sich 
gerade  der  Verlorenen  annehmen  wird.  Die  Ersten  wer¬ 
den  die  Letzten  sein,  weil  eben  das,  was  der  Erretter  tut, 
alle  die,  an  denen  er  es  tut,  als  Verlorene  kennzeichnet. 
Das  ist  in  Jesus  Christus  Gottes  Vorgehen  gegenüber  dem 
ganzen  (aus  Juden  und  Heiden  versammelten)  Israel: 
darum  müssen  die  Heiden  nach  dieser  Ordnung  voran¬ 
gehen,  die  Juden  nachfolgen.  Gottes  Erbarmen  muß  und 
will  an  ganz  Israel  offenbart  werden.  Darum  ist  das  Ge¬ 
heimnis,  das  dem  Christen  jetzt  vor  Augen  steht,  die 
Existenz  der  Ungehorsamen,  der  Stillstand,  das  Aufgehal¬ 
tensein  der  Synagoge,  ein  göttliches,  ein  anbetungswürdiges 
und  nicht  ein  skandalöses  Geheimnis.  Von  demselben  Er¬ 
barmen,  das  hier  die  Verworfenen  als  Gottes  Erwählte 
offenbarte,  leben  dort  die  Erwählten,  deren  Erwählung 
jetzt  noch  unter  ihrer  Verwerfung  verborgen  ist.  Es  bleibt 
bei  ihrer  Erwählung  (v.  28),  „denn  unbereubar  (also  un¬ 
widerruflich)  sind  die  Gnadengaben  und  ist  die  Berufung 
Gottes“  (v.  29).  Wir  denken  bei  diesem  Satz  an  Kap.  9,  6: 
„Das  Wort  Gottes  kann  nicht  hinfällig  werden“.  Gottes 
Wort,  das  an  Israel  ergangen  ist,  hat  Anteil  an  Gottes 
Unveränderlichkeit.  Und  so  sind  Gottes  Gerichtsentschei¬ 
dungen  und  Gnadenmaßnahmen  wohl  unerforschlich  und 
unbegreiflich  (v.  33),  weil  Gott  in  seinem  Erbarmen  kei¬ 
nen  Ratgeber  neben  sich  und  keinen  Richter  über  sich  hat 
(v.  34),  weil  mit  ihm  niemand  auf  Geben  und  Nehmen 
verkehren  kann  (v.  35),  weil  alles,  was  geschieht,  aus 
ihm,  durch  ihn,  zu  ihm  hin  geschieht  (v.  36).  Aber  was 
dieser  Lobpreis  der  göttlichen  Souveränität  bedeutet,  das 
wird  in  Vers  30 — 32  eindeutig  erklärt.  Eben  Gottes  Er¬ 
barmen  ist  das  Souveräne,  das  Unerforschliche  und  Un¬ 
begreifliche  in  Gott,  dem  der  Mensch,  drehe  er  sich,  wie 
er  wolle,  zuletzt  unterworfen  ist.  Untreue  und  Unzuver- 


177 


lässigkeit  ist  also  nicht  in  Gott  und  so  auch  nicht  in  seinem 
Wort,  nicht  in  der  in  Jesus  Christus  vollzogenen  Ver¬ 
söhnung  und  Offenbarung.  Wer  sich  aber  zu  diesem  sei¬ 
nem  Wort  bekennt,  wie  es  die  Christen  tun,  der  bekennt 
sich  eben  damit  notwendig  zu  Gottes  Treue  gegenüber 
seinem  Volk  Israel.  Und  wer  auf  dieses  Wort  seine  Hoff¬ 
nung  setzt,  dessen  Hoffnung  ist  eben  damit  Hoffnung  für 
die  Zukunft  des  Volkes  Israel.  Kann  Gott  an  sich  selbst 
irre  werden?  Oder  die  Kirche  an  seinem  Wort?  Wenn  sie 
das  nicht  kann,  dann  auch  nicht  an  der  Hoffnung  für 
Israel.  Damit  ist  begründet  (v.  28b):  die  Christen  haben 
in  den  ungläubigen  Juden,  in  diesen  abgeschnittenen,  aber 
heiligen  Zweigen  aus  der  heiligen  Wurzel,  Gottes  Ge¬ 
liebte  —  um  dieser  Wurzel,  um  der  den  Vätern  wider¬ 
fahrenen  Erwählung  und  Berufung  willen  von  Gott  Ge¬ 
liebte  zu  sehen.  Das  ist  das  letzte  Wort  über  sie,  während 
das  andere,  das  sie  in  ihrem  Verhältnis  zum  Evangelium 
—  nach  Vers  11 — 22  ja  gerade  „um  euretwillen“!  — 
Feinde,  Gott  Verhaßte,  sind,  nur  ein  vorletztes  Wort  sein 
kann,  auf  das  die  Christen  weder  sich  selbst  noch  die  Ju¬ 
den  festlegen  sollten.  Es  sind  miteinander  (v.  30 — 32)  die 
Kirche  und  die  Synagoge,  die  Gehorsamen  und  die  Un¬ 
gehorsamen,  auf  denselben  Trost  angewiesen.  Am  Anfang 
steht  überall  der  menschliche  Ungehorsam.  Nicht  ihrem 
Gehorsam  verdanken  die  Heidenchristen  (v.  30a)  ihren 
Vorsprung.  Was  hinter  ihnen  liegt,  ist  vielmehr  grauen¬ 
hafter,  durch  keine  Verheißung  und  kein  Gesetz  gebän¬ 
digter  natürlicher  Ungehorsam.  Und  nun  heißt  es  auch 
nicht,  daß  sie  dann  gehorsam  geworden  seien,  sondern 
daß  sie  dann  Erbarmen  gefunden  hätten.  Nicht  sie  ka¬ 
men  nach  Zion,  sondern  der  Erretter  aus  Zion  (v.  26) 
kam  zu  ihnen,  und  zwar  durch  den  Ungehorsam  der  Ju¬ 
den,  ohne  den  sie  nicht  wären,  was  sie  sind.  Wie  sollten 
sie  nun  von  anderswoher  als  von  da  aus  in  ihre  eigene 
Zukunft  und  in  die  der  Juden  blicken?  In  der  Tat:  vom 


178 


Ungehorsam  kommen  auch  diese  her  (v.  31)  und  in  dem 
grauenhaften  unnatürlichen  Ungehorsam  der  bundesbrü¬ 
chigen  Bundesgenossen  Gottes  stehen  sie  noch  heute.  Aber 
wohin  kann  sie  das  gerade  nach  dem  Urteil  der  Heiden¬ 
christen  allein  führen  als  dazu,  „daß  auch  sie  Erbarmen 
finden“,  daß  auch  sie  des  Heils,  das  durch  sie  zu  den 
Heiden  gekommen  ist,  selber  teilhaftig  werden  dürfen. 
Und  nun  muß  und  wird  auch  hier  ein  Werkzeug  zur 
Anwendung  kommen.  Wieder  ist  aber  nicht  vom  Gehor¬ 
sam  der  Heidenchristen,  sondern  von  dem  ihnen  wider¬ 
fahrenen  Erbarmen  Gottes  die  Rede.  Indem  die  Heiden¬ 
christen  da  sind  als  solche,  deren  Gott  sich  erbarmt  hat, 
ist  auch  die  Aktion  des  Erbarmens  Gottes  den  Juden  ge¬ 
genüber  schon  eröffnet  und  in  Gang  gebracht.  Die  zweite 
Satzhälfte  von  Vers  31  lautet  nämlich:  „. . .  damit  in  Folge 
der  Barmherzigkeit  gegen  euch  jetzt  auch  sie  Barmherzig¬ 
keit  erlangen“  und  das  bedeutet,  daß  es  den  Christen 
nicht  etwa  erlaubt  ist,  ihre  dementsprechende  Stellung 
zur  Judenfrage  auf  den  Jüngsten  Tag  zu  verschieben,  son¬ 
dern  daß  sie  heute,  jetzt  dafür  verantwortlich  sind,  daß 
durch  die  ihnen  widerfahrene  Barmherzigkeit  auch  jene, 
die  Juden,  Barmherzigkeit  erlangen.  Es  sind  (v.  32)  Jesus 
Christus  gegenüber  alle  beieinander,  verschlossen  unter 
den  Ungehorsam;  unter  einen  natürlichen  Ungehorsam  die 
Heiden,  unter  einen  unnatürlichen  die  Juden  —  alle  von 
Gott  in  dasselbe  verdiente  Gefängnis  verschlossen.  Und 
wieder  in  Jesus  Christus  hat  Gott  alle  dazu  bestimmt, 
seines  Erbarmens  teilhaftig  und  also  frei  zu  sein.  Das  ist 
die  Erkenntnis,  in  der  die  heute  Gehorsamen  zu  den 
heute  Ungehorsamen  hinüberblicken,  in  der  sie  an  ihre 
Zukunft  denken  sollen.  So  antwortet  das  Evangelium 
selbst  seinen  Verächtern,  denn  so  antwortet  Jesus  Chri¬ 
stus  denen,  die  ihn  verworfen  haben.  Jede  andere  Ant¬ 
wort  könnte  nur  eine  unevangelische,  eine  unchristliche 
Antwort  sein. 


179 


12,  1  —  15,  13 


Das  Evangelium  unter  den  Christen"') 


„Das  Evangelium  in  der  Kirche“,  so  könnten  wir  diesen 
letzten  sachlichen  Hauptteil  des  Römerbriefes  auch  über¬ 
schreiben,  oder  im  Rückblick  auf  den  Inhalt  der  voran¬ 
gehenden  Kap.  9 — 11:  „Das  Evangelium  und  die  ihm 
Gehorsamen“. 

„Ich  ermahne  euch“,  so  fängt  Paulus  sofort  in  Vers  1 
an.  Man  bemerke  den  Unterschied:  Wenn  er  seinen  Blick 
auf  die  dem  Evangelium  Ungehorsamen  richtet,  dann 
verschwindet  alle  Anrede  an  diese  Menschen  fast  gänz¬ 
lich  hinter  dem  Lob  und  Preis  des  Weges  und  Werkes 
Gottes.  Blickt  er  aber  zurück  auf  die  Kirche,  denkt  er 
an  die  Christen  als  die  dem  Evangelium  Gehorsamen, 
dann  tritt  umgekehrt  —  wir  haben  das  bereits  in  Kap. 
11,  16  f.  vorübergehend  feststellen  können  —  sofort 
die  Anrede,  die  Mahnung  an  diese  Menschen  schlechter¬ 
dings  in  den  Vordergrund.  Weil  der  Gehorsam  gegen  das 
Evangelium  nach  Kap.  8,  28  f.  und  nach  allem,  was  in 
Kap.  9 — 11  gesagt  wurde,  auf  der  freien  erwählenden 
Gnade  Gottes  beruht,  darum  sind  gerade  die  dem  Evan¬ 
gelium  Gehorsamen  der  Ermahnung  bedürftig.  Sie  haben 
ihren  Gehosam  offenbar  nicht  in  der  Tasche,  sondern  er 
muß  immer  wieder  geleistet  und  vollzogen  werden.  Sie 
dürfen  und  müssen  von  und  mit  der  Gnade  Gottes  leben. 
Im  Blick  darauf  ist  das  Evangelium  —  oder  vielmehr  die 
unmittelbare  Konsequenz  des  Evangeliums  immer  auch 

*)  Vgl.  zu  diesen  Kapiteln  KD  II,  2,  S.  794  f,  802  f,  814  f. 


180 


Mahnung:  nicht  an  die  Ungehorsamen,  sondern  gerade  an 
die  Gehorsamen  gerichtet.  Die  Gnade  selbst  und  als  solche 
ist  für  die,  denen  sie  durch  das  Evangelium  offenbar 
und  zuteil  geworden,  die  unüberhörbare  Mahnung,  daß 
sie  von  ihr  nicht  weichen,  daß  sie  sie  jederzeit  und 
überall  und  in  jeder  Hinsicht  als  die  ihr  Leben  beherr¬ 
schende  Macht  gelten  lassen  sollen.  Im  Hören  dieser 
Mahnung  existiert  die  ganze  Kirche.  Im  Hören  dieser 
Mahnung  konstituiert  sich  auch  im  Einzelnen  das,  was 
wir  das  christliche  Leben  nennen.  So  ist  das  christliche 
Leben,  über  dessen  Gestalt  Paulus  in  Kap.  12—15  der 
römischen  Gemeinde  Einiges  geschrieben  hat,  nicht  eine 
zweite  Sache  neben  dem  christlichen  Glauben,  neben  dem 
Gehorsam  gegen  das  Evangelium,  sondern  schlicht  dessen 
Vollzug  durch  den  Menschen,  schlicht  die  fortlaufende 
menschliche  Bestätigung  und  Anzeige,  daß  er  nicht  nur 
einmal,  sondern  wieder  und  wieder  glaubt,  nicht  nur  mit 
einem  seiner  Gedanken,  sondern  mit  allen,  nicht  nur  mit 
seinen  Gedanken,  sondern  mit  seiner  ganzen  Person,  nicht 
nur  in  dieser  und  jener,  sondern  in  jeder  Beziehung  sei¬ 
ner  Existenz.  Im  christlichen  Leben  wird  es  fortlaufend 
wahr,  daß  er,  der  Mensch ,  durch  Gottes  Gnade  glauben 
und  damit  dem  Evangelium  gehorsam  sein  darf.  Wie 
würde  er  christlich  glauben,  wenn  er  nicht  christlich 
leben  würde?  Daß  das  nicht  möglich  ist,  das  sagt  die 
apostolische  Mahnung.  Sie  sagt  dem  Gehorsamen,  daß  er 
sich  mit  seinem  Gehorsam  an  den  Ort  begeben  hat,  wo 
er  nicht  anders  kann,  als  wieder  und  wieder  gehorsam 
sein. 

Der  griechische  Ausdruck  für  „mahnen“  ist  reicher,  als 
es  in  diesem  deutschen  Wort  zum  Ausdruck  kommt.  Er 
sagt  zugleich:  „trösten“.  Damit  tröstet  Paulus  die  Chri¬ 
sten  in  ihrem  Leben  in  der  Zeit  und  in  der  Welt,  daß  er 
sie  mahnt ,  d.  h.  daß  er  sie  im  Glauben  bestärkt,  zu  neu¬ 
em  Glauben,  zum  Leben  im  Glauben  sie  aufruft.  Und 


181 


damit  ermahnt  er  sie,  daß  er  sie  tröstet.  „Durch  die 
Barmherzigkeit  (wörtlich  durch  die  Erbarmungen)  Got¬ 
tes“  —  dieser  Zusatz  weist  uns  in  dieselbe  Richtung  des 
Verständnisses:  nicht  an  die  Vernunft,  Einsicht,  Güte  und 
Freiheit  des  Menschen  wird  mit  dieser  Mahnung  apelliert; 
auch  nicht  eine  Art  menschlicher  Vergeltung  der  gött¬ 
lichen  Wohltaten  wird  mit  ihr  gefordert,  sondern  schlicht 
dies:  daß  sie  die  Mensdien  seien,  denen  Gottes  Erbar¬ 
men  widerfahren  ist.  Von  dorther  sind  sie  ermahnt,  von 
dorther  will  Paulus  auch  sein  apostolisches  Ermahnen  ge¬ 
hört  und  verstanden  wissen.  Man  beachte,  wie  damit  der 
letzte  starke  Ton  von  Kap.  11  (v.  30  f.)  neu  aufgenom¬ 
men  wird:  das  christliche  Leben  als  das  Leben  des  christ¬ 
lichen  Glaubens  ist  das  Leben  derer,  die  von  einer  Vier¬ 
telstunde  zur  anderen  durch  Gottes  Barmherzigkeit  und 
sonst  durch  nichts  gehalten  sind. 

Aus  diesem  Ursprung  der  Mahnung  ergibt  sich  nun  so¬ 
fort  die  erste  Zusammenfassung  ihres  Inhaltes.  Die  Christen 
sind  durch  Gottes  Barmherzigkeit,  von  der  sie  allein  leben, 
gemahnt,  ihre  Leiber  —  ihre  ganze  Person  ohne  Vorbehalt 
irgend  eines  ihrer  Elemente,  irgend  einer  ihrer  Funktionen 
—  zu  einem  lebendigen,  heiligen,  gottwohlgefälligen  Opfer 
darzubieten,  d.  h.  nicht  mehr,  aber  auch  nicht  weniger  als 
sich  selbst  —  ungefragt,  wer  oder  was  sie  seien  —  dem 
zur  Verfügung  zu  stellen,  der  sie  in  seinem  Erbarmen 
für  dessen  würdig  hält,  ihm  zu  gehören,  dessen  Wohl¬ 
gefallen  es  ist,  sie  für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen  und 
sie,  ihre  ganze  Person,  als  Gabe  an  ihn  entgegenzuneh¬ 
men.  Man  merke:  daß  dies  geschehen  darf ,  daß  Gott  von 
sich  aus  etwas  findet  an  diesen  Menschen,  daß  er  bereit 
ist,  sie  für  sich  zu  haben  —  diese  Güte  Gottes  ist  die 
Kraft  der  Forderung,  die  hier  in  seinem  Namen  erhoben 
wird.  Darum  wird  die  Erfüllung  dieser  Forderung  durch 
die  Christen  als  „euer  vernunftgemäßer  (wörtlich:  logi¬ 
scher)  Gottesdienst“  bezeichnet.  Es  ist  nichts  als  logisch, 


182 


nichts  als  folgerichtig:  das  Leben  dessen,  dem  Gottes 
Barmherzigkeit  widerfahren  ist,  ist  als  solches  ein  zur  Da¬ 
hingabe  an  ihn  bestimmtes  Leben.  Und  daß  diese  Bestim¬ 
mung  vollzogen  wird,  das  ist  nichts  als  euer  gelebter 
Glaube,  das  ist  euer,  der  Christen  selbstverständlicher 
Gottesdienst.  Aber  das  Wort  von  der  Vernunftgemäßheit 
oder  Logik  dieses  Gottesdienstes  weist  bestimmt  noch  in 
eine  andere  Richtung:  Christen  sind  ja  solche,  die  im 
Opfertode  Jesu  Christi  der  Barmherzigkeit  Gottes  teil¬ 
haftig  geworden  sind.  So  ist  ihr  Leben  bestimmt  zu  einem 
Zeugnis  von  diesem  seinem  Opfertod  und  so  selber  zu 
einem  Gott  darzubringenden  Lebensopfer,  das  freilich  als 
solches  zu  ihrer  in  Jesus  Christus  geschehenen  Versöh¬ 
nung  nichts  beitragen  und  hinzufügen  kann,  das  aber 
als  bestätigende  Nachbildung,  als  dankbare  Anerkennung 
eben  dessen,  was  ihnen  in  Jesus  Christus  widerfahren 
ist,  unmöglich  ausbleiben  kann. 

Von  da  aus  versteht  man  Vers  2:  Die  Christen  leben  zwar 
in  der  Welt  und  in  der  Zeit,  aber  durch  Gottes  Barmherzig¬ 
keit  ist  es  ihnen  unmöglich  gemacht,  sich  deren  Gestalt  und 
Charakter  anzupassen  und  anzugleichen,  ihrem  Leben  aufs 
neue  die  Gestalt  und  den  Charakter  dieser  Welt  zu  geben. 
Das  ist  ihnen  damit  unmöglich  gemacht,  daß  sie  diese  Welt 
kraft  ihres  Anteils  an  der  Auferstehung  Jesu  Christi 
schon  hinter  sich  gelassen  haben.  Ihr  Anteil  an  der  Auf¬ 
erstehung  Jesu  Christi  besteht  ja  in  einer  ihnen  wider¬ 
fahrenen  Verwandlung:  in  einer  Erneuerung  ihres  Den¬ 
kens  nämlich,  die  sie  nötigt  und  auch  befähigt,  mitten 
im  Weltlauf,  dem  auch  sie  verfallen  sind,  zwischen  dem 
Gesetz  dieses  Weltlaufs  und  dem  Willen  Gottes,  zwischen 
dem  göttlich  und  damit  wahrhaft  Guten,  Wohlgefälligen 
und  Vollkommenen  und  den  natürlichen  Ergebnissen  des 
Weltprozesses  zu  unterscheiden  und  als  die,  die  Gott  ge¬ 
opfert  und  gehörig  sind,  in  ihrem  Leben  nicht  eine  Wieder¬ 
holung  der  Gestalt  und  des  Charakters  dieser  Welt  dar- 


183 


zustellen,  sondern  ein  Zeichen  des  Willens  Gottes,  ein 
Zeichen  der  Ordnung  seiner  kommenden  neuen  Welt  auf¬ 
zurichten.  Das  ist  der  Weg,  auf  den  sie  durch  die  Barm¬ 
herzigkeit  Gottes,  als  die  um  Jesu  Christi  willen  Gott 
zum  Opfer  Dargebrachten  gestellt  sind,  daß  sie  diesen 
Weg  gehen  sollen  —  darum  sollen,  weil  sie  es  dürfen  — , 
das  ist  die  Mahnung,  die  nun  im  Folgenden  in  einigen 
Punkten  erläutert  werden  soll. 

Von  einem  eigentlichen  Gedankengang  und  also  von 
einer  Disposition  läßt  sich  in  diesen  Kapiteln  im  Ganzen 
nicht  reden.  Sie  unterscheiden  sich  darin  von  den  elf  ersten 
Kapiteln  des  Briefes,  daß  der  Weg  der  Untersuchung 
und  Abhandlung  hier  aufgegeben,  daß  an  seine  Stelle 
hier  so  etwas  wie  eine  Querfeldeinwanderung  getreten 
ist,  bei  der  das  Prinzip  der  Auswahl  und  der  Reihenfolge 
der  besprochenen  oder  auch  nur  berührten  Gegenstände 
für  uns  nicht  mehr  auszumachen  ist.  Man  kann  wohl 
teilweise  (etwa  bei  der  Stelle  über  die  Staatsgewalt  Kap. 
13,  1 — 7)  oder  bei  dem  großen  Schlußteil  über  die  Star¬ 
ken  und  Schwachen  im  Glauben  (Kap.  14,  1  —  15,  13) 
annehmen,  daß  Paulus  sich  auf  Nachrichten  bezieht,  die 
er  aus  der  römischen  Gemeinde  erhalten  hat  und  die 
ihm  gerade  diese  besonderen  Mahnungen  nahelegten. 
Alles  übrige  ist  ihm  wohl  im  Blick  auf  das  christliche 
Leben  anderer  Gemeinden  in  Griechenland  und  Klein¬ 
asien  auch  hier  in  die  Feder  gekommen.  Eine  systemati¬ 
sche  Darlegung,  so  etwas  wie  eine  christliche  Ethik,  darf 
man  also  hier  nicht  einmal  in  den  Umrissen  zu  finden  er¬ 
warten.  Haben  wir  es  zuerst  in  Kap.  12,  3 — 8  dann 
wieder  in  Kap.  13,  1 — 7,  dann  wieder  in  Kap.  13,  8 — 10 
und  Kap.  13,  11 — 14  und  im  Schlußteil  in  Kap.  14,  1  f . 
mit  in  sich  geschlossenen  und  gegliederten  Einzelzusam¬ 
menhängen  zu  tun,  so  ist  die  Stelle  Kap.  12,  9 — 21  eine 
Reihe  von  Zurufen,  die  man  nur  künstlich  auf  den  Nenner 
eines  beherrschenden  Gedankens  bringen  könnte;  und  eben- 


184 


so  steht  es  mit  dem  Ganzen  dieser  Kapitel:  es  ist  wohl  ein 
lebensmäßiges,  sicher  und  sichtbar  von  der  Grundmah¬ 
nung  in  Kap.  12,  1 — 2  her  beherrschtes,  es  ist  aber  nicht 
ein  von  einem  bestimmten  Begriff  her  gegliedertes  Ganzes. 
Es  redet,  wie  es  bei  einer  wirklichen  Mahnung  der  Fall 
sein  muß,  je  in  seinen  Einzelheiten,  und  so  muß  es  auch  — 
immer  von  jenem  Ansatzpunkt  in  Kap.  12,  1 — 2  her  und 
natürlich  im  Zusammenhang  mit  der  ihm  zugrundeliegen¬ 
den  Verkündigung  des  Evangeliums  —  verstanden  wer¬ 
den. 

Die  Mahnung  richtet  sich  zuerst  (Kap.  12,  3 — 8)  an 
den  Christen  als  Glied  der  christlichen  Gemeinde.  Der 
Wille  Gottes,  den  er  hier  nach  Vers  2  erkennen,  dem  er 
sich  hier  im  Unterschied  zu  der  Gestalt  dieser  Welt  unter¬ 
ordnen  soll,  besteht  darin,  daß  er  sein  Leben  in  der  Ge¬ 
meinde  als  einen  Dienst  verstehe  und  vollstrecke,  der  da¬ 
durch  geordnet  ist,  daß  die  eine  der  Gemeinde  als  solche 
zugewendete  Gnade  die  Gestalt  vieler,  nicht  getrennter 
und  konkurrierender,  aber  verschiedener  und  eben  in  ihrer 
Verschiedenheit  zusammengehöriger  und  zusammenklin¬ 
gender  Gaben  hat,  wobei  der  Glaube,  der  die  Gnade  als 
solche  und  als  besondere  Gabe  ergreift,  gleichzeitig  (als 
christlicher  Glaube)  jedem  Einzelnen  seine  mit  allen  ande¬ 
ren  gemeinsame  Bestimmung  und  (als  sein  christlicher 
Glaube)  jedem  Einzelnen  seine  Grenze  anweist.  Der  Ge¬ 
stalt  dieser  Welt  entsprechend  müßte  es  auch  in  der  Ge¬ 
meinde  so  zugehen,  wie  in  Vers  3  warnend  beschrieben 
ist:  es  müßte  und  würde  ein  Jeder  im  Vertrauen  auf 
die  Gewalt  und  das  Recht  seiner  persönlichen  Vitalität  ins 
Grenzenlose  schweifen.  Der  Apostel  aber,  in  Wahrneh¬ 
mung  seines  Amtes,  das  er  selber  durch  die  Gnade  hat, 
um  eben  die  Gnade  als  die  in  der  Gemeinde  gültige  Ge¬ 
walt  und  Rechtsordnung  zu  verkündigen,  heißt  einen 
Jeden  die  geschehene  Erneuerung  seines  Denkens  darin 
fruchtbar  machen,  daß  er  auf  nichts  anderes  als  genau 


185 


auf  das  sich  ausrichte,  was  „sich  geziemt“,  daß  er  darauf 
sinne,  besonnen  zu  sein,  was  dann  sofort  damit  erklärt 
wird:  daß  er  den  ihm  von  Gott  bestimmten  Lauf  seines 
christlichen  Glaubens  antrete  und  vollende  (v.  3).  Damit 
lebt  er  in  der  Gemeinde,  in  welcher  jeder  Einzelne  als 
Glied  des  einen  Leibes  damit  in  der  Fülle  des  Ganzen 
lebt,  daß  er  seiner  besonderen,  nicht  von  ihm  ausgesuch¬ 
ten  und  bestimmten,  sondern  ihm  zugewiesenen  Stellung 
und  Funktion  getreu  ist  (v.  4 — 5).  Die  Gnade  selbst  ist 
ungeteilt  eine  und  dieselbe  für  alle;  ihre  Gaben  aber  sind 
verschiedene:  nicht  nach  der  Verschiedenheit  der  mensch¬ 
lichen  Anlagen,  Temperamente  und  Tendenzen,  sondern 
nach  der  Verschiedenheit  des  Willens  Gottes,  dem  ein  Jeder 
in  seinem  Glauben  Gehorsam  zu  leisten,  den  ein  Jeder 
zu  erfüllen,  an  den  aber  auch  ein  Jeder  —  gerade  im 
Gegensatz  zu  der  gnadenlosen  Grenzenlosigkeit  der  Vita¬ 
lität  des  natürlichen  Menschen  —  sich  zu  halten  hat,  wenn 
er  der  ihn  allein  haltenden  göttlichen  Barmherzigkeit 
nicht  verlustig  gehen  will.  (v.  6)  Innerhalb  dieses  Maßes 
kann  nun  aber  die  Mahnung,  wie  der  Schluß  (v.  6 — 8) 
zeigt,  nur  dahin  lauten,  daß  ein  Jeder  gerade  das,  was 
ihm  durch  den  Willen  Gottes  gegeben  und  aufgetragen  ist, 
ausschöpfe,  auslebe,  auswirke,  genau  wie  es  ihm  eben  ge¬ 
geben  und  aufgetragen  ist.  Eben  sein  Gehorsam  sei  nun 
auch  rücksichtslos  seine  Freiheit!  Eben  die  Fülle  des 
Ganzen  sei  nun  auch  seine  persönliche  Fülle!  Die  einzelne 
Bezeichnung  der  Gnadengaben  verhindert  nämlich  hier 
wie  1.  Kor.  12  zum  vornherein  den  Mißbrauch,  der  an¬ 
gesichts  dieser  positiven  Seite  der  Mahnung  drohen  könnte: 
Es  handelt  sich  ja  nicht  um  individuelle  Veranlagungen, 
Neigungen  und  Lüste:  es  handelt  sich  um  das  propheti¬ 
sche  Wort,  um  den  Liebesdienst,  um  die  Lehre,  um  die 
Ermahnung,  um  das  Schenken,  um  das  Regieren,  um 
die  Barmherzigkeit  —  um  alles  das,  mit  dem  die  Ge¬ 
meinde,  mit  dem  also  auch  die  Einzelnen  in  der  Gemeinde 


186 


nicht  sich  selbst  und  nicht  den  Menschen  in  der  Gemeinde 
noch  denen  in  der  Welt,  auch  nicht  der  Gemeinde  als 
solcher,  wohl  aber  Gott  in  der  Gemeinde  und  so  Gott  in 
der  Welt  zu  dienen,  mit  dem  sie  sein  Licht  auf  den 
Leuchter  zu  stellen  haben,  damit  es  scheine  in  der  Fin¬ 
sternis.  Das  sind  die  Gaben  der  Gnade.  Und  weil  sie  das 
sind,  kann  die  Mahnung  nur  dahin  lauten,  daß  man  sie 
nehmen  und  brauchen  soll.  Die  Besonnenheit,  von  der 
zuerst  die  Rede  war,  kann  da  nicht  verloren  gehen,  sie 
muß  und  wird  —  im  Gegensatz  zu  aller  weltlich  klugen 
Zurückhaltung  —  eben  da  zu  Ehren  kommen,  wo  es  dar¬ 
um  geht,  diese ,  die  offenkundig  zu  diesem  Zweck  bestimm¬ 
ten  Gaben  (in  der  Einheit  der  Gnade,  die  sie  alle  dar¬ 
stellen)  wirklich  rücksichtslos  auszuschöpfen,  auszuleben, 
auszuwirken.  Es  wäre  Unbesonnenheit,  wenn  irgend  je¬ 
mand  das  nicht  tun  würde! 

Wir  kommen  nun  zu  jener  Reihe  loser  aneinander  ge¬ 
reihter  einzelner  Weisungen  (Kap.  12,  9 — 21)  —  es  han¬ 
delt  sich  im  Griechischen  von  Vers  9 — 17  um  eine  fast 
ununterbrochene  Reihe  von  lauter  Partizipialsätzen  — ,  bei 
denen  sichtlich  das  Leben  des  einzelnen  Christen  als  sol¬ 
chen  in  seinem  Zusammenleben  mit  anderen  einzelnen 
Menschen  zunächst  innerhalb,  dann  aber  auch  außerhalb 
der  Gemeinde  ins  Auge  gefaßt  wird.  Wie  lebt  man  in 
diesem  Zusammenleben  als  ein  Gott  Geopferter  (v.  1), 
nach  Maßgabe  der  geschehenen  Erneuerung  des  Denkens, 
in  der  Unterscheidung  des  Willens  Gottes  von  der  Gestalt 
dieser  Welt  (v.  2)?  Das  ist  die  Frage,  auf  die  auch  hier 
geantwortet  wird.  Daß  es  sich  um  Auslegungen  jener 
Grundmahnung  handelt,  wird  man  also  auch  hier  zum 
Verständnis  jedes  einzelnen  dieser  Worte  nicht  aus  den 
Augen  lassen  dürfen.  Wir  können  sie  nur  streifen. 

Christliche  Liebe  den  anderen  Menschen  gegenüber,  wie 
sie  zunächst  innerhalb  der  Gemeinde  zugleich  erlaubt  und 
geboten  ist,  ist  dann  „ungeheuchelt“  und  also  aufrichtig, 


187 


wenn  sie  die  Bezeugung  unserer  Erkenntnis  ist,  daß  Gott 
uns  in  dem  Menschen  Jesus  zuerst  geliebt  hat.  Sie  kann 
und  muß  diesen  anderen  Menschen  gegenüber  ebenso  in 
der  Verneinung  des  Bösen  wie  in  der  Bejahung  des  Gu¬ 
ten,  ebenso  in  Ablehnung  wie  in  Zustimmung,  sie  muß 
auf  alle  Fälle  in  unterscheidender  Weisheit  geschehen 
(v.  9).  Sie  muß  aber,  da  es  ja  in  der  Gemeinde  um  den 
gemeinsamen  Auftrag,  um  den  Dienst  an  der  gemein¬ 
samen  Sache  geht,  in  jener  Innigkeit,  d.  h.  in  jenem  Zu¬ 
getansein  geschehen,  in  welchem  man  weder  sich  selbst 
noch  den  Anderen,  sondern  in  Brüderlichkeit  mit  dem 
Anderen  zusammen  den  gemeinsamen  Herrn  meint  und 
sucht  und  in  dem  man  gerade  darum  die  Ehre  gerne 
dem  Anderen  als  dem  stellvertretenden  Darsteller  dieses 
Herrn  lassen  wird  (v.  10).  Der  Eifer  darf  nicht  nach- 
lassen,  das  Feuer  nicht  erlöschen,  der  Dienst  nidit  ab¬ 
brechen,  die  Hoffnung  nicht  unfreudig,  die  Haltung  in 
der  Bedrängnis  nicht  unbeständig,  das  Gebet  nicht  stok- 
kend,  die  Bedürfnisse  der  Heiligen,  d.  h.  des  dem  Dienst 
des  Herrn  zugewendeten  Lebens  der  Gemeinde,  dürfen 
nicht  vernachlässigt  werden  (v.  11 — 13).  So,  mit  dem 
Allem,  in  Gestalt  dieses  völligen  und  pausenlosen  Inan¬ 
spruchgenommenseins  liebt  man  einander  in  der  Ge¬ 
meinde.  So  ist  man  hier  ein  Gott  Geopferter  im  Zusam¬ 
menleben  mit  den  anderen  Menschen.  Diesen  Sinn  und 
diese  Kraft  hat  die  Liebe  als  christliche  Liebe.  Sie  hat 
den  Sinn  und  die  Kraft,  den  Ernst  und  die  Freiheit, 
die  Unendlichkeit  und  die  Grenzen  höchster  Sachlichkeit. 
Sie  kann  in  Sentimentalität  sicher  nicht  ausarten.  Sie  kann 
aber  auch  nicht  müde,  nicht  pervertiert  werden  in  Gleich¬ 
gültigkeit,  Abneigung  und  Zersplitterung.  Sie  nimmt  alle 
Leidenschaft  in  Anspruch  und  sie  hat  Dauer,  Autorität 
und  Macht,  weil  sie  selbst  keine  Leidenschaft  ist.  Was  sie 
bewegt  und  trägt,  ist  ja  die  Gnade  und  nicht  die  Natur, 
der  Auftrag  der  Gemeinde  und  nicht  das  persönliche  Be- 


188 


diirfnis,  die  Furcht  Gottes  und  nicht  der  Respekt  vor  den 
Menschen  —  oder  umgekehrt:  die  Natur,  die  durch  die 
Gnade  gefangen  genommen,  das  persönliche  Bedürfnis, 
das  in  den  Dienst  der  Gemeinde  gestellt,  der  Respekt  vor 
den  Menschen,  der  durch  die  Furcht  Gottes  begründet 
und  bedingt  ist.  Paulus  wird  nachher  (Kap.  13,  8  f.)  noch 
einmal  auf  diese  Sache  zurückkommen. 

Aber  nun  lebt  ja  der  Christ  nidit  nur  innerhalb  der  Ge¬ 
meinde,  sondern  auch  außerhalb,  in  der  Welt:  eben  in  jener 
Welt,  deren  Gestalt  er  sich  nicht  mehr  anpassen  kann!  Eben 
in  diese  Welt  hinein  ist  ja  die  Gemeinde  gestellt;  eben  für 
sie  lebt  sie  ja  ihr  scheinbares  Sonderleben.  So  wird  alles  dar¬ 
auf  ankommen,  daß  sie  es  —  indem  sie  ihren  Protest  gegen 
ihre  Gestalt  erhebt  und  durchführt  —  wirklich  für  sie 
und  nicht  gegen  sie  lebe.  Daß  sie  also  und  daß  jeder 
einzelne  Christ  in  ihr  auf  die  ihr  widerfahrende  und  ihn 
persönlich  treffende  Verfolgung  nicht  mit  Fluchen  —  als 
stünde  hier  eine  Partei  gegen  eine  andere  — ,  sondern  mit 
Segnen  antworte!  (v.  14).  Dies  ist  es  ja,  was  Jesus  Chri¬ 
stus  an  jedem  Christen  „da  wir  noch  Feinde  waren“  (Kap. 
5,  10)  zuerst  getan  hat.  Dieses  ihm  Widerfahrene  ist  es, 
was  er  als  Christ  gerade  denen,  die  ihm  als  Feinde  be¬ 
gegnen,  zu  bezeugen  hat.  Er  gehe  gerade  nicht  seiner 
Wege  —  das  wäre  nicht  aus  der  Erneuerung  seines  Den¬ 
kens,  das  wäre  allzu  weltlich  gedacht  und  gehandelt, 
wenn  er  sich  vor  der  Welt  flüchten  wollte.  Wie  könnte  er 
dann  segnen?  Stoischer  Verzicht  auf  das  Mitleben  mit  den 
Menschen  in  der  Welt  ist  nun  einmal  noch  nie  das  dem 
Christen  befohlene  Segnen  gewesen.  Segnen  kann  er  nur, 
indem  er  auf  die  ihm  widerfahrende  Verfolgung  damit 
antwortet,  daß  er  erst  recht  mit  den  Menschen  in  der 
Welt  lebt,  mit  ihnen  sich  freut,  mit  ihnen  weint,  mit  ihnen 
ein  Mensch  ist  (v.  15).  Um  nun  doch  eben  als  solcher  in 
Mitfreude  und  Mittrauer  eine  ganz  bestimmte,  nämlich 
die  durch  die  Einheit  der  Gemeinde  und  ihren  Auftrag 


189 


bestimmte  Linie  verfolgen,  welche  darin  bestehen  wird, 
daß  er  den  eigentümlichen  Zug  und  Trieb  in  die  Höhe, 
den  Drang  nach  Gottähnlichkeit,  der  für  die  Welt,  die 
das  Evangelium  noch  nicht  gehört  hat,  charakteristisch  ist, 
nicht  mitmacht,  sondern  immer  da  zu  finden  sein  wird, 
wo  ihn  selbst  Gottes  Gnade  in  Jesus  Christus  gefunden 
hat,  nämlich  in  der  Niedrigkeit  dessen,  der  seiner  eige¬ 
nen  Klugheit  und  Macht  für  Zeit  und  Ewigkeit  nichts 
zu  verdanken  sich  bewußt  ist,  in  der  Niedrigkeit  dessen, 
der  wo  er  auch  stehe:  in  Freude  oder  in  Trauer,  in  Er¬ 
folg  oder  in  Mißerfolg,  mit  der  Mehrheit  oder  mit  der 
Minderheit  gehen,  ein  Angenommener,  ein  von  Gott  auf 
seinen  Weg  und  zu  seinem  Werk  Zugelassener  ist.  Im¬ 
mer  da  wird  der  Christ  zu  finden  sein,  wo  es  zum  Be¬ 
kenntnis  der  Menschlichkeit  des  Menschen  im  Gegensatz 
zu  aller  Gottähnlichkeit  kommt  (v.  16).  Er  wird  auf  dieser 
Linie  bestimmt  nicht  Böses  mit  Bösem  vergelten,  sondern 
vor  den  Augen  aller  Menschen  —  ob  sie  es  sehen  oder 
nicht  —  für  das  göttlich  Gute  einstehen.  Denn  das  gött¬ 
lich  Gute  ist  immer  (und  ist  auch  nie  umsonst)  bei  denen, 
die  Gott  durch  seinen  Geist  zu  Armen,  zu  schlechterdings 
Bedürftigen  gemacht  hat  (v.  17).  Eben  in  dieser  seiner 
echten  Bedürftigkeit  vor  Gott  wird  der  Christ  dann  auch 
ein  lebendiges,  ein  schlechterdings  aufrichtiges  Friedens¬ 
angebot  an  alle  Menschen  —  der  Träger  des  an  sie  ge¬ 
richteten  göttlichen  Friedensangebotes  —  sein  (v.  18). 
Wenn  sie  es  aber  nicht  annehmen?  Und  sie  werden  es  ja 
gewiß  trotz  allem  nicht  alle  annehmen!  Nicht  Alle?  Wie¬ 
viele,  wie  wenige  werden  es  annehmen?  Soll  er  nun  doch 
als  Partei  gegen  Partei  wider  sie  Vorgehen?  Gleiches  mit 
Gleichem  vergelten?  Mindestens  damit,  daß  er  sie  nun 
dennoch  fallen  läßt,  daß  er  endlich  und  zuletzt,  ein  Bild 
des  göttlichen  Zornes,  doch  von  ihnen  weg  und  seiner  Wege 
geht?  Paulus  sagt  in  Vers  19 — 21  in  aller  Deutlichkeit, 
daß  eine  andere  Vergeltung  als  die  des  Bösen  mit  dem 


190 


Guten,  als  die  Verstärkung  also  jener  Teilnahme,  von 
der  in  Vers  15  die  Rede  war,  für  den  Christen  nicht  in 
Betracht  komme.  Er  müßte  ja  selbst  die  Gnade  fahren 
lassen,  die  ihm  zuteil  geworden,  wenn  er  statt  ihrer  auf 
einmal  den  Zorn  und  die  Rache  Gottes  bezeugen  wollte. 
Den  Zorn  und  die  Rache  Gottes  zu  bezeugen  ist  —  mit 
Vorbehalt  des  besonderen  Auftrags,  von  dem  nachher 
die  Rede  sein  wird  —  Gottes  Sache  ganz  allein.  Es  ist 
der  Auftrag  der  Gemeinde  und  so  der  Auftrag  jedes  ein¬ 
zelnen  Christen  bestimmt  der,  Gleiches  gerade  mit  Un¬ 
gleichem  zu  vergelten  und  also  den  Feind,  den  Menschen, 
der  das  Friedensangebot  nicht  annimmt,  damit  zu  be¬ 
kämpfen  und  zu  überwinden,  daß  er  ihn  als  Feind  ein¬ 
fach  nicht  gelten  läßt,  daß  er  ihn  seiner  Feindschaft  zum 
Trotz  erst  recht  nicht  als  Feind  sich  so  weit  ausleben 
läßt,  daß  er  ihm  wiederum  zum  Feinde  würde.  Er  wird 
ihn  vielmehr  damit  aus  dem  Felde  schlagen,  damit  „feu¬ 
rige  Kohlen  auf  seinen  Kopf  häufen“,  daß  er  auch  ihn 
als  einen  Bedürftigen,  als  einen  Hungernden  und  Dür¬ 
stenden  behandelt  und  also  speist  und  tränkt,  statt  ihn, 
den  Armen,  als  vermeintlicher  Exekutor  des  göttlichen 
Gerichtes  etwa  noch  ärmer  zu  machen.  Und  das  alles  eben 
—  wie  sehr  hat  hier  Nietzsche  die  Konsequenz  des  Evan¬ 
geliums  mißverstanden!  —  nicht  etwa  in  Schwachheit, 
sondern  in  Kraft,  nicht  aus  Minderwertigkeitsgefühl,  son¬ 
dern  in  königlicher  Überlegenheit,  nicht  nachgiebig,  son¬ 
dern  gerade  damit  echten  Widerstand  leistend,  eben  damit 
die  siegreiche  Schlacht  schlagend:  gerade  damit  beweisend, 
daß  er,  der  Christ,  vom  Bösen  nicht  überwunden,  son¬ 
dern  in  der  Lage  ist,  das  Böse  mit  dem  Guten  zu  über¬ 
winden. 

Von  dieser  Grundregel  des  Verhältnisses  des  Christen 
zur  Welt  machen  nun  auch  die  folgenden  berühmten 
Verse  über  die  Staatsgewalt  (Kap.  13,  1 — 7)  keine  Aus¬ 
nahme.  Sie  sagen  einmal,  daß  niemand  von  der  Befolgung 


191 


jener  Regel  die  Entstehung  eines  allgemeinen  Chaos  zu 
befürchten  oder  zu  erhoffen  hat.  Wie  Gott  und  indem  Gott 
die  christliche  Gemeinde  mit  jenem  Auftrag,  das  Böse  durch 
das  Gute  zu  überwinden  und  ganz  allein  mit  der  Gewalt 
und  dem  Recht  ihrer  Bedürftigkeit,  ihres  Lebens  von  sei¬ 
nem  Erbarmen,  in  die  Welt  hineingestiftet  hat  als  sein  Frie¬ 
densangebot  an  alle  Menschen  —  so  hat  er  in  der  Welt  selbst 
eine  Ordnung  aufgerichtet,  durch  deren  Existenz  und 
Handhabung  dafür  gesorgt  ist,  daß  auch  sein  Zorn  und 
seine  Rache  (Kap.  12,  19)  allen  Menschen  gegenüber  zur 
Bezeugung  komme,  daß  also  das  Böse  und  die  Bösen  auch 
abgesehen  von  dem  ihnen  durch  die  Gemeinde  übermittel¬ 
ten  Friedensangebot,  auch  da,  wo  das  Evangelium  noch 
nicht  oder  nicht  mehr  Gehorsam  findet,  in  ihre  Schran¬ 
ken  gewiesen  sind,  ihren  freien  Lauf  nicht  nehmen  kön¬ 
nen.  Und  diese  Verse  sagen  zum  anderen,  daß  die  Chri¬ 
sten  sich  in  diese  Ordnung  fügen  und  einordnen  und 
zwar  von  Gewissens  wegen,  also  frei  und  von  sich  aus 
fügen  und  einordnen  sollen,  daß  ihr  „vernünftiger  Got¬ 
tesdienst“  (v.  2)  auch  diese  Gestalt:  die  Gestalt  des  politi¬ 
schen  Gottesdienstes  (vgl.  v.  4,  5,  6)  haben  muß.  —  Die 
„Gewalten“,  von  denen  in  Kap.  13,  1  f.  die  Rede  ist,  sind 
tatsächlich  das,  was  wir  die  Staatsgewalt  nennen.  Die 
Übersetzung  „Obrigkeit“  hat  darum  viel  Verwirrung  an¬ 
gerichtet,  weil  man  dabei  allzu  einseitig  nur  an  die  exe¬ 
kutiv  regierende  Staatsgewalt  und  zu  wenig  an  die  bei 
dieser  Sache  so  oder  so  unvermeidliche  aktive  Beteiligung 
auch  der  jeweils  Regierten  gedacht  hat.  Das  Wort  ist  das¬ 
selbe,  das  in  Matth.  28,  18  gebraucht  wird:  „Mir  ist 
gegeben  alle  Gewalt  im  Himmel  und  auf  Erden“  —  das¬ 
selbe  Wort,  das  im  Neuen  Testament  zur  Bezeichnung 
einer  bestimmten  Gruppe  von  Engelmächten  verwendet 
wird.  Wir  können  schon  daraus  entnehmen,  daß  Paulus 
von  einer  von  der  Gewalt  Jesu  Christi  unabhängigen, 
von  einer  „naturrechtlich“  begründeten  Gewalt  hier  nicht 


192 


hat  reden  wollen.  Kein  Wort  verrät  uns,  daß  Paulus  in 
diesen  Versen  plötzlich  nicht  mehr  „auf  Grund  der  Barm¬ 
herzigkeit  Gottesc<  (v.  12,  1)  ermahnen,  daß  er  hier  nicht 
mehr  die  Christen  als  solche  und  also  auf  ihren  Gehor¬ 
sam  gegen  Jesus  Christus  anreden  würde.  Indem  Jesus 
Christus  das  Haupt  seines  Leibes,  der  Gemeinde,  ist,  ist 
er  nach  Kol.  1,  1 6  f .  auch  der,  durch  den  und  auf  den 
hin  alles  geschaffen  ist:  alle  „Throne,  Herrschaften, 
Mächte  und  Gewalten“.  Eben  das  gilt  auch  von  der 
Staatsgewalt.  Sie  gehört  zwar  nicht  zur  Kirche,  wohl  aber 
mit  der  Kirche  zum  Reiche  Christi.  Eben  darum  hat  sich 
Jedermann  —  Jedermann  gerade  in  der  Gemeinde  —  der 
Staatsgewalt  zu  fügen  und  einzuordnen  (v.  1).  Von  Ein¬ 
ordnung  ist  die  Rede  und  nicht  von  einer  blinden  Unter¬ 
werfung,  einer  Sache,  die  es  in  der  Bibel  —  man  kann 
ruhig  sagen:  überhaupt  nicht  gibt.  Wo  solche  Staatsgewalt 
ist,  da  ist  sie  von  Gott  eingesetzt:  in  dem,  worin  sie 
Staatsgewalt  ist  natürlich  —  nicht  etwa  in  dem,  worin  sie 
sich  vielleicht  als  deren  Gegenteil,  als  Revolution,  als 
Anarchie,  gebärdet  und  ausweist  —  so  daß  wer  sich  ihr 
entziehen,  ihr  sich  entgegensetzen  wollte,  der  Anordnung 
Gottes  selbst  widerstehen  würde  (v.  2).  Die  im  Namen 
und  in  der  Vollmacht  solcher  von  Gott  eingesetzter  Staats¬ 
gewalt  Regierenden  können  für  die,  die  das  Gute  tun,  für 
die  Christen  also,  kein  Gegenstand  der  Furcht,  keine 
Fremden  sein,  denen  gegenüber  sie  nur  Distanz  zu  wah¬ 
ren  hätten.  Das  sind  sie  für  die  Bösen:  gerade  für  jene 
also,  denen  die  Christen  bis  jetzt  scheinbar  erfolglos  ihr 
Friedensangebot  gemacht  haben.  Ihnen  ist  damit,  daß  es 
eine  Staatsgewalt  gibt,  gewehrt  —  sie  sind  durch  sie  ge¬ 
warnt,  daß  sie  es  allzu  weit  jedenfalls  nicht  treiben  möch¬ 
ten  auf  ihrer  bösen  Linie.  Wogegen  sich  der  Christ  als 
Täter  des  Guten,  als  der  Träger  ihrer  Botschaft  vom  Sieg 
des  Guten,  vor  ihr  und  vor  den  sie  vertretenden  Personen 
bestimmt  nicht  zu  fürchten,  nicht  zu  distanzieren  hat,  in 


193 


deren  Funktion  er  vielmehr  geradezu  die  Erfüllung  eines 
Gottesdienstes  dankbar  anerkennen  wird.  Fürchten  und 
distanzieren  müßte  er  sich  in  dieser  Sache  nur,  wenn  er 
die  ihn  haltende  Gnade  loslassen,  der  Gestalt  dieser  Welt 
sich  anpassen  und  damit  selber  das  Böse  tun  würde  (v.  3 
bis  4).  Die  Staatsgewalt  ist  nämlich  tatsächlich  Gewalt:  sie 
führt  das  Schwert  und  sie  führt  es  nicht  umsonst,  nicht 
zum  Schein  und  da,  wo  sie  von  Gott  eingesetzt  ist,  auch 
nicht  aufs  geratewohl,  sondern  tatsächlich  gegen  die  Bö¬ 
sen:  sie  ist  also  an  sich  wohl  geeignet,  Furcht  zu  erregen, 
zu  Fluchtgedanken  anzuregen.  Was  sie  zu  bezeugen  hat, 
ist  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  Gottes  Zorngericht 
über  den,  der  das  Böse  tut:  wie  sollte  also  nicht  Jeder¬ 
mann,  auch  der  Christ,  erschrecken  können  vor  diesem 
Zeugnis.  Wollte  und  würde  er  das  Böse  tun  —  und 
was  sonst  als  Gottes  Gnade  hindert  ihn  daran?  —  so 
würde  auch  er  hier  nur  erschrecken  können:  erschrecken 
als  vor  der  Anzeige  des  ewigen  Gerichtes  in  der  Gestalt 
des  irdischen  Richters  (v.  4).  Aber  eben  weil  er  durch 
Gottes  Gnade  gehalten  ist,  kann  und  muß  er  sich  hier 
ohne  Furcht  fügen  und  einordnen:  nicht  nur  aus  jener 
Furcht,  wie  es  die  Anderen  tun,  sondern  gerade  er  um 
des  Gewissens,  um  der  Erkenntnis  Gottes  und  seiner 
Herrschaft  willen,  weil  er  weiß  und  will,  daß  Gott  auch 
durch  die  Begründung  und  Aufrechterhaltung  dieser  Ord¬ 
nung  gepriesen  wird,  daß  er  auch  in  den  Vertretern  dieser 
Ordnung  —  gleichgültig  ob  sie  glauben  oder  nicht  —  fak¬ 
tisch  seine  Diener  hat,  weil  das  Reich  Christi  und  seine  hei¬ 
ligende  Gewalt  außerhalb  der  Gemeinde  auch  diese  Ge¬ 
stalt  hat  (v.  5).  Sich  fügen  und  einordnen  heißt  aber:  aktiv 
tun,  was  zur  Aufrechterhaltung  und  Durchführung  dieser 
Ordnung  nötig  ist  als  Leistung  an  Steuer  und  Zoll,  an 
Respekt  und  Ehre  (v.  6 — 7).  Sich  fügen  und  einordnen 
heißt  also:  in  praktischen  Entscheidungen  seine  Verant¬ 
wortlichkeit  auch  in  dieser  Sache  bewähren,  heißt  auch 


194 


in  dieser  Sache:  drinnen  und  nicht  draußen  sein.  Die 
Christen  sind  hier  unter  der  Ordnung  Gottes  —  des 
einen  Gottes  —  wie  sie  es  in  der  Gemeinde  sind.  Sie 
sollen  es  als  die  Gott  Geopferten  an  beiden  Orten  ganz 
sein:  anders  hier  als  dort,  aber  an  beiden  Orten  ganz 
und  auch  hier  darum,  weil  sie  es  dürfen,  auch  hier  gerade 
darum,  weil  sie  von  der  Gnade  Gottes  gehalten  und  ge¬ 
tragen  sind. 

In  dem  Abschnitt  Kap.  13,  8 — 10  kehrt  Paulus  mit 
deutlicher  Unterstreichung  zu  dem  Thema  und  Gedan¬ 
ken  von  Kap.  12,  9 — 13  zurück.  Der  Satz  in  Vers  8  ist 
nicht  so  einfach,  wie  er  auf  den  ersten  Blick  aussieht. 
Heißt  es  doch  nicht:  „Seid  niemandem  etwas  schuldig,  als 
daß  ihr  ihn  liebt !“  sondern:  „Seid  niemandem  etwas 
schuldig,  außer  dem,  daß  ihr  euch  unter  einander  liebt!“ 
Paulus  sagt  also:  Dies  sei  der  Inbegriff  alles  dessen,  was 
die  Christen  der  Welt  schuldig  sind:  daß  sie  sidi  unter¬ 
einander  liebten!  Das  wäre  eine  unerträgliche  Aussage, 
wenn  der  Begriff  der  christlichen  Liebe  (Kap.  12,  9 — 13) 
nicht  bereits  dahin  erklärt  wäre,  daß  die  Liebe  der  Chri¬ 
sten  unter  einander,  ja  in  jenem  gemeinsamen  Einstehen 
für  die  Sache  der  Gemeinde,  die  die  Sache  ihres  Herrn 
und  so  eine  für  die  ganze  Welt  wichtige  und  heilsame  Sache 
ist,  ihren  Grund  und  ihre  Kraft  hat.  Daß  dieses  gemein¬ 
same  Einstehen  Ereignis  werde  und  bleibe,  darauf  kommt 
hinsichtlich  der  Aufgabe  des  Christen  der  Welt  gegen¬ 
über,  hinsichtlich  seines  „Segnens“,  seiner  Mitfreude  und 
Mittrauer,  seines  Eintretens  für  das  Gute  unter  allen 
Umständen,  seiner  Beteiligung  an  der  Staatsgewalt  alles 
an.  Es  hängt  alles  daran,  daß  die  Kirche  in  dem  allen 
Kirche  ist  und  bleibt.  Sie  ist  und  bleibt  es  aber,  indem 
jenes  Lieben  unter  den  Christen  in  seiner  ganzen  Tiefe 
und  Radikalität,  mit  seinem  ganzen  Wohl-  und  Wehtun, 
in  seiner  ganzen  leidenschaftslosen  Leidenschaftlichkeit  le¬ 
bendig  ist.  In  dieser  Liebe  erbaut  sich  die  Kirche.  Mit 


195 


ihr  leistet  sie,  was  sie  der  Welt  schuldig  ist.  Mit  diesem 
Lieben  erfüllt  sie  das  Gesetz  in  allen  seinen  Geboten; 
denn  mit  diesem  Lieben  befindet  sie  sich  in  der  Nachfolge 
dessen,  der  das  Gesetz  ein  für  allemal  erfüllt  hat.  In  ihm 
betätigt  sie  ihren  Glauben,  in  ihm  betätigt  ihn  jeder 
einzelne  Christ.  Ist  er  nur  ein  Liebender  in  jener  höch¬ 
sten  Sachlichkeit,  dann  gibt  er  dem  Nächsten,  jedem  Näch¬ 
sten,  was  er  ihm  schuldig  ist;  dann  wird  er  ihm  sicher 
nichts  Böses,  sondern  bestimmt  alles  Gute  erweisen. 

Der  Abschnitt  in  Kap.  13,  11 — 14  ist  gewissermaßen 
die  Wiederholung  und  Erklärung  der  grundsätzlichen 
Worte  in  Kap.  12,  1 — 2.  Die  Christen  müssen  als  solche 
immer  wieder  und  in  jeder  Hinsicht  realisieren,  daß  die 
Gestalt  dieser  Welt  als  ihre  Gestalt  nicht  mehr  in  Be¬ 
tracht  kommen  kann.  Sie  kann  das  darum  nicht,  weil  sie, 
die  Christen,  „die  Zeit  verstehen“.  Sie  verstehen  nämlich 
mit  jeder  weiteren  Stunde  besser,  daß  sie  in  der  Wende 
der  Zeit  stehen  und  daß  sie  sich  danach  zu  richten  haben. 
„Die  Nacht  ist  vorgerückt,  der  Tag  aber  ist  nahe  herbei¬ 
gekommen“  (v.  12).  Diese  Wende  der  Zeit  ist  geschehen: 
wie  sollten  sie  das  nicht  wissen,  indem  sie  gläubig  ge¬ 
worden  sind?  Eben  diese  Wende  geht  nun  aber  auch  un¬ 
aufhaltsam  weiter;  sie  ist  das  Zeichen,  unter  das  alle 
menschliche  Geschichte  von  dem  Ereignis  von  Golgatha  an 
so  gestellt  ist,  daß  es  immer  sichbarer  werden  muß:  wie 
sollten  wir  das  nicht  beachten,  indem  wir  heute  wieder 
glauben,  was  wir  gestern  geglaubt  haben?  Wie  sollten 
wir  es  heute  nicht  noch  viel  mehr  als  gestern  beachten? 
Wie  sollten  wir  das  anders  als  tätig  beachten?  Wie  anders 
als  damit,  daß  wir  vom  Schlaf  aufstehen,  das  Schlafge¬ 
wand  (v.  13  beschrieben!)  auszichen  und  für  den  kom¬ 
menden,  immer  näher  kommenden  Tag  uns  anziehen  und 
ausrüsten  —  mit  den  Waffen  des  Lichtes,  mit  dem  Herrn 
Jesus  Christus  selber?  Daß  die  Christen  die  Wende  der 
Zeit,  wie  sie  schon  geschehen  ist  und  noch  geschieht,  be- 


196 


achten  —  in  der  Tat  beachten,  das  ist  es,  was  aus  der 
ihnen  widerfahrenen  Erneuerung  ihres  Denkens  mit  Not¬ 
wendigkeit  folgt,  das  die  Mahnung,  die  gerade  sie,  die 
Gehorsamen,  nicht  genug  hören  können. 

Der  Zusammenhang  in  Kap.  14,  1 — 15,  13,  mit  dem 
die  apostolische  Mahnung  an  die  Christen  und  damit  die 
sachliche  Belehrung  des  Römberbriefes  zum  Abschluß 
kommt,  hebt  sich  von  dem  in  Kap.  12 — 13  Vorangehenden 
schon  dadurch  deutlich  ab,  daß  jetzt  die  ausführliche  Be¬ 
handlung  einer  bestimmten  Lebensfrage  an  die  Stelle  der 
vielen  allgemeinen  und  einzelnen  Weisungen  tritt,  die  dort 
das  Bild  beherrschen.  Aber  etwas  Anderes  ist  noch  wich¬ 
tiger:  In  Kap.  12 — 13  war  vom  Gehorsam  gegen  das  Evan¬ 
gelium  die  Rede,  sofern  er  unterschiedslos  von  der  gan¬ 
zen  Kirche,  von  jedem  Christen  als  solchem  zu  erwarten 
und  gefordert  ist:  Ohne  die  Beteiligung  am  Dienst  der 
Gemeinde,  ohne  das  Leben  in  der  Liebe,  in  welchem  diese 
begründet  ist  und  stetig  erneuert  wird,  ohne  ein  Segen 
zu  sein  inmitten  der  feindseligen  Außenwelt,  ohne  die 
Übernahme  politischer  Verantwortlichkeit,  ohne  das  zu¬ 
nehmende  Zurückbleiben  und  Abfallen  der  Bindungen 
eines  im  Tod  und  in  der  Auferstehung  Christi  schon 
entmächtigten  Menschenwesens  könnte  und  würde  nie¬ 
mand  ein  Christ  sein,  so  gewiß  das  alles  aus  der  mit 
dem  Empfang  des  Evangeliums  Ereignis  gewordenen  Sin¬ 
neserneuerung  (Kap.  12,  2),  mit  dem  in  der  Taufe  voll¬ 
zogenen  Anziehen  des  Herrn  Jesus  Christus  (Kap.  13, 
14)  folgt:  nicht  nur  folgen  kann  oder  folgen  muß,  sondern 
notwendig  und  tatsächlich  folgt.  Es  folgt  aber  nach  Kap. 
14 — 15  aus  jener  Sinneserneuerung  oder  aus  der  Taufe 
weder  notwendig  noch  tatsächlich  dies,  daß  dieser  Gehor¬ 
sam  aller  Christen  (der  Gehorsam  jedes  Christen,  ohne 
den  keiner  ein  Christ  sein  könnte  und  wäre)  in  allen 
und  jeden  dieselbe  menschlidie  Gestalt  hat.  Wir  hörten 
in  Kap.  12,  3 — 8  bereits  von  der  Verschiedenheit  der  Ga- 


197 


ben  der  einen  Gnade.  Aber  eben  weil  es  sich  dort  um  die 
Gaben  der  Gnade  handelte,  konnte  die  Mahnung  dort  in 
Kap.  12,  6f.  dodi  nur  dahin  lauten:  es  möge  ein  Jeder 
von  der  nun  gerade  ihm  gegebenen  Gabe  den  vollen  rück¬ 
sichtslosen  Gebrauch  machen,  der  ihrer  Natur  entspricht, 
um  eben  damit  das  Leben  eines  Gliedes  des  einen  heiligen 
Leibes  Jesu  Christi  zu  leben  —  ein  Jeder  an  seinem  Ort 
und  auf  seiner  Bahn  selber  das  Ganze  und  eben  darum 
und  so  sicher  in  Besonnenheit.  Die  Verschiedenheit,  von 
der  in  Kap.  14 — 15  die  Rede  ist,  hat  mit  der  Verschieden¬ 
heit  der  Gaben  nichts  zu  tun.  Hier  handelt  es  sich  viel¬ 
mehr  um  das  verschiedene  Empfangen  der  einen  Gnade, 
um  die  menschlich  bedingte  Verschiedenheit  in  der  Ge¬ 
stalt  des  von  Allen  geforderten  Gehorsams.  Es  gibt 
„Schwache  im  Glauben“  (Kap.  14,  1),  denen  „Starke“ 
gegenüberstehen  (Kap.  15,  1).  Man  bemerke,  daß  Paulus 
nicht  etwa  eine  Begründung  und  Rechtfertigung  dieser 
Verschiedenheit  gibt,  sondern  daß  er  sich  damit  begnügt, 
festzustellen,  daß  sie  tatsächlich  vorhanden  ist.  Er  sagt 
also  nicht  etwa,  daß  diese  Verschiedenheit  einen  besonde¬ 
ren  Reichtum  der  Gemeinde  ausmache,  daß  man  sich  über 
ihr  Vorhandensein  freuen  dürfe  oder  wohl  gar  müsse  als 
über  ein  Zeichen  von  Leben  oder  dergleichen,  sondern 
er  rechnet  nur  damit,  daß  sie  da  ist  und  gibt  Anwei¬ 
sung,  wie  man  sich  dazu  zu  stellen  habe.  Und  es  ist  auch 
nicht  einmal  so,  daß  Paulus  sich  dieser  Verschiedenheit 
gegenüber  neutral  verhielte,  daß  er  beide  in  gleicher  Weise 
gelten  lassen  würde,  sondern  er  läßt  keinen  Zweifel  dar¬ 
an  übrig,  daß  er  —  und  zwar  nicht  nur  nach  seinem 
persönlichen  Geschmack,  sondern  als  Apostel  des  Evange¬ 
liums  —  die  eine  dieser  Möglichkeiten,  die  der  „Starken“ 
nämlich,  für  die  bessere  hält:  nur  daß  er  eben  unter 
dieser  Voraussetzung  gerade  diese  „Starken“  zum  rechten 
Verhalten  den  „Schwachen“  gegenüber  mahnt  und  damit 
offenbar  auch  die  andere  Voraussetzung  sichtbar  macht: 


198 


daß  es  auch  solche  „Schwache  im  Glauben“  nun  einmal 
gibt  in  der  Gemeinde.  Er  sagt,  daß  die  ganze  Gemeinde  in 
dieser  Verschiedenheit  ihrer  Gestalt  und  ihres  Gehorsams, 
sofern  und  solange  sie  nun  einmal  vorhanden  ist,  sich  ge¬ 
genseitig  —  nicht  als  gleichberechtigt  anerkennen,  auch 
nicht  bloß  dulden,  wohl  aber  aufnehmen,  tragen  muß: 
nicht  darum,  weil  diese  beiden  verschiedenen  Gestalten 
gleich  gut  wären,  aber  darum,  weil  das  Gute,  das  noch 
besser  ist  als  das  Bessere  von  beiden,  eben  in  diesem 
Aufnehmen  und  Tragen  besteht,  weil  das,  was  in  der  Ge¬ 
meinde  „gut“  zu  heißen  verdient,  endlich,  letztlich  und 
entscheidend  nur  das  Gute  Jesu  Christi  sein  kann,  der 
(Kap.  14,  9)  der  Herr  der  Toten  wie  der  Lebendigen 
ist,  der  (Kap.  15,  3)  nicht  sich  selbst,  sondern  als  Trä¬ 
ger  der  Schmach  derer,  die  Gott  schmähen,  dem  Näch¬ 
sten  gedient  hat,  der  (Kap.  15,  7  f.),  indem  er  die  Ver¬ 
heißung  Israels  erfüllte,  auch  die  Heiden  angenom¬ 
men  hat.  Das  ist  das  Gute,  das  das  Gesetz  der  ganzen 
Gemeinde  bildet.  Im  Blick  auf  dieses  Gute  hat  sie 
zu  den  menschlichen  Verschiedenheiten  der  Gestalt  des 
christlichen  Gehorsams,  haben  die  Christen  untereinan¬ 
der  in  diesen  Verschiedenheiten  Stellung  zu  nehmen.  In 
der  Unterordnung  unter  dieses  Gesetz  wird  ihr  Gehorsam 
auch  in  dieser  Verschiedenheit  einer  sein.  Es  gibt  eine 
bessere  Gestalt  des  christlichen  Gehorsams.  Aber  auch  sie 
ist  doch  nur  menschlich  besser:  es  geht  nicht  darum,  daß 
die  „Starken“  eine  bessere  Gnade  empfangen  hätten  als 
die  Schwachen;  es  geht  nur  darum,  daß  sie  sie  tatsächlich 
besser  empfangen  haben.  Eben  darum  besteht  die  Gefahr, 
daß  gerade  sie  das  Gesetz  verletzen  könnten,  das  über 
ihnen  wie  über  den  Schwachen  steht:  daß  sie  sich  gegen 
die  Gnade  versündigen  könnten,  von  der  die  ganze  Ge¬ 
meinde  lebt.  Es  könnte  ihr  Besseres  der  Feind  des  Guten 
—  eben  jenes  Guten  Jesu  Christi  selber  werden.  Das  ist  es, 
was  nicht  geschehen  darf!  Das  für  die  ganze  Gemeinde  gül- 


199 


tige  Gesetz,  die  eine  Gnade,  die  Alle  nötig  haben  und 
die  auch  Allen  gegeben  ist,  das  Gute  Jesu  Christi  muß 
auch  in  der  Art  triumphieren,  wie  sie  nun  tatsächlich  seine 
besseren  Empfänger  sind.  Würde  das  nicht  geschehen,  dann 
wären  sie  nicht  nur  keine  besseren,  sondern  überhaupt 
keine  Empfänger  dieses  Guten!  M.  e.  W.:  auch  die  bessere, 
auch  die  beste  Gestalt  menschlichen  Gehorsams  gegen  das 
Evangelium  ist  schlechterdings  daran  gemessen,  ist  immer 
wieder  ganz  und  gar  auf  die  Waage  der  Entscheidung 
gelegt:  ob  es  denn  wirklich  zum  Gehorsam  gegen  das 
Evangelium  kommt  gerade  in  dieser  Gestalt?  Ob  sich  nicht 
etwa  der  Ungehorsam  gegen  das  Evangelium  nun  gerade 
unter  der  Gestalt  des  besseren  und  besten  Gehorsams 
ihm  gegenüber  verstecken  und  breit  machen  möchte?  Ob 
dieser  Gehorsam  bereit  ist,  sich  als  menschliche  Gehor¬ 
samsgestalt  in  und  trotz  seiner  menschlichen  Güte  wirk¬ 
lich  vom  Evangelium  als  dem  von  ihm  anerkannten  Ge¬ 
setz  her  richten  und  zurecht  richten  zu  lassen? 

Die  Verschiedenheit  der  menschlichen  Gestalt  des  christ¬ 
lichen  Gehorsams  entstand  in  der  römischen  Gemeinde 
(wie  Paulus  offenbar  in  Korinth  erfahren  hat)  an  einer 
Frage,  die  nach  1.  Kor.  8,  1  f. ;  10,  23  f.  auch  die  korin¬ 
thische  Gemeinde  beschäftigt  hat  —  und  die  wohl  grund¬ 
sätzlich  genommen  die  Frage  ist,  an  der  die  hier  bespro¬ 
chene  Verschiedenheit  noch  immer  entstanden  ist:  Es  gab 
Christen,  die  es  für  nötig  und  richtig  hielten,  jener  in  Kap. 
13,  11 — 14  von  allen  Christen  mit  so  besonderem  Nach¬ 
druck  geforderten  Befreiung  von  den  Bindungen  des  in 
Jesus  Christus  erledigten  und  entmächtigten  Menschen¬ 
wesens  damit  gewissermaßen  von  sich  aus  nachzuhelfen, 
vielmehr:  sich  selbst  bei  jenem  „Ablegen  der  Werke  der 
Finsternis“  (Kap.  13,  12)  damit  Stütze  und  Halt  zu  ver¬ 
schaffen,  daß  sie  zu  gewissen,  von  ihnen  selbst  gewählten 
Maßnahmen  griffen,  die  ihnen  die  große  Wendung  vom 
Alten  zum  Neuen  im  Einzelnen  und  Kleinen  erleichtern 


200 


sollten.  Sie  errichteten  sich  so  etwas  wie  ein  Geländer, 
dem  folgend  sie  den  den  Christen  befohlenen  Weg  sicherer 
gehen  zu  können  gedachten.  Sie  hielten  sich  an  gewisse 
Prinzipien,  an  denen  sie  sich  auf  diesem  Weg  jeweils 
orientieren  wollten.  Sie  erdachten  gewisse  Übungen,  mit 
Hilfe  derer  sie  ihren  Gang  nach  dem  Worte  Gottes  regu¬ 
lieren  wollten.  Sie  haben  nach  Kap.  14,  2  z.  B.  vegeta¬ 
risch  gelebt.  Sie  waren  nach  Kap.  14,  21  wohl  auch  Alko¬ 
holabstinenten.  Sie  haben  nach  Kap.  14,  5  auch  gewisse 
Tage  durch  eine  bestimmte  Lebensweise  vor  anderen  aus¬ 
gezeichnet.  Zu  anderen  Zeiten  und  unter  anderen  Umstän¬ 
den  sind  zu  demselben  Zweck  bekanntlich  noch  andere 
derartige  Maßnahmen  vorgeschlagen  und  in  die  Tat  um¬ 
gesetzt  worden.  Paulus  setzt  ausdrücklich  voraus,  daß  sie 
das  im  Glauben  taten:  also  nicht  etwa,  um  durch  gute 
Werke  das  Gesetz  Gottes  zu  erfüllen.  Mit  Leuten,  die 
dies,  die  also  einen  Rückfall  ins  Judentum  im  Schilde  führ¬ 
ten,  hat  Paulus  ganz  anders  geredet,  nämlich  so,  wie  er 
es  im  Galaterbrief  getan  hat.  Die  Leute,  von  denen  hier 
die  Rede  ist,  wollen  nicht  durdi  ihre  Werke  gerettet  und 
selig  werden,  sie  wollen  nur  ihres  Glaubens  leben,  wol¬ 
len  aber,  eben  um  das  tun  zu  können,  jene  besonderen 
Maßnahmen  ergreifen:  weil  sie  sie  für  unentbehrlich  hal¬ 
ten,  weil  sie  es  sich  nicht  Zutrauen,  ohne  jenes  Geländer, 
jene  Prinzipien,  jene  Übungen  durchzukommen,  weil  sie 
ohne  diese  kleine  Selbsthilfe  aus  der  Gnade  zu  fallen  be¬ 
fürchten.  Darum  nennt  sie  Paulus  —  es  liegt  keine  Be¬ 
schimpfung  darin,  sondern  nur  die  Feststellung  eines  Tat¬ 
bestandes:  „Schwadie  im  Glauben“  (Kap.  14,  1). 

Und  nun  verlangt  er  (zunächst  von  der  ganzen  Gemeinde 
als  solcher,  als  deren  besondere  Vertreter  er  aber  von  An¬ 
fang  an  die  „Starken“  anredet),  daß  man  sie  „annehme“. 
Annehmen  heißt  nicht:  sie  bestätigen,  ihnen  recht  geben. 
Annehmen  heißt  aber  auch  nicht  nur  „dulden“,  sondern 
schlicht,  wie  das  Wort  sagt:  auch  sie  sollen  (ob  nun  ihr 


201 


Vorgehen  gut  oder  weniger  gut  zu  heißen  sei)  als  solche,  die 
in  ihrer  Art  den  gemeinsamen  Glauben  haben  und  also 
gehorsam  sein  wollen,  ohne  Anfechtung  wegen  dieser  ihrer 
besonderen  Art  zur  Gemeinde  gehören  und  entsprechend 
dieser  Zugehörigkeit  behandelt  werden.  „Daß  es  über 
ihren  besonderen  Meinungen  in  dieser  Sache  zu  keiner 
Scheidung  in  der  Gemeinde  komme!“  Es  ist  nun  einmal 
so  (v.  2),  daß  die  Einen  (sie  werden  erst  in  Kap.  15,  1 
ausdrücklich  die  „Starken“  genannt  werden)  im  Glauben 
von  solchen  Maßnahmen  keinen  Gebrauch  machen  müs¬ 
sen;  die  Anderen  aber,  eben  die  „Schwachen“  tun  es.  Erste 
Regel  (v.  3):  es  sollen  Jene  Diese  nicht  verachten,  d.  h. 
sie  sollen  ihrem  Glauben  nicht  absprechen,  daß  er  tief 
sei.  Und  es  sollen  diese  Jene  nicht  „richten“,  d.  h.  sie  sollen 
ihrem  Glauben  nicht  absprechen,  daß  er  ernst  sei.  Wer 
nur  den  Weg  des  Glaubens  geht  (mit  oder  ohne  Nach¬ 
hülfe  und  Geländer),  der  soll  angesehen  und  behandelt 
werden  als  Einer,  den  Gott  angenommen  hat.  Christen 
sind  (v.  4)  Knechte,  die  dem  gemeinsamen  Herrn  ein  Jeder 
mit  seinem  eigenen  Glauben  zu  dienen,  die  also  in  dem 
gemeinsamen  Herrn  ein  Jeder  seinen  eigenen  Richter  aber 
auch  seinen  eigenen  Erbarmer  haben.  Sie  können  einander 
unter  sich  nicht  richten  um  der  verschiedenen  mensch¬ 
lichen  Gestalt  ihres  Gehorsams  willen.  „Richten“  heißt  aus¬ 
schließen.  Sie  können  nicht  ausschließen,  wo  Gott  schon 
angenommen  hat,  wo  Gott  allein  über  die  Treue  oder  Un¬ 
treue  der  von  ihm  Angenommenen  nach  seiner  Barm¬ 
herzigkeit  entscheiden  wird.  Audi  das  Verachten  wäre  ein 
Richten  (v.  13!),  wie  das  Richten  umgekehrt  immer  auch 
ein  Verachten  ist.  Beides  ist  gleich  unmöglich. 

Zweite  Regel:  es  kommt  (v.  5)  für  Alle  alles  darauf  an, 
daß  ein  Jeder  auf  seinem  Weg  (den  Weg  mit  oder  ohne 
Geländer!)  seiner  Sache,  nämlich  der  Gestalt  seines  christ¬ 
lichen  Gehorsams  völlig  gewiß  sei:  dessen  gewiß,  daß  er 
diesen  Weg  wirklich  im  Glauben  gehen  muß  und  darf. 


202 


Sollte  das  Verachten  und  das  Richten  nicht  in  gleicher 
Weise  davon  herkommen,  daß  die  Verächter  und  die  Rich¬ 
ter  ihrer  eigenen  Sache  nicht  völlig  gewiß  sind?  Sind  sie  es, 
wie  sollten  sie  dann  das  Verachten  und  das  Richten  nötig 
haben?  Wie  aber  kommt  ein  Jeder  zu  dieser  Gewißheit? 
Darauf  wird  in  Vers  6 — 9  die  umfassende  Antwort  ge¬ 
geben:  es  ist  ein  Jeder  dann  für  sich  auf  dem  rechten 
Wege  —  gleichviel  ob  dieser  an  sich  der  bessere  oder  der 
weniger  gute  ist  — ,  wenn  er  das,  was  er  tut  oder  nicht 
tut,  „für  den  Herrn“,  für  Jesus  Christus,  zur  Bezeu¬ 
gung  seiner  Zugehörigkeit  und  Liebe  zu  ihm  und  also 
—  denn  das  muß  der  Grund  solchen  Zeugnisses  sein  — 
aus  Dank  gegen  Gott  tut  oder  nicht  tut.  Was  ein  Werk 
dieses  Dankes  ist,  das  ist  als  solches  ein  gutes  Werk  des 
Glaubens:  kein  „Werk  der  Finsternis“  (Kap.  13,  12!),  aber 
auch  kein  Gesetzeswerk  zur  Umgehung  und  Verleugnung 
der  freien  Gnade  Gottes  —  gleichviel,  ob  es  in  Anwen¬ 
dung  oder  Nichtanwendung  jenes  Geländers,  jener  Prin¬ 
zipien  und  Übungen  bestehe.  Wir  können  weder  mit  der 
einen  noch  mit  der  anderen  Gestalt  unseres  Gehorsams 
etwas  für  uns  selbst  wollen.  Wir  können  uns  ihrer  auf 
alle  Fälle  nur  „für  den  Herrn“  zu  jener  Dankesbezeugung 
bedienen  wollen.  Können  wir  doch  weder  für  uns  selbst 
leben,  noch  für  uns  selbst  sterben.  Sind  wir  doch  lebend 
und  sterbend  des  Herrn  Eigentum.  Hat  er  uns  doch  durch 
sein  Sterben  und  Leben  zu  seinem  Eigentum  erworben,  un¬ 
ser  Leben  und  Sterben  unter  seine  Herrschaft  und  also  in 
seinen  Dienst  gestellt,  unsere  Existenz  prädestiniert  dazu, 
daß  sie  auf  alle  Fälle,  unter  allen  Umständen  und  auf  der 
ganzen  Linie  in  jener  Dankesbezeugung  bestehen  muß. 
Was  bleibt  uns  schon  übrig,  als  daß  jede  menschliche  Ge¬ 
stalt,  die  wir  unserem  Gehorsam  geben  können,  jede  Mög¬ 
lichkeit,  in  der  wir  unseren  Glauben  leben  mögen  —  wel¬ 
ches  unsere  Wahl  nun  auch  sei  und  wie  auch  das  göttliche 
und  das  menschlidie  Urteil  über  diese  unsere  Wahl  aus- 


203 


fallen  möge  —  auf  alle  Fälle  eine  Gestalt  und  Möglich¬ 
keit  jenes  Dienstes  und  jener  Dankesbezeugung  sein  wird. 
Sind  wir  lebend  und  sterbend  des  Herrn  —  wie  sollte 
dann  auch  nicht  hinsichtlich  der  Wahl,  die  wir  unter  jenen 
Gestalten  und  Möglichkeiten  unseres  Glaubens  zu  treffen 
haben,  dies  die  Frage  aller  Fragen  sein:  daß  wir  diese 
Wahl  so  oder  so  nur  als  die,  die  dem  Herrn  gehören  und 
nur  in  Bezeugung  dieser  unserer  Hörigkeit  treffen  und 
aufrechterhalten  dürfen.  Tut  das  ein  Jeder  —  und  das 
ist’s,  was  ein  Jeder  zu  tun,  das  ist’s  aber  auch,  was  ein 
Jeder  dem  Anderen  zuzutrauen  und  das  ist  es  wieder¬ 
um,  worin  ein  Jeder  den  Anderen  zu  bestärken  hat  — 
dann  darf  und  soll  ein  Jeder  seiner  Sache  gewiß  und 
zwar  völlig  gewiß  sein.  Bist  du  deiner  Sache  völlig  gewiß 
(v.  10),  was  richtest,  was  verachtest  du  dann  deinen  Bru¬ 
der?  Wie  kommst  du  dann  dazu,  ausschließen  zu  wollen, 
wo  deine  ganze  Sorge  nur  darauf  gerichtet  sein  könnte, 
in  der  Gewißheit  deines  Glaubens,  in  deiner  Dienstleistung, 
deiner  Dankesbezeugung  nicht  müde,  an  ihr  nicht  irre  zu 
werden,  immer  genauer  sich  an  das  zu  halten,  was  dir 
befohlen  und  anvertraut  ist,  damit  du  dem  Richter  ent¬ 
gegengehen  könnest  als  dem,  der  dir  seine  Barmherzigkeit 
zugesagt  und  in  seiner  Zusage  schon  erwiesen  hat,  um  auf 
Grund  seines  Urteils  endlich  und  zuletzt  selber  einge¬ 
schlossen  zu  sein  und  zu  bleiben?  Hat  sich  (v.  11)  das 
Knie  des  Anderen  vor  mir  oder  habe  ich  das  meinige  vor 
ihm  zu  beugen?  Hat  er  mich  (meine  menschliche  Gehor¬ 
samsgestalt)  oder  habe  ihn  ihn  (die  seinige)  zu  preisen? 
Offenbar  keines  von  beiden.  Wir  werden  vielmehr  gemein¬ 
sam  ihm  uns  zu  beugen  haben,  den  preisen  dürfen,  dem 
wir  beide  untertan  sind,  wenn  wir  nur  —  so  oder  so, 
in  besserer  oder  weniger  guter  Gestalt  —  ihm  wirklich 
gehorsam  sind. 

Also  dritte  Regel  (v.  12):  es  ist  die  Verantwortung, 
die  ein  Jeder  zu  tragen  und  zu  leisten  hat  diejenige, 


204 


die  ein  Jeder  für  sich  selbst  und  gerade  dann  und  so 
in  wahrhafter  Gemeinschaft  mit  dem  Anderen  tragen 
und  leisten  soll.  Aber  das  ist  das  letzte  Wort  noch  nicht. 
Für  was  sind  wir  verantwortlich?  Ein  Jeder  für  sich  selbst, 
für  unsere  Dienstleistungen  und  Dankesbezeugungen,  hör¬ 
ten  wir.  Aber  in  was  bestehen  diese  gerade  angesichts  der 
Tatsache,  daß  ihre  menschliche  Gestalt  so  verschieden  sein 
kann? 

Sie  bestehen  (4.  Regel!)  darin,  daß  wir  in  Voll¬ 
streckung  der  von  uns  getroffenen  Wahl  dem  Bruder, 
dem  Anderen,  der  in  seiner  Weise  mit  uns  glaubt, 
nicht  Anstoß  geben,  ihn  nicht  verführen,  sondern  nach 
Vers  19  nach  dem  trachten,  was  zum  Frieden,  was  zur 
Erbauung  untereinander  dient.  „Anstoß  geben“  heißt 
nicht  einfach:  befremden,  auf  regen,  ärgern,  verdrießen. 
Es  ist  für  den  Schwachen  sehr  befremdend  und  vielleicht 
sehr  verdrießlich,  daß  es  auch  Starke  gibt  und  umge¬ 
kehrt.  Und  daraus  pflegt  es  dann  zu  dem  gegenseitigen 
Verachten  und  Richten  allerdings  zu  kommen.  Daß  wir 
einander  dazu  überhaupt  keinen  Anlaß  bieten  sollten,  uns 
zu  richten  oder  zu  verachten,  das  ist  nicht,  was  von  uns 
verlangt  ist.  Das  kann  darum  nicht  von  uns  verlangt  sein, 
weil  es  ja  dann  jene  besonderen  Wege  besonderen  Lebens 
im  Glauben,  jene  verschiedenen  Gestalten  menschlichen  Ge¬ 
horsams  überhaupt  nicht  geben  dürfte,  was  Paulus  offen¬ 
bar  —  indem  er  die  eine  für  besser  hält  als  die  andere 
—  nicht  sagen  will.  Es  ist  aber  von  uns  verlangt,  daß  wir 
einander  nicht  richten,  nicht  ausschließen  sollen.  Und  dies 
ist  es,  was  damit  geschehen  würde,  wenn  wir  einander 
„Anstoß  und  Verführung  bereiten“,  d.  h.  wenn  wir  einan¬ 
der  darin  irre  machen  würden,  daß  ein  Jeder  bestimmt 
nur  den  Weg  seines  Glaubens  und  keinen  anderen  gehen 
darf.  Es  könnten  die  Schwachen  den  Starken  zur  Ver¬ 
suchung  werden,  ihrerseits  für  unentbehrlich  zu  halten, 
was  ihnen  in  Wirklichkeit  gar  nicht  unentbehrlich  ist.  Es 


205 


könnten  aber  auch  umgekehrt  —  und  daran  ist  Paulus 
hier  fast  ausschließlich  interessiert  —  die  Starken  den 
Schwachen  zur  Versuchung  werden,  ihr  Geländer,  ihre 
Prinzipien,  ihre  Übungen  fahren  zu  lassen,  wo  sie  sie 
doch  ihrem  Glauben  gemäß  —  wenn  dieser  echte  Dienst¬ 
leistung  und  Dankesbezeugung  sein  soll  —  gar  nicht 
fahren  lassen  dürften.  Paulus  erklärt  in  Vers  14  a  sehr 
bestimmt,  was  er  über  jene  Maßnahmen  der  Schwachen 
denkt:  „Ich  weiß  und  bin  im  Herrn  Jesus  überzeugt,  daß 
nichts  an  und  für  sich  unrein  ist“.  Alles  ist  rein“  (v.  20 
—  „den  Reinen“  ist  wohl  späterer  Zusatz!)  M.  e.  W.:  Es 
gibt  keine  objektive  Notwendigkeit  für  jene  Schutz-  und 
Sicherheitsmaßnahmen.  Man  soll  sie  nicht  für  Gottes  Ge¬ 
setz  halten  und  ausgeben.  Wer  sie  ergreift,  der  tut  es 
auf  seine  eigene  Verantwortung.  Es  gibt  aber  nach  Vers 
14  b  eine  subjektive  Notwendigkeit  solcher  Maßnahmen: 
da,  wo  ein  Christ  mit  dem  Tun  des  an  sich  Reinen  für 
seine  Person  tatsächlich  etwas  tun  würde,  was  für  ihn 
nicht  Dienstleistung  für  den  Herrn,  nicht  Dankesbezeu¬ 
gung  gegen  Gott  wäre.  Kann  er  es  im  Glauben  nicht 
tun,  dann  ist  es  für  ihn  unrein,  Sünde  (v.  23).  Dies  ist  es, 
was  der  Andere,  der  „Starke“  zu  bedenken  hat.  Er  darf 
mit  dem,  was  er  tut,  den  Schwachen  unter  gar  keinen 
Umständen  dazu  veranlassen,  seinerseits  zu  tun,  was  für 
ihn  Sünde  ist.  Die  objektive  Reinheit  aller  Dinge  in 
Ehren  —  in  Ehren  auch  seine  eigene  Reinheit  im  Ge¬ 
brauch  aller  Dinge  —  er  hat  aber  darüber  hinaus  nicht 
die  Vorurteile,  nicht  die  Engstirnigkeit,  nicht  den  Fana¬ 
tismus  und  dergleichen  des  Schwachen,  wohl  aber  den 
Schwachen  selbst,  nämlich  seinen  Glauben,  in  Ehren  zu 
halten;  er  hat  die  bedrohte  Reinheit  des  Schwachen  zu 
bedenken  und  zu  berücksichtigen.  Er  darf  ihn  nicht  ver¬ 
anlassen,  zu  tun,  was  für  ihn  ein  unreines,  ein  seinem 
Glauben  nicht  entsprechendes  Tun  wäre.  Der  Zustand,  in 
den  der  Schwache  dadurch  versetzt  würde,  wird  in  Vers 


206 


15  „Betrübnis“  genannt.  Gemeint  ist  die  traurige  Lage 
dessen,  der  seinen  einzigen  möglichen  Halt  verloren  hat. 
Das  kann  geschehen,  das  geschieht  sogar  unvermeidlich, 
wenn  er  sich  nicht  streng  daran  hält,  seinen  Weg  so  zu 
gehen  und  einzurichten,  wie  er  es  nach  seinem  Glauben 
an  das  Wort  Gottes,  als  der  Empfänger  der  Gnade,  der  er 
nun  einmal  ist,  tun  muß.  Veranlasse  ich  ihn  dazu,  so 
heißt  das  —  und  wenn  mein  objektives  Recht  noch  so 
groß  wäre  — ,  daß  ich  ihn  zum  Ungehorsam  veranlasse, 
was  dann  für  mich  selbst  sofort  heißt,  daß  ich  nicht  gemäß 
der  Liebe  wandle,  daß  ich  für  mich  selbst  jenes  Lebens¬ 
elementes  der  Gemeinde  entbehre,  daß  ich  an  meinem 
Teil  der  Welt  das  schuldig  bleibe  (Kap.  13,  8),  was  idi 
ihr  als  Christ  unter  keinen  Umständen  schuldig  bleiben 
dürfte:  ich  zerstöre  dann  die  Gemeinde,  die  ich,  damit  sie 
ein  Licht  für  die  Welt  sei,  bauen  sollte.  Ich  bringe  dann 
den  ins  Verderben,  für  den  Christus  gestorben  ist.  Denn 
das  ist  sein  Verderben,  wenn  er  aufhört,  seines  Glaubens 
zu  leben  —  auch  dann,  wenn  es  ein  objektiv  besseres 
Leben  im  Glauben  gibt  als  das  seinige,  auch  dann,  wenn 
ich  noch  so  gut  in  der  Lage  bin,  es  ihm  vorzuleben.  Ist 
es  nicht  das  seinige  und  kann  es  das  nicht  werden,  so  bin 
ich  sein  Verführer  und  also  ein  Schädling  der  Kirche, 
wenn  ich  ihm  mein  Besseres  so  oder  so  aufdränge.  Ich 
habe  (v.  16)  mit  ihm  gemeinsam  ein  „Gutes“  zu  hüten, 
vor  Profanierung  zu  bewahren.  Dieses  Gute  —  das  Gute 
des  Reiches  Gottes,  dessen  Offenbarung  die  Christen  ent¬ 
gegengehen  —  besteht  aber  (v.  17)  nicht  in  den  verschie¬ 
denen  menschlichen  Gestalten  unseres  Gehorsams  als  sol¬ 
chen,  also  gewiß  nicht  in  seinem  Vegetariertum  oder  in 
seiner  Abstinenz,  aber  ebenso  gewiß  auch  nicht  in  meinem 
unbeschwerten  Essen  oder  Trinken,  sondern  jenseits  dieser 
Gegensätze  in  der  Gerechtigkeit,  dem  Frieden  und  der  Freu¬ 
de  als  den  Gaben  des  Heiligen  Geistes,  aus  und  mit  denen 
ein  Jeder  auf  seinem  Weg  leben  darf,  sofern  er  der  Weg 


207 


seines  Glaubens  ist  und  sofern  er  ihm  als  solchen  treu 
bleibt.  Wir  können  (v.  18 — 19)  Christus  nur  darin  dienen, 
Gott  nur  darin  wohlgefällig  und  auch  unter  den  Men¬ 
schen  nur  darin  brauchbar  sein,  daß  wir  einander  gegen¬ 
seitig  veranlassen  und  darin  bestärken,  eben  diesen  Weg 
immer  wieder  zu  suchen,  dann  aber  auch  zu  gehen, 
gleichviel,  ob  er  der  unsrige  sei  oder  nicht.  Das  heißt  Frie¬ 
den,  das  heißt  gegenseitige  Erbauung  in  der  Gemeinde, 
und  daß  es  dazu  komme,  das  ist  der  positive  Sinn  dieser 
wichtigsten,  der  vierten  Regel  des  Paulus.  Ihre  Anwen¬ 
dung  kann  aber  nach  Vers  20 — 21  für  den  Starken  ge¬ 
radezu  das  bedeuten,  daß  er  selbst  —  nicht  um  seines 
Glaubens,  aber  um  des  Glaubens  des  Schwachen  willen, 
nicht  in  Verleugnung  seines  Glaubens,  nicht  etwa  aus 
Furcht  vor  dem  Richten  des  Schwachen  (wie  Petrus  in 
Antiochien  Gal.  2,  11  f.),  sondern  in  der  Furcht  Gottes, 
in  der  Furcht  davor,  den  Schwachen  in  jenes  Verderben 
zu  bringen  —  seinerseits  unterlassen  wird,  was  jenem, 
wenn  er  ihn  unter  Verleugnung  seines  Glaubens  nach¬ 
ahmen,  wenn  er  etwa  umgekehrt  ihn  fürchten  sollte,  zu 
diesem  Verderben  gereichen  würde.  Es  ist  der  Vorsprung 
des  Starken  vor  dem  Schwachen,  daß  er  diesem  in  solcher 
Weise  beispringen  kann:  wer  ohne  Geländer  gehen  kann, 
kann  es  offenbar  auch  mit  Geländer;  wer  keine  Prinzi¬ 
pien  braucht,  kann  sie  offenbar  auch  gelten  lassen;  wer 
nicht  auf  Übungen  angewiesen  ist,  kann  sie  offenbar  auch 
einmal  mitmachen.  Wie  sollte  er  der  Stärkere  sein,  wenn 
er  das,  was  der  Schwächere  kann,  etwa  nicht  könnte?  Er 
wird  aber  tatsächlich  tun,  was  er  auch  kann,  wenn  es 
darum  geht,  den  Bruder  nicht  fallen  zu  lassen,  das  Werk 
Gottes,  das  in  der  Gemeinde  auch  durch  diesen  Bruder  ge¬ 
schehen  soll,  nicht  zu  zerstören.  Gerade  der  Glaube,  den 
er  selbst  hat  (v.  22a)  und  der  ihm,  ginge  es  nur  um 
seine  Person,  erlauben,  ja  gebieten  würde,  ganz  und  gar 
geländerlos  und  unprinzipiell  und  ohne  alle  und  jede  be- 


208 


sondere  Übung  seinen  Weg  zu  gehen  —  gerade  dieser 
Glaube  kann  ihm  und  wird  ihm  in  diesem  Fall,  weil  er 
ihn  nidit  nur  für  sich  selbst,  sondern  vor  Gott  hat,  er¬ 
lauben  und  gebieten,  Rücksicht  zu  nehmen.  Es  bleibt  da¬ 
bei:  er  müßte  sich  selbst  an  sich  nicht  verurteilen,  wenn 
er  täte,  was  er  jetzt  um  des  Andern  willen  unterläßt 
(v.  22b).  Er  weiß  aber  auch  (v.  23),  daß  er  schon  verurteilt 
wäre,  wenn  er  es  zweifelnd,  wenn  er  es  nicht  im  Glau¬ 
ben,  wenn  er  es  nicht  in  voller  Verantwortlichkeit,  im 
Vollzug  der  seinem  Glauben  entsprechenden  Dienstleistung 
und  Dankesbezeugung,  wenn  er  es  bloß  aus  irgend  einer 
Lust  des  Zufalls  täte.  Er  weiß,  daß,  was  nicht  aus  Glau¬ 
ben  geschieht,  Sünde  ist.  Und  sieht  er  nun  den  Schwa¬ 
chen  eben  in  dieser  Gefahr,  dann  wird  er  ihn  in  der 
Anwendung  jener  Maßnahmen  damit  unterstützen,  daß 
auch  er  selber  sich  ihnen  unterzieht,  ohne  daß  er  sie  für 
sich  nötig  hätte:  lieber  das,  als  daß  er  ihm  Anlaß  geben 
würde,  sich  in  eine  Freiheit  zu  begeben,  die  für  ihn,  den 
Schwachen,  weil  er  nun  einmal  schwach  ist,  gerade  keine 
Freiheit  wäre. 

Man  könnte  sidi  ohne  allzu  große  Mühe  eine  ent¬ 
sprechende  apostolische  Ansprache  und  Mahnung  an 
die  Schwachen  vorstellen.  Aber  es  entspricht  wohl  dem, 
daß  die  ganze  apostolische  Mahnung  sich  an  die  Ge¬ 
horsamen  und  nicht  an  die  Ungehorsamen  richtet,  wenn 
sie  nun  in  diesem  Zusammenhang  tatsächlich  nur  an  die 
Starken  und  nicht  an  die  Schwachen  ergeht.  Was  diesen  zu 
sagen  wäre,  könnte  ja  auch  nur  in  der  Bestätigung  und 
Erklärung  bestehen,  daß  sie  tatsächlidi  die  Schwachen 
sind  und  in  der  Mahnung,  daß  sie  sich  doch  ja  nicht  etwa 
plötzlich,  wie  es  manchmal  vorkommt,  als  die  Starken, 
als  die  eigentlichen  und  besseren  Christen  ausspielen  und 
ausgeben  sollen.  Von  einem  Recht  dazu  kann  gar  keine 
Rede  sein.  Aber  Paulus  hat  ihnen  das  nicht  anders  als 
eben  mit  ihrer  Bezeichnung  als  „Sdiwache“  und  mit  der 


209 


schlichten  Mahnung  vorgehalten,  daß  sie  ihrerseits  nicht 
richten  sollten.  Sein  ganzes  Interesse,  die  ganze  Wucht  sei¬ 
ner  Mahnung  gilt  den  Starken,  die  er  jetzt  (Kap.  15,  1) 
auch  ausdrücklich  —  und  indem  er  sich  selbst  ausdrück¬ 
lich  zu  ihnen  bekennt  —  darauf  anredet,  daß  sie  eben 
als  die  Starken  schuldig,  verpflichtet  sind,  die  Schwachheit 
der  Ungefestigten  (das  sind  die  Anderen!)  zu  tragen 
und  nicht  sich  selbst  zu  Gefallen  zu  leben.  Sie  sind  inso¬ 
fern  die  Starken,  als  ein  geiänder-  und  prinzipienloses, 
auf  besondere  Übungen  verzichtendes  Leben  dem  Wesen 
ihres  Glaubens  als  Bezogenheit  auf  Jesus  Christus  ganz 
allein  zweifellos  besser  entspricht  als  ein  solches  unter 
Zuhilfenahme  von  allerlei  selbstgewählten  menschlichen 
Möglichkeiten,  Geboten  und  Verboten.  Aber  eben:  Dieses 
Bessere  kann  und  darf  doch  nicht  der  Feind  des  Guten 
(v.  2  vgl.  Kap.  14,  16)  werden.  Der  Starke  im  Glauben, 
der  sich  selbst  zu  Gefallen  leben  wollte,  wäre  ein  hölzer¬ 
nes  Eisen.  Daß  der  Christ  nicht  sich  selbst  lebt  und  stirbt, 
sondern  dem  Herrn  (Kap.  14,  7),  das  bedeutet  konkret: 
er  lebt  seinem  Nächsten  zu  Gefallen  —  nicht  so  wie  es 
seinem  Nächsten  gefällt,  sondern  so,  daß  seinem  Näch¬ 
sten  damit  das  zu  Gefallen  geschieht,  was  ihm  zu  Gefallen 
geschehen  muß  —  er  lebt  für  das  in  der  Erwartung  der 
Offenbarung  des  Reiches  Gottes  gemeinsam  mit  seinem 
Nächsten  zu  hütende  Gute;  er  lebt  für  die  Auferbauung 
der  Gemeinde.  Gerade  weil  der  Glaube  Bezogenheit  auf 
Jesus  Christus  ganz  allein  ist  (v.  3),  kann  das  nicht  anders 
sein.  Denn  eben  Christus  hat  nicht  sich  selbst  zu  Gefallen 
gelebt.  Hätte  er  das  getan,  dann  hätte  er  (Phil.  2,  6  f .)  seine 
göttliche  Gestalt  für  eine  gute  Beute  angesehen  und  für 
sich  behalten.  Nun  aber  hat  er  sich  ihrer  entäußert,  hat 
Knechtsgestalt  angenommen  und  ist  den  Menschen  gleich 
geworden:  er  hat  die  Schande  derer,  die  Gott  schänden, 
auf  sich  selbst  genommen  und  getragen.  Um  die  Entspre¬ 
chung  dieses  seines  Tuns  handelt  es  sich  im  Glauben,  ge- 


210 


rade  indem  dieser  unsere  Bezogenheit  auf  Jesus  Christus 
allein  ist.  Wie  wäre  da  starker  Glaube,  wie  wäre  da 
überhaupt  Glaube,  wo  es  zu  dieser  Entsprechung  nicht 
käme?  Indem  uns  die  ganze  heilige  Schrift  des  Mose  und 
der  Propheten  Christus  als  den  bezeugt,  der  sich  für  uns 
gedemütigt  hat,  wie  eben  nur  der  lebendige  Gott  sich  de¬ 
mütigen  kann  in  seiner  allmächtigen  Barmherzigkeit  — 
eben  damit  und  nicht  anders  bezeugt  sie  den  Glaubenden 
die  Hoffnung,  die  Beharrlichkeit,  den  Trost,  von  dem  sie 
als  Glaubende  leben  dürfen,  neben  dem  sie  zu  einem  vor 
Gott  rechten  Leben  etwas  Anderes  tatsächlich  nicht  nötig 
haben,  in  dem  sie  völliges  Genügen  haben,  so  daß  alle 
Selbsthilfe  oder  auch  nur  Nachhilfe  objektiv  unnötig  ist. 
Aber  eben  indem  die  Schrift  dieses  Christus  und  in  Chri¬ 
stus  diesen  Gott  bezeugt,  kann  es  (V.  5 — 6)  nicht  anders 
sein,  als  daß  dieser  Gott  unter  den  an  ihn  Glaubenden 
und  durch  ihn  Lebenden  die  Einheit  herstellt,  die  dem 
Willen  Jesu  Christi,  die  seinem  Bilde  und  insofern  weder 
dem  Bilde  der  Schwachen  noch  dem  der  Starken  ent¬ 
spricht,  in  der  aber  beide  miteinander  unter  allen  Um¬ 
ständen  statt  sich  selber  zu  Gefallen  zu  leben,  Gott  prei¬ 
sen  dürfen  und  werden  in  der  Gemeinde  und  als  Ge¬ 
meinde  in  der  Welt.  In  dieser  Einheit  des  Glaubens  und 
seiner  Erfüllung  im  Lobpreis  Gottes  werden  sie  einander 
(v.  7)  annehmen,  so  wie  sie  selber  alle  miteinander  ja 
nur  Angenommene  sind,  so  wie  sie  selber  außer  diesem 
Angenommensein  als  Christen  gar  keine  Existenz,  in  die¬ 
sem  Angenommensein  ihr  Ein  und  Alles  haben.  Was  be¬ 
sagt  demgegenüber  die  Verschiedenheit  ihres  eigenen  An- 
nehmcns,  ihres  besseren  oder  weniger  guten  Gehorsams¬ 
weges?  Noch  und  noch  einmal  sollen  sie  (v.  8 — 12)  schlicht 
an  Jesus  Christus  selber  denken,  der  als  Messias  der 
Juden  die  Treue  und  gerade  darum  als  Heiland  der  Welt 
die  Barmherzigkeit  Gottes  offenbar  und  wirklich  gemacht 
hat  auf  Erden,  um  so  aus  dem  einen  Volk  und  den 


211 


vielen  ein  einziges  zu  machen.  Das  ist  doch  das  große 
Annehmen,  auf  Grund  dessen  es  auch  in  Rom  Kirche 
Jesu  Christi  gibt.  Was  wären  die  dortigen  Starken  im 
Glauben  ohne  dieses  große  Annehmen  und  Hineinneh¬ 
men  der  Heiden  zu  dem  einen  Volke  Gottes?  Und  was 
ist  schon  ihr  Gegensatz  zu  den  Schwachen  neben  dem 
Gegensatz  von  Licht  und  Finsternis,  den  Jesus  Christus 
dort  überwunden  hat?  Wir  beachten,  daß  die  Mahnung 
hier  (v.  13,  wie  schon  v.  5 — 6)  ins  Gebet,  in  die  Für¬ 
bitte  übergeht.  In  Vers  13  sogar  so,  daß  der  besondere 
Inhalt  dieser  Kapitel  gar  nicht  mehr  erwähnt  wird.  Es 
bedarf  nur  dessen,  daß  dieses  Gebet  gebetet  und  erhört 
werde,  so  wird  auch  das,  wozu  Paulus  hier  —  und  wozu 
er  von  Kap.  12,  1  ab  —  „ermahnt“  hat,  geschehen:  „Der 
Glaube  der  Hoffnung  erfülle  euch  mit  aller  Freude  und 
allem  Frieden,  indem  ihr  glaubt,  damit  ihr  reich  werdet 
in  der  Hoffnung  durch  die  Macht  des  Heiligen  Geistes!“ 


212 


15,  14  —  16,  27 


Der  Apostel  und  die  Gemeinde 


Daß  der  Römerbrief  ein  wirklicher  Brief  ist,  von  einem 
bestimmten  Menschen  in  bestimmter  Zeit  und  Lage  an 
bestimmte  andere  Menschen  gerichtet,  das  wird  uns  in 
diesem  Schlußteil,  wenn  wir  es  etwa  vergessen  haben  soll¬ 
ten,  noch  einmal  bestimmt  in  Erinnerung  gerufen.  Es  ist 
zum  Verständnis  des  Ganzen  notwendig,  daß  man  das  vor 
Augen  habe.  Gerade  das  Evangelium,  dessen  entscheiden¬ 
den  Inhalt  und  dessen  Begegnung  mit  dem  Ungehorsam 
und  mit  dem  Gehorsam  der  Menschen  Paulus  in  diesem 
Brief  umschrieben  hat,  darf  niemals  als  eine  gewisser¬ 
maßen  im  leeren  Raum  schwebende  „Wahrheit“  —  ge¬ 
rade  das  Evangelium  kann  nach  dem  biblischen  Begriff 
des  Wortes  Wahrheit  nur  als  eine  zwischen  Mensch  und 
Mensch  stattfindende  Eröffnung  des  Geheimnisses  Gottes 
und  also  als  ein  geschichtliches  Ereignis  vorgestellt  und 
verstanden  werden.  Der  im  Evangelium  Gott  heißt,  ist 
ja  Mensch  geworden.  Was  im  Evangelium  Ewigkeit  heißt, 
hat  ja  die  Zeit  erfüllt.  Was  im  Evangelium  Geist  heißt, 
das  wohnt  ja  in  sterblichen  Leibern  (Kap.  8,  11).  Das 
Evangelium  existiert  nie  und  nirgends  an  sich  und  für 
sich,  sondern  immer  in  bestimmten  Zeiten  mit  ihren  Um¬ 
ständen.  Immer  in  den  bestimmten  Personen  der  Boten, 
die  es  ausrichten  und  in  den  bestimmten  Personen  derer, 
die  die  Botschaft  empfangen.  Es  existiert  auch  im  Römer¬ 
brief  nicht  anders.  Das  ist  es,  was  diesen  seinen  Schluß 
wichtig  macht,  in  welchem  wir  zwar  sachlich  in  der  Haupt¬ 
sache  keine  weitere  Belehrung  mehr  empfangen,  in  wel- 


213 


chem  dafür  eben  dies  wieder  sichtbar  wird:  daß  wir  es 
mit  einem  ums  Jahr  58  von  Korinth  nach  Rom  geschrie¬ 
benen  Brief,  mit  dem  Apostel  Paulus  in  einem  besonde¬ 
ren  Stadium  seines  Lebensweges  und  mit  einer  besonde¬ 
ren  unter  den  Christengemeinden  jener  ersten  Zeit  zu  tun 
haben. 

Was  wir  zunächst  in  Vers  14 — 21  zu  lesen  bekommen, 
ist  im  Rückblick  auf  den  ganzen  Brief  geschrieben.  Pau¬ 
lus  ist  sich  nach  Vers  15  (vgl.  auch  v.  18)  dessen  be¬ 
wußt,  den  römischen  Christen  „teilweise  etwas  kühn“  ge¬ 
schrieben,  ihnen  gegenüber  mit  diesem  Briefe  etwas  ge¬ 
wagt  zu  haben.  Wir  wissen  nicht  direkt,  auf  was  sich 
Paulus  hier  im  besonderen  bezogen  hat:  sicher  nidit  etwa 
auf  die  Ausführlichkeit  seiner  Darlegungen  und  sicher 
auch  nicht  nur  auf  die  Mahnungen  des  vorangehenden 
Kapitels,  obwohl  die  Dringlichkeit,  in  der  da  eine  nicht 
von  ihm  gegründete  und  ihm  sonst  auch  nur  teilweise 
bekannte  Gemeinde  angeredet  wird,  zu  der  erwähnten 
„Kühnheit“  auch  gehören  mag.  Es  liegt  doch,  wenn  man 
den  Eindruck  offen  reden  läßt,  den  man  von  diesem  gan¬ 
zen  Apostelbrief  von  Anfang  an  noch  heute  hat,  am  näch¬ 
sten,  vor  allem  eben  an  das  Ganze  dieser  Darlegung  zu 
denken.  Viel  Ungewohntes  und  darum  Überraschendes 
haben  auch  wir  seinen  wenigen  Blättern  auf  Schritt  und 
Tritt  entnehmen  müssen.  Viel  seltsame,  bald  unvermutet 
rasch,  bald  unvermutet  langsam  vollzogene  Schritte  hatten 
wir  mitzumachen.  Viel  radikalen,  aufregenden,  in  ihren 
Konsequenzen  scheinbar  oder  wirklich  geradezu  gefähr¬ 
lichen  und  anstößigen  Sätzen  sind  wir  begegnet.  Welche 
Rücksichtslosigkeit  gegenüber  allen  sonst  bekannten  christ¬ 
lichen  und  nichtchristlichen  Standpunkten  und  Anschau¬ 
ungsweisen!  Welche  Anforderungen  an  unsere  Fähigkeit 
und  Willigkeit,  aus  allen  Burgen  und  Zelten  der  Freiheit 
und  der  Gebundenheit,  der  Bürgerlichkeit  und  der 
Boheme,  der  Moral  und  der  Amoral,  der  Gottes-  und  der 


214 


Weltkindlichkeit  heraus  —  und  bei  dem  hier  zur  Sprache 
gebrachten  Erkennen  und  Bekennen  mitzukommen:  im¬ 
mer  um  neue  Kurven  herum  mitzukommen!  Welcher 
Ausleger  empfände  hier  nicht  das  Bedürfnis  sich  zu  ent¬ 
schuldigen  mit  dem  Hinweis  darauf,  daß  das  Alles  nicht 
in  ihm,  sondern  wirklich  im  Text  dieses  Briefes  seine 
Ursache  hat?  Der  Tatbestand,  der  uns  hier  nodi  heute 
in  die  Augen  springt,  ist  schon  in  der  neutestamentlichen 
Zeit  selbst  empfunden  worden.  Die  am  Anfang  unserer 
Vorlesung  erwähnte  Stelle  in  2.  Petr.  3,  15 — 16  mag  jetzt 
ausdrücklich  zu  Worte  kommen:  „Haltet  die  Langmut 
unseres  Herrn  für  euer  Heil,  wie  auch  unser  geliebter 
Bruder  Paulus  nach  der  ihm  verliehenen  Weisheit  euch 
geschrieben  hat,  wie  auch  in  allen  Briefen,  wenn  er  in 
ihnen  hiervon  redet:  in  denen  sich  einiges  Schwerver¬ 
ständliche  findet,  was  die  Unwissenden  und  Ungefestigten 
verdrehen  —  wie  auch  die  übrigen  Schriften  —  zu  ihrem 
eigenen  Verderben“.  Es  ist  die  „Kühnheit“  des  Paulus 
(und  zweifellos  nicht  zuletzt,  sondern  zuerst  die  Kühnheit 
gerade  des  Römerbriefes),  auf  die  mit  diesen  Worten 
schonend  aber  deutlich  hingewiesen  wird.  Sie  war,  wie 
unsere  Stelle  zeigt,  auch  dem  Paulus  selbst  bewußt.  Was 
hat  er  dazu  zu  sagen?  Man  muß  hier  vor  allem  Vers  14 
beachten,  wo  er  seinen  Lesern  das  nach  allem  Voran¬ 
gehenden  gewiß  erstaunliche  Zugeständnis  madit,  daß  er 
nicht  nur  von  der  Fülle  ihrer  guten  Gesinnung,  sondern 
auch  davon  überzeugt  sei,  sie  seien  voll  Erkenntnis  und 
fähig,  sich  selbst  gegenseitig  zu  unterrichten.  Wozu  dann 
der  ganze  Römerbrief  in  seiner  ganzen  Kühnheit?  Nun, 
sagt  Vers  14,  jedenfalls  nicht  dazu,  um  seinen  Lesern 
etwas  Neues,  etwas  Anderes,  etwas  von  dem,  was  sie  als 
Christen  schon  gehört  haben  und  schon  wissen,  Verschie¬ 
denes  zu  sagen.  Das  Alte  neu,  ja,  aber  nichts  Neues!  Das 
Eine  anders,  ja,  aber  nichts  Anderes!  Ein  größerer  Gegen¬ 
satz  ist  gar  nicht  denkbar  als  der  zwischen  einem  Apostel 


215 


und  einem  genialen  Stifter  neuer  Religion  und  Weltan¬ 
schauung.  Als  Zeuge  des  auferstandenen  Jesus  Christus 
und  also  als  Ausleger  des  Mose,  der  Propheten  und  der 
Psalmen  hat  Paulus  im  Römerbrief  geredet.  Er  hat  also 
tatsächlich  nichts  gesagt,  was  nicht  grundsätzlich  ebenso 
gut  irgend  ein  Christ  dem  anderen  sagen  könnte.  Er  hat 
nur  wiederholt,  was  die  Christen,  zur  Kirche  zusammen¬ 
gerufen,  längst  gemeinsam  gehört  haben.  Er  hat  geschöpft 
aus  der  Quelle  der  Erkenntnis,  die  auch  in  der  Gemeinde 
zu  Rom  offen  und  zugänglich  ist.  Er  hat  nichts  Anderes 
als  ihr  eigenes  Bekenntnis  ausgesprochen  und  erläutert. 
Hat  er  nun  nach  Vers  15  doch  „teilweise  etwas  kühn“ 
geschrieben,  so  geschah  das,  „um  euch  eine  Erinnerung 
zu  geben“,  also  eben:  um  ihnen  das  ihnen  schon  Be¬ 
kannte  zu  wiederholen,  neu  und  frisch  vor  Augen  zu 
stellen.  Eben  indem  er  das  tut,  kommt  es  zu  jener 
„Kühnheit“.  Eben  diese  Repetition  hat  notwendig  den 
Charakter  einer  Revolution.  Aber  warum  gerade  dann, 
wenn  Paulus  der  Repetitor  ist?  Warum  hat  es  in  der 
ganzen  Kirchengeschichte  noch  immer  Unruhe  gegeben, 
wenn  gerade  Paulus  und  gerade  der  Römerbrief  wieder 
aufmerksam  gelesen  und  unerschrocken  ausgelegt  wurde? 
Wenn  Paulus  nun  sagt,  daß  er  seinen  Lesern  diese  Er¬ 
innerung  gegeben  hat,  „kraft  der  ihm  von  Gott  verliehe¬ 
nen  Gnade,  so  verwahrt  er  sich  damit  offenbar  gegen  die 
Vermutung,  es  könnte  irgend  eine  Eigenart  seiner  Per¬ 
sönlichkeit,  es  könnte  seine  christliche  Originalität  oder 
dergleichen  sein,  was  bei  dieser  Erinnerung  als  „Kühn¬ 
heit“  wirksam  werde.  Die  Sache  liegt  nach  Vers  16  ganz 
anders:  Darum  muß  Paulus  so  reden  und  schreiben,  wie 
er  es  tut,  weil  sein  Amt  ein  so  ganz  außerordentliches 
ist.  Was  tut  nämlich  Paulus?  Er  verkündigt  das  Evan¬ 
gelium.  Aber  eben  das  ist  eine  Sache,  die  mit  der  Tätig¬ 
keit  eines  Redners  oder  Schriftstellers  —  obwohl  es  dabei 
ohne  viel  Reden  und  Schreiben  nicht  abgeht  —  im  Grund 


216 


nichts  zu  tun  hat.  Sie  ist  vielmehr  in  Wahrheit  die  Tätig¬ 
keit  eines  Opferdieners,  eines  Leviten,  der  das,  was  zu 
opfern  ist,  für  den  das  Opfer  vollziehenden  Priester  zu¬ 
zubereiten  hat.  Der  Priester  ist  Jesus  Christus.  Das  Opfer 
sind  die  Heiden.  Und  Alles,  was  Paulus  tut  mit  seinem 
Reden  und  Schreiben,  ist  nichts  als  das  Zudienen,  durch 
das  dieses  Opfer  für  diesen  Priester  brauchbar,  durch 
das  es  zu  einem  Gott  wohlgefälligen  Opfer  gemacht  wird. 
Es  geht  um  die  Heiligung  der  Heiden  durch  den  Heiligen 
Geist.  Und  es  ist  die  Beteiligung  des  Paulus  an  diesem 
Wunderwerk  der  göttlichen  Erwählung  und  Berufung,  bei 
dem  unbegreiflichen  Aufgehen  dieser  Türe  zwischen  Israel 
und  den  Völkern,  die  seinem  Reden  und  Schreiben,  die 
auch  seinem  Brief  an  die  Römer  jene  Kühnheit  gegeben 
hat.  Es  bildet  (v.  17)  dieses  sein  Amt  —  nicht  kraft 
seiner  menschlichen  Würdigkeit  dafür,  aber  kraft  dessen, 
daß  es  ihm  von  Jesus  Christus  verliehen  ist,  als  Amt  des 
Hilfsdienstes  an  dessen  eigenem  Dienst  —  seinen  Ruhm, 
seine  Ehre  und  Rechtfertigung  Gott  gegenüber.  Sein  Amt 
ist  der  Grund  dessen,  was  seinen  Hörern  und  Lesern  als 
kühn,  als  neu  und  sonderbar  an  ihm  auffallen  mag.  Was 
er  auch  wagen  mag  in  seinem  Reden  und  Schreiben  (v. 
18 — 19)  —  er  wird  bestimmt  nichts  Anderes  sagen  als  eben 
das,  was  Christus  durch  dieses  sein  Amt  wirklich  gemacht 
hat.  Er  wird  Christus  bezeugen  als  den  Priester,  der  im 
Begriff  steht,  die  verlorene  Welt  der  Heiden  als  wohl¬ 
gefälliges  Opfer  Gott  darzubringen.  Paulus  steht  nun  ein¬ 
mal  selber  als  Erster  überrascht  und  betroffen  von  der 
Tatsache  jenes  Wunderwerkes,  daß  heute  die  Heiden  zum 
Gehorsam  gerufen  werden  durch  Gottes  Worte  und  Taten, 
durch  die  Kraft  der  von  Gott  gegebenen  Zeichen  und 
Wunder,  durch  die  Kraft  des  Geistes.  Paulus  steht  vor  der 
Tatsache,  daß  er  „das  Evangelium  von  Christus  von  Jeru¬ 
salem  im  Bogen  bis  nach  Illyrien  fertig  gemacht“  hat. 
Die  beiden  Ortsbezeichnungen  in  diesem  Ausdruck  sind 


217 


nicht  wörtlich,  sondern  als  Bezeichnung  der  Endpunkte 
des  Gebietes  zu  verstehen,  das  Paulus  auf  seinem  bis¬ 
herigen  Weg  durchlaufen  hat.  Und  „fertig  machen“  hat 
mit  dem  zweifelhaften  modernen  Begriff  „Durchevangeli- 
sieren“  natürlich  nichts  zu  tun,  sondern  will  sagen:  daß 
diese  ganzen  Gebiete  mit  den  darin  wohnenden  Völkern 
von  seiner  Verkündigung  erreicht  wurden,  daß  das  Licht 
des  Evangeliums  in  diesen  ganzen  Gebieten  an  genügend 
vielen  Orten  angezündet  worden  ist,  um  die  daselbst  vor¬ 
her  herrschende  Finsternis  zu  brechen,  um  —  ohne  Rück¬ 
sicht  auf  die  größere  oder  kleinere  Zahl  der  da  und  dort 
zum  Glauben  Gekommenen  —  die  Feststellung  zu  er¬ 
lauben,  daß  dieser  ganze  Bereich,  die  ganze  diesen  Be¬ 
reich  bevölkernde  Menschheit  den  Namen  Jesu  Christi 
vernommen  hat.  Und  war  (nach  v.  20 — 21)  der  Grund¬ 
satz,  dem  Paulus  auf  diesem  ganzen  Weg  treu  geblieben 
ist,  der:  auf  alle  Anknüpfung  an  frühere  von  Anderen 
geleistete  Missionsarbeit,  auf  alles  „Bauen  auf  fremdem 
Grund“  zu  verzichten  und  sich  an  die  und  nur  an  die 
Orte  und  Gegenden  zu  halten,  wo  Christus  noch  nicht 
bekannt  gewesen  war  und  also  Jes.  52,  15  in  seiner 
wörtlichen  Wahrheit  kennen  zu  lernen:  „Die  von  ihm  keine 
Kunde  bekommen  hatten,  die  werden  sehen,  und  die  nicht 
gehört  haben,  die  werden  verstehen“.  Wir  müssen  hier 
daran  denken,  in  welchen  Tönen  eines  völlig  Überrasch¬ 
ten  und  Verwunderten  Paulus  schon  früher,  besonders  in 
Kap.  9 — 11,  von  diesem  Ausbruch  des  Evangeliums  aus 
der  Enge  Israels  in  die  Weite  der  Heidenwelt,  aus  seinem 
natürlichen  Wurzelboden  hinein  in  jene  gänzliche  Fremde 
geredet  hat.  Es  ist  so  gar  nicht  selbstverständlich,  sondern 
es  ist  wirklich  Gottes  Wunderwerk,  es  ist  anders  als  von 
der  Auferstehung  Jesu  Christi  her  tatsächlich  nidit  zu  er¬ 
klären,  was  da  geschehen  ist.  Von  dieser  Geschichte  kommt 
der  Paulus  her,  der  den  Römerbrief  geschrieben  hat.  Nicht 
er  hat  diese  Geschichte  gemacht;  aber  in  dieser  Geschichte 


218 


ist  er  wirksam  gewesen;  als  ihr  Zeuge  redet  und  schreibt 
er  und  darum  so  kühn,  darum  so  neu  und  sonderbar. 
Er  redet  und  schreibt  als  der  Mann,  dem  darin,  daß  er 
jenen  Dienst  tun  durfte,  das  Erbarmen  Gottes  zu  einer 
immer  unbegreiflicheren,  aber  auch  immer  handgreifliche¬ 
ren  Tatsache  geworden  ist.  Wer  das  nicht  so  sieht,  dem  mag 
es  erlaubt  und  möglich  sein,  weniger  kühn  zu  reden  und 
zu  schreiben,  seinen  Hörern  und  Lesern  weniger  Fragen 
und  Rätsel  aufzugeben.  Wen  das  Erbarmen  Gottes,  wen 
die  Versammlung  der  Heiden  zu  Israel  weniger  verwun¬ 
dert,  der  mag  sich  dann  in  seiner  Darlegung  des  Evan¬ 
geliums  auch  weniger  verwunderlich  äußern  als  Paulus 
es  getan  hat  —  der  mag  sich  behüten  vor  der  großen 
Wunderlichkeit,  in  der  sich  Paulus  über  diese  Sache  ge¬ 
äußert  hat.  Aber  wer  kann  sich  hier  eigentlich  behüten 
wollen?  Wem  müßte  diese  Sache  im  Grunde  nicht  ebenso 
verwunderlich  sein,  wie  sie  es  dem  Paulus  gewesen  ist? 
Wer  kann  im  Grunde  eine  andere  Rede  von  dieser  Sache 
zu  hören  begehren,  als  eben  die  wunderliche  Paulusrede? 
Ist  nicht  gerade  das  Außerordentliche  des  Römerbriefes 
das,  was  in  dieser  Sache  als  das  allein  Ordentliche  be¬ 
zeichnet  werden  muß?  War  es  also  nicht  notwendig,  daß 
es  gerade  die  Gestalt  des  Paulus  war,  die  sich  der  Chri¬ 
stenheit  von  Anfang  an,  so  befremdend  sie  ihr  immer 
wieder  war,  als  die  Gestalt  des  Apostels  eingeprägt  hat? 
Und  kommen  wir  darum  herum,  uns  gerade  mit  ihm  als 
mit  dem  Apostel  des  Evangeliums  auseinanderzusetzen 
oder  vielmehr  zusammen  zu  tun  —  nicht  trotz,  sondern 
gerade  wegen  der  „Kühnheit“  seiner  Rede?  Es  könnte 
ja  doch  sein,  daß  man  sich  da  vor  dem  Evangelium  selbst 
behütet,  wo  man  sich  vor  der  paulinischen  Kühnheit  durch¬ 
aus  und  endgültig  behüten  wollte! 

Der  Abschnitt  Vers  22 — 33  redet  von  den  Zukunfts¬ 
plänen  des  Paulus.  Er  wollte  (v.  22,  vgl.  Kap.  1,  13) 
die  Gemeinde  in  Rom  schon  lange  besucht  haben.  Vieles 


219 


—  und  offenbar  auch  sein  besonderer  Auftrag  (im  Sinne 
von  Vers  20 — 21)  —  hat  ihn  bis  jetzt  davon  zurückgehal¬ 
ten.  Nachdem  er  jetzt  jenen  Bogen  (v.  19)  vollendet  hat, 
möchte  er  nach  Spanien  reisen,  unterwegs  auch  die  römi¬ 
sche  Gemeinde  besuchen,  sich,  wie  in  Kap.  1,  11  f.  bereits 
beschrieben,  mit  ihr  zusammen  stärken  und  schließlich  aus 
ihrer  Mitte  ein  Geleite  für  jenes  weitere  Unternehmen 
empfangen  dürfen.  Aber  noch  steht  ihm  (v.  25  f.)  eine 
Reise  in  gerade  umgekehrter  Richtung  bevor:  nach 
Jerusalem,  um  jene  von  den  Gemeinden  in  Mazedonien 
und  Griechenland  beschlossene  und  erhobene  Kollekte  für 
die  dortigen  Armen  persönlich  abzuliefern,  von  der  im 
2.  Korintherbrief  so  ausführlich  die  Rede  ist.  Man  beachte 
die  in  Vers  27  gegebene  Motivierung  dieser  Kollekte:  sie 
ist  die  leiblich-materielle  Anzeige  der  Dankbarkeit,  die 
den  Heiden  dem  Volk  Israel  gegenüber  selbstverständlich 
ist.  Indem  sie  jenen  leiblich  Armen  beistehen,  bezahlen 
sie  nicht,  aber  bezeugen  sie  die  Schuld,  in  der  sie,  die 
geistlich  Armen,  jenen  als  dem  Volk  des  Messias,  der 
der  Welt  Heiland  ist,  gegenüberstehen.  Es  handelt  sich 
also  nicht  um  eine  Wohltätigkeitsaktion  wie  irgend  eine 
andere,  sondern  um  die  zur  Begründung  der  einen  Kirche 
aus  Juden  und  Heiden  notwendige  feierliche  Besiegelung 
der  ganzen  Arbeit  des  Paulus  und  eben  darum  um  einen 
Akt,  den  er  selber  persönlich  vollziehen  muß.  Nachdem  er 
vollzogen  ist,  will  er  jene  Reise  nach  Spanien,  die  ihn 
auch  nach  Rom  führen  soll,  antreten  (v.  28 — 29).  Er 
mahnt  die  römische  Gemeinde,  zunächst  seine  Reise  nach 
Jerusalem  mit  ihrem  Gebet  zu  begleiten.  Er  wird  es  nötig 
haben,  denn  er  wird  ja  dort  erst  recht  auf  jene  „Ungehor¬ 
samen“  stoßen,  auf  die  Hochburg  der  ungläubigen  Syna¬ 
goge.  Es  scheint  aber  auch  seine  gute  Aufnahme  bei  den 
„Heiligen“,  d.  h.  bei  den  Aposteln  und  den  anderen  Chri¬ 
sten  der  Urgemeinde  von  Jerusalem  nicht  so  gesichert  zu 
sein,  daß  er  jener  Fürbitte  nicht  bedürfte.  Wie  Paulus  nach 


220 


dem  2.  Korintherbrief  bei  den  Heidenchristen  werben 
mußte  um  den  freudigen  Vollzug  jenes  Aktes  der  Dank¬ 
barkeit,  so  bei  den  Judenchristen  um  ihr  Wohlgefallen 
an  seinem  Dienst  als  Heidenapostel  und  auch  an  diesem 
besonderen  Akte.  Es  verstand  sich  nicht  von  selbst,  daß 
sie  das  im  Werk  des  Paulus  offenbar  gewordene  Ver¬ 
hältnis  zwischen  Israel  und  der  Kirche  ihrerseits  anerkann¬ 
ten  und  also  auch  dessen  Besiegelung  durch  jene  Kollekte 
so  aufnahmen,  wie  sie  gemeint  war. 

In  Kap.  16,  1 — 2  wird  eine  christliche  Frau,  Phöbe, 
der  römischen  Gemeinde  zu  gutwilliger  Aufnahme  emp¬ 
fohlen.  Es  ist  anzunehmen,  daß  sie  den  Brief  von  Korinth 
nach  Rom  gebracht  hat.  In  der  Gemeinde  von  Kenchreä, 
dem  östlichen  Hafenvorort  von  Korinth,  hatte  sie  bis  dahin 
ein  Amt  versehen,  über  dessen  Art  und  Umfang  wir  frei¬ 
lich  nichts  Näheres  erfahren.  Doch  wird  von  ihr  gesagt, 
daß  sie  Vielen  und  so  auch  dem  Paulus  selbst  ein  Bei¬ 
stand  gewesen  sei  und  es  wird  den  Christen  in  Rom 
nahegelegt,  ihr  das  zu  vergelten  durch  Beistand,  da,  wo 
sie  selber  dessen  bedürfen  sollte. 

Es  folgen  nun  in  Kap.  16,  3 — 15  die  persönlichen  Grüße 
des  Paulus  an  eine  ganze  Reihe  von  ihm  bekannten  ein¬ 
zelnen  Gliedern  der  römischen  Gemeinde.  Man  hat  sich 
schon  gefragt,  wie  es  möglich  war,  daß  Paulus  so  viele 
Personen  in  dieser  fernen  Gemeinde  kannte  und  hat  auf 
diese  Frage  und  im  Blick  auf  gewisse  Einzelheiten  die 
am  Anfang  unserer  Vorlesungen  erwähnte  Vermutung 
begründet,  wir  könnten  es  in  dieser  Grußliste  mit  einem 
Brief  oder  Briefstück  zu  tun  haben,  das  ursprünglich  an 
eine  andere,  Paulus  besser  bekannte  Gemeinde  (man 
denkt  an  Ephesus)  gerichtet  gewesen  sei.  Zieht  man  die 
Tatsache  in  Betracht,  daß  damals  in  Rom  tatsächlich 
Menschen  aus  dem  ganzen  Mittelmeergebiet  in  großer 
Zahl  zuzureisen  und  sich  niederzulassen  pflegten,  so  ist 
es  doch  nicht  ausgeschlossen,  daß  Paulus  es  in  der  dorti- 


221 


gen  Gemeinde  tatsächlich  mit  vielen  alten  Bekannten  aus 
dem  Osten  zu  tun  hatte.  Wie  dem  auch  sei:  es  ist  be¬ 
merkenswert,  daß  gerade  der  Römerbrief  als  der  sach¬ 
lichste  unter  allen  paulinischen  Briefen  mit  dieser  aus¬ 
führlichen  Grußliste  zugleich  auch  den  Stempel  des  per¬ 
sönlichsten  von  allen  erhalten  hat.  Die  meisten  der  hier 
erwähnten  Personen  sind  uns  sonst  unbekannt.  Wir  wis¬ 
sen  von  dem  in  Vers  3 — 4  genannten  Ehepaar  Prisca 
und  Aquila,  daß  sie  die  Wege  des  Paulus  mehr  als  ein¬ 
mal  gekreuzt  haben;  wiederum  ist  uns  nicht  bekannt, 
wo  und  wie  sie  sich  für  ihn  in  die  in  Vers  4  erwähnte 
Lebensgefahr  begeben  haben.  Man  beachte  den  Nachdruck, 
mit  dem  von  ihnen  gesagt  wird,  daß  mit  Paulus  selbst 
alle  heidenchristlichen  Gemeinden  ihnen  zu  besonderem 
Dank  verpflichtet  seien.  Es  könnte  ferner  der  in  Vers  13 
genannte  Rufus  identisch  sein  mit  dem  in  Mark.  15,  21 
unter  diesem  Namen  erwähnten  zweiten  Sohn  des  Simon 
von  Kyrene.  Bei  allen  übrigen  müssen  wir  uns  mit  dem 
Wenigen  und  Allgemeinen  begnügen,  das  hier  angedeutet 
wird.  Die  in  diesen  Versen  vorkommenden  Namen  sind 
auf  Inschriften  jener  Zeit  auch  sonst  nachweisbar  und 
zwar  bezeichnenderweise  fast  alle  als  Sklavennamen:  ein 
wichtiger  Hinweis  auf  die  soziale  Zusammensetzung  die¬ 
ser  und  (nach  1.  Kor.  1,  26  f.)  sicher  nicht  nur  dieser 
Gemeinde.  Aristobulus  (v.  10)  und  Narcissus  (v.  11), 
deren  „Leute“  gegrüßt  werden,  sind  offenbar  heidnische 
Herren,  bei  denen  diese  Christen  als  Sklaven  im  Dienst 
standen.  Daß  verhältnismäßig  nicht  wenige  Frauennamen 
Vorkommen,  ist  ebenso  interessant  wie  daß  sie  immerhin 
nicht  die  charakteristische  Mehrzahl  bilden.  Eine  von 
ihnen,  die  Mutter  des  Rufus,  (v.  13)  hat  Paulus  „seine 
und  meine  Mutter“  genannt.  Indem  Andronikus  und 
Junias  (v.  7)  und  Herodion  (v.  11)  ausdrücklich  als 
Stammesgenossen  des  Paulus,  also  als  geborene  Juden 
bezeichnet  werden,  ist  anzunehmen,  daß  es  sich  bei  allen 


222 


übrigen  um  geborene  Heiden  handelt.  Man  notiere:  für 
alle  diese  Leute  und  Leutlein  ist  der  Römerbrief  damals 
bei  aller  „Kühnheit“  offenbar  nicht  „zu  schwer“  gewesen! 
Das  sachlich  Wichtigste  ist  doch  wohl  die  Tatsache,  daß 
bei  so  vielen  der  Gegrüßten  (wie  schon  bei  Phöbe,  Prisca 
und  Aquila)  und  auffallenderweise  gerade  bei  einigen 
Frauen  dies  hervorgehoben  wird,  daß  sie  „für  euch“  oder 
„im  Herrn“  sich  gemüht,  gearbeitet  haben  (v.  6  und  12), 
daß  Urbanus  in  Vers  9  ein  Mitarbeiter  des  Paulus  und 
Apelles  in  Vers  10  ein  „in  Christus  Bewährter“  genannt 
werden  kann.  Man  kann  diese  Grußliste  nicht  lesen,  ohne 
den  bestimmten  Eindruck  zu  bekommen,  daß  alle  diese 
„Geliebten“,  „Erwählten“  und  „Heiligen“  nicht  etwa  nur 
passiv,  empfangend  und  genießend,  erbaut,  belehrt,  ge¬ 
tröstet  und  ermahnt,  sondern  in  eigener  Verantwortlich¬ 
keit,  Anstrengung  und  Opferbereitschaft  am  Evangelium 
teilnahmen.  Das  Evangelium  ist  ihre  Sache  wie  es  die  des 
Apostels  ist  und  daraufhin,  als  aktive  Mitträger  dieser 
Sache  werden  sie  von  ihm  gegrüßt  und  angeredet.  Das 
Persönliche  geht  nicht  unter,  sondern  es  kommt  zu  Ehren 
in  dem  Gegenüber  von  Apostel  und  Gemeinde:  aber  eben 
damit,  daß  es  hier  überall  „im  Herrn“,  „in  Christus“  seine 
Wirklichkeit  hat  und  daß  damit  wieder  nicht  bloß  ein 
Dabeisein,  sondern  ein  allgemeines  und  besonderes  Mit¬ 
tun  bezeichnet  ist.  Wer  etwa  der  Meinung  sein  sollte,  daß 
der  Römerbrief  zu  viel  Lehre  und  zu  wenig  Leben,  zu 
viel  Worte  und  zu  wenig  Taten  biete,  der  lese  diese 
Grußliste  und  mache  sidi  klar:  hier,  bei  den  Lesern  des 
Römerbriefes  entschied  sich  damals  und  entscheidet  sich 
bis  heute  die  Frage  nach  dem  der  Lehre  entsprechenden 
Leben  und  nach  den  den  Worten  entsprechenden  Taten. 
Wer  diese  Frage  stellen  will,  der  soll  sie  also  zuerst  und 
vor  allem  an  sich  selbst  richten.  So  positiv,  wie  es  in  dieser 
Grußliste  sichtbar  wird,  hat  sie  sich  damals  entschieden. 
Leben  will  gelebt,  Taten  wollen  getan  sein.  Wo  das  so 


223 


geschieht,  wie  es  hier  offenbar  geschehen  ist,  da  kann  und 
muß  dann  auch  das  Andere  gelten:  Lehre  will  gelehrt 
und  gelernt  sein.  Es  dürfte  aber  auch  die  Umkehrung 
gelten:  eben  da,  wo  Lehre  gelehrt  und  gelernt  wird,  wie 
es  hier  geschehen  ist,  da  kann  und  wird  dann  das  Leben, 
das  als  solches  nicht  gut  Inhalt  eines  Briefes  sein  kann, 
wirklich  gelebt  werden. 

In  Vers  16  hat  Paulus  offenbar  bereits  angesetzt  zu 
den  Grüßen,  die  er  aus  seiner  Umgebung  seinerseits  zu 
bestellen  hat:  „Es  grüßen  euch  alle  Gemeinden  des  Chri¬ 
stus“.  Wo  das  Evangelium  evangelisch,  apostolisch  ver¬ 
kündigt  wird,  da  grüßt  die  ganze  Kirche  aller  Zeiten  und 
aller  Orte  je  die  Kirche,  die  es  dann  im  besonderen  hören 
darf. 

Aber  bevor  Paulus  mit  diesem  Grüßen  fortfährt,  unter¬ 
bricht  er  sich  (v.  17 — 20)  mit  einer  kurzen,  leidenschaft¬ 
lichen  Warnung  vor  einer  die  Gemeinde  von  Rom  bedro¬ 
henden  Verführung,  zu  deren  Bezeichnung  ihm  am 
Schluß  (v.  20)  auch  der  Name  des  Satan  nicht  zu  hart 
ist.  Wir  kennen  den  näheren  Anlaß  dieser  Warnung  und 
die  besondere  Art  der  hier  erwähnten  Versuchung  nicht. 
Deutlich  ist  nur  dies:  es  handelt  sich  um  eine  Ab¬ 
weichung  eben  von  der  „Lehre,  die  ihr  gelernt  habt“,  und 
um  die  Entzweiung  und  das  Ärgernis,  die  durch  solche 
Abweichung  angerichtet  werden  könnten,  vielleicht  tat¬ 
sächlich  schon  angerichtet  sind  —  gefährlich  darum,  weil 
ihre  Urheber  ihre  Sache  mit  sdiönen  Worten  und  Segens¬ 
sprüchen  vorzutragen  fähig  sind.  Wer  würde  da  nicht 
hören,  wenn  etwas  in  seiner  Weise  „schön“  und  „geseg¬ 
net“  ist?  Die  Arglosen  sind  dann  immer  bereit,  „schön“ 
mit  „wahr“  und  „gesegnet“  mit  „christlich“  zu  verwech¬ 
seln.  Wenn  Paulus  in  Vers  18  von  denen,  die  die  Ge¬ 
meinde  in  dieser  andächtigen  Weise  bedrohen,  sagt,  daß 
sie  nicht  unserem  Herrn  Jesus  Christus,  sondern  ihrem 
Bauche  dienen,  so  muß  man  das  grobe  Wort  sicher  fein 


224 


und  also  dahin  verstehen,  daß  zu  dem,  was  hier  „Bauch“ 
genannt  wird,  auch  das  Herz  und  der  Kopf  gehört,  daß 
der  „Bauch“  also  den  sich  selbst  lebenden  und  ausleben¬ 
den  Menschen  bezeichnet.  Daß  ihm,  dem  Menschen  und 
nicht  Christus  gedient  wird,  das  war  und  ist  —  vom 
Römerbrief  her  gesehen  —  das  falsche  aller  falschen, 
d.  h.  nur  angeblich  christlichen  Lehre  zu  allen  Zeiten. 
Daß  die  Lehre  des  Römerbriefs  Christus  dient,  haben 
wir  gesehen.  Alle  Abweichung  von  seiner  Lehre  wird  in 
der  Tat  darin  bestehen,  daß  sie  dem  Menschen  dienen 
will.  Das  also  ist  es,  was  nicht  geduldet,  nicht  trotz  der 
Liebe,  sondern  gerade  wegen  der  Liebe  unter  keinen  Um¬ 
ständen  geduldet  werden  kann.  Paulus  zweifelt  nach  Vers 
19  nicht  daran,  daß  die  römischen  Christen  ihrem  bisher 
bewiesenen  Gehorsam  treu  bleiben  werden.  Er  ist  nicht 
besorgt  um  sie,  er  freut  sich  im  Gedanken  an  sie.  Er 
wünscht  ihnen  aber  die  weise  Offenheit,  die  ihnen  zur  Er¬ 
haltung  im  Gehorsam  —  und  die  einfältige  Verschlossen¬ 
heit,  die  ihnen  zur  Abweisung  alles  möglichen  Ungehor¬ 
sams  nötig  ist.  Man  beachte,  daß  es  hier  offenbar  nicht  um 
Diskussionen  und  Auseinandersetzungen,  sondern  nur  um 
Entscheidungen  und  zwar  um  (v.  20)  „in  Bälde“  zu  voll¬ 
ziehende  Entscheidungen  gehen  kann  —  Entscheidungen, 
die  die  Leser  vollstrecken  müssen  und  in  denen  sie  doch 
gar  nicht  zu  wählen  haben  werden:  es  ist  der  Gott  des 
Friedens,  es  ist  der  Herr  der  Kirche,  der  sie  vollstrecken 
wird  und  ihr  Vollstrecken  wird  nur  darin  bestehen,  daß 
sie  sie  als  von  ihm  vollzogen  zu  anerkennen  haben.  Wo 
das  Ja  des  Römerbriefs  einmal  gesprochen  ist,  da  kann 
es  hinsichtlich  des  Nein  zu  seinem  Gegenteil  offenbar  kein 
langes  Fragen  geben. 

In  Vers  21—23  kommen  die  Grüße  aus  der  Umgebung 
des  Paulus,  zu  denen  er  in  Vers  16  ansetzen  wollte,  zu 
Wort:  Timotheus,  der  bekannte  Mitarbeiter  des  Paulus, 
drei  auch  sonst  bekannte  judenchristliche  Freunde,  Ter- 


225 


tius,  der  den  Brief  geschrieben,  Gajus,  bei  dem  Paulus 
wohnt  und  in  dessen  Haus  sich  die  korinthische  Gemeinde 
versammelt,  Erastus,  der  Schatzmeister  der  Stadt,  ein  offen¬ 
bar  angesehenes  Glied  dieser  Gemeinde  und  ein  sonst  un¬ 
bekannter  Bruder  Quartus. 

Der  in  Vers  20  und  24  wiederholte  Gruß  „Die  Gnade 
unseres  Herrn  Jesus  Christus  sei  mit  euch  Allen!“  faßt 
hier  wie  in  den  anderen  Briefen  des  Paulus  das  Ganze  in 
sich,  was  er  seinen  Gemeinden,  was  er  als  Apostel  über¬ 
haupt  zu  sagen  hat.  Die  Gnade  unseres  Herrn  Jesus 
Christus  ist  das  Evangelium,  das  Paulus  verkündigt  hat 
und  neben  dem  es  nach  Gal.  1,  8  ein  anderes  nicht  gibt. 
Daß  die  Gnade  unseres  Herrn  Jesus  Christus  mit  ihnen 
ist,  das  ist  es,  was  die  Christen  zu  Christen  macht. 

Hier  endigt  der  Römerbrief  des  Paulus.  Denn  was  in 
Vers  25 — 27  noch  zu  lesen  steht,  ist  nach  äußeren  und 
inneren  Gründen  als  ein  späterer  Zusatz  von  fremder 
Hand  anzusehen,  dessen  Inhalt  zwar  an  sich  beachtlich, 
bedeutsam  und  lehrreich  ist,  auf  dessen  Erläuterung  wir 
aber  schon  darum  verzichten  dürfen,  damit  das  letzte 
Wort,  das  uns  hier  in  den  Ohren  bleibt,  das  Wort  des 
Paulus  selbst  sei:  das  sehr  einfache  und  sehr  gute  Wort 
von  der  Gnade  unseres  Herrn  Jesus  Christus,  von  der  er 
seinen  Lesern  wünscht,  daß  sie  mit  ihnen  allen  sein  möge! 


KARL  BARTH 


Karl  Barth  zum  Kirchenkampf 

Beteiligung  •  Mahnung  •  Zuspruch 

(Theologische  Existenz  heute,  Nr.  49) 

96  Seiten 

Dieses  Heft  vereinigt  eine  Fülle  von  Äußerungen  Barths.  Besonders  ein¬ 
dringlich  sind  die  Briefe  an  seine  ehemaligen  Schüler  in  der  Bekennenden 
Kirche  aus  dem  Jahre  1937,  sein  Gutachten  zur  Frage  des  „Treueides“  der 
Pfarrer,  nicht  zuletzt  der  Brief  vom  Juli  1945  an  die  deutschen  Theologen 
in  der  Kriegsgefangenschaft.  Das  Heft  ist  keineswegs  ein  Erinnerungsstück, 
sondern  auch  für  die  Kirche  heute  ein  Aufruf  zur  Sache,  zu  der  Sache,  mit 
der  sie  sich  vor  allem  anderen  und  hauptsächlich  zu  befassen  hat,  nämlich 
mit  der  reinen  Verkündigung  des  Wortes  Gottes.  Das  Neueste 


Evangelium  und  Gesetz 

(Theologische  Existenz  heute,  Nr.  50) 

32  Seiten 

Außerhalb  jeglichen  Lehrgezänks  oder  politischen  Streits  steht  diese  mitten 
im  heißesten  Kampf  geschriebene  Unterweisung.  Sic  ist  ein  leuchtendes 
Kleinod.  Barth  zeigt  sich  hier  als  ein  Erklärer  und  Künder  göttlicher  Gnade. 
Ein  regsamer  Geist,  eine  eigentümliche,  elastische  Sprache  zeichnet  sein  lite¬ 
rarisches  Werk  aus.  Diese  kleine  Schrift  ist  nicht  nur  eine  charakteristische 
Kostprobe  daraus,  sie  zeigt  auch  Barths  zentrale  Position  als  christlicher 
Lehrer  der  Gegenwart.  Neue  Zürcher  Zeitung 


Die  Ordnung  der  Gemeinde 

Zur  dogmatischen  Grundlegung  des  Kirchenrechts 
88  Seiten 

Dieser  Sonderdruck  aus  der  Kirchlichen  Dogmatik,  Band  IV/2,  gehört  zu 
jenen  Abschnitten  aus  Barths  Dogmatik,  die  wirklich  Eingang  in  die  Ge¬ 
meinde  finden  müssen.  Von  dem  Axiom  her:  „Jesus  Christus,  Haupt  der 
Gemeinde,  von  dem  das  Recht  kommt“,  entfaltet  Karl  Barth  das  Kirchen- 
rccht  1.  als  Dienstrecht  der  Gemeinde,  2.  versteht  Barth  das  Kirchenrecht 
als  liturgisches  Recht,  3.  als  lebendiges  und  4.  als  vorbildliches  Recht.  Wol¬ 
len  wir  etwas  zur  Empfehlung  dieses  Heftes  sagen,  so  müßten  wir  cs  ab- 
drucken,  d.  h.,  wir  empfehlen  cs  dringend  zum  gründlichen  Selbststudium. 

Reformierte  Kirchenzeitung 


CHR.  KAISER  VERLAG  MÜNCHEN